Kapitel 45
Wolfgangs Geschichte
„Damals war ich ein eher bummelnder Student in München. Partymachen, ein paar Joints hin und wieder, Frauen - das alles war wichtiger als die Uni. Eines Tages grassierte eine Magen-Darm-Grippe in unserer Familie. Meine Eltern lagen schon flach, da kam ein Anruf von Henriks Gymnasium - er ist mein jüngerer Bruder, ein Nachzügler, er war damals etwa zwölf. Die Sekretärin informierte mich, dass es Henrik schlecht ging, dass ihn bitte jemand abholen sollte. Unwillig machte ich mich auf den Weg. Im Schulhaus fand ich ihn auf der Toilette, eine Frau wartete vor der Tür auf ihn, war sichtlich besorgt. Ihre Rückenansicht war ein Genuss für meine Kenneraugen, die Frontpartie noch hinreißender, ihr Lächeln warf mich um. Ich hatte mich schockverliebt in das perfekte weibliche Wesen, das da auf dem Flur auf meinen kotzenden Bruder wartete.
Es stellte sich heraus, dass sie Henriks Mathelehrerin war und gerade eine Freistunde hatte. Sie schien auch interessiert zu sein, gab mir bereitwillig ihre Telefonnummer. Sophia - ihr Name war die Musik, mit der ich einschlief und wieder aufwachte. Schon zwei Tage später hatten wir das erste Date. Ich schwebte auf Wolke sieben, nahm mir vor, mich zu ändern, fleißiger zu studieren, einen tollen Abschluss machen. Sie war zwar vier Jahre älter als ich, aber es hätten auch viel mehr sein können.
Sie war meine absolute Traumfrau. Wunderschön, klug, witzig, immer gut drauf. Eine Frau, wie für mich gemacht, eine zum Pferdestehlen und für Disco-Besuche. Sie liebte das Meer wie ich, meine Pläne entführten sie schon an einen Sandstrand, an dem ich sie um ihre Hand bitten wollte.
Ich riss mich gewaltig zusammen, sie nicht zu sehr zu bedrängen. Doch bald ergriff sie die Initiative, wollte Sex mit mir. Gummis erachteten wir als überflüssig, sie nahm die Pille, HIV war damals noch kein Thema."
Ben verzog das Gesicht. Vom Sex seiner Mutter mit Wolfgang wollte er jetzt nicht unbedingt etwas hören. Diese Bilder würde er nur schwerlich wieder aus seinem Kopf bekommen. Der Typ, der wohl sein Vater war, grinste ihn an. „Hey! Nicht so prüde! Ihr beiden seid auch nicht gerade Sexmuffel!" Ben kratzte sich etwas verunsichert am Kopf. War das jetzt peinlich? Was hatten die Mitbewohner so alles mitbekommen?
Lächelnd, befreit und mutiger geworden, berichtete Wolfgang weiter:
„Drei Monate später eröffnete sie mir, dass sie schwanger war. Mir zog es etwas die Füße weg, damit hatte ich nun gar nicht gerechnet. Ich wusste auch nicht gleich, wie ich damit umgehen sollte, was ich fühlen sollte. Doch schon am nächsten Tag war ich vollkommen sicher, dass ich das Kind haben und lieben wollte, weil die perfekte Frau es für mich bekommen würde: Sophia, die Liebe meines Lebens. Ich raste mit einem riesigen Rosenstrauß zu ihrer Wohnung, die sie sich mit Luise, ihrer Freundin teilte. Allen Leuten, die ich unterwegs traf, rief ich zu: ‚Ich werde Vater!'
Auf mein Läuten, erst zaghaft, schließlich stürmisch, öffnete niemand. Ich war etwas verwundert, denn es war der erste Sommerferientag und noch immer früh am Morgen. Da öffnete eine Nachbarin die Wohnungstür, sah mich seltsam an. Sie kannte mich, hatte uns bei einigen heftigen Knutschrunden im Treppenhaus erwischt. ‚Die Beiden sind gestern ausgezogen, mit Möbelwagen und so,' erklärte sie, lockerte ihren Morgenmantel etwas, schien nicht abgeneigt, Sophias Platz in meinem Bett einzunehmen."
Wolfgang machte eine Pause, musste sich etwas fassen. Die Erinnerung an diesen Tag schmerzte immer noch zu sehr. Er stand auf, holte von dem kleinen Barschrank in der Ecke des modern eingerichteten Zimmers eine Flasche Cognac und zwei Gläser, schenkte für beide einen kräftigen Schluck ein.
Ben verstand im Augenblick die Welt nicht mehr so recht. Die Geschichte, die er seiner Mutter über Jahre hinweg entlockt hatte, hatte ganz anders geklungen.
Die Männer nippten am Glas, Ben schüttelte sich, er war das harte Zeug nicht gewohnt.
Der Ältere blinzelte, seine Stimme klang etwas heiser, als er weitersprach.
„Ich raste zu ihrer Schule, das Sekretariat hatte zwar noch geöffnet, aber natürlich bekam ich keine Antwort auf meine tausend Fragen. Hilflos, ratlos, planlos lag ich in meinem Bett, vermisste sie, sehnte mich nach ihr, versuchte zu verstehen, was niemand verstehen konnte, machte mir Vorwürfe, weil ich ihr nicht glücklich um den Hals gefallen war, als sie mir von der Schwangerschaft berichtet hatte. Ich wurde panisch, dass sie das Kind abtreiben würde, aber das war damals noch ziemlich schwierig. Zwei Tage später bekam ich einen Brief, der mir Antworten gab."
Er stemmte sich ächzend hoch, kramte in einer Schublade der bunten Kommode herum, kam mit einem Kuvert zurück, das er Ben hinhielt. Der zog einen ziemlich ramponierten Bogen heraus, die Schrift war fast verblichen, manche Buchstaben waren wohl von Tränen getroffen und gelöscht worden. Doch der Text war lesbar.
Ben sah Wolfgang fragend an, um sich zu vergewissern, dass der wollte, dass er die Worte las. Der nickte nur, nahm noch einen Schluck aus seinem Glas.
Lieber Wolfi,
dieser Brief soll dir ein paar Erklärungen geben, die du so wahrscheinlich nicht erwartet hast. Aber ich möchte, dass du nicht grübelst oder dir die Schuld gibst, dass ich weg bin. Alles ist genau so gekommen, wie ich es mit Luise geplant habe. Nichts, was du gesagt oder getan hast, hätte je etwas daran ändern können.
Ich habe es darauf angelegt, dass du dich in mich verliebst - und vor allem, dass du mir ein Kind machst. Luise und ich sind ein Paar, wir wünschen uns ein Kind, und du warst perfekt für die Rolle des Samenspenders. Hübsch und intelligent, so sollte der Erzeuger unseres Babys sein, und du hast alle Kriterien erfüllt.
Außerdem hast du es leicht bei den Frauen, du wirst mich schnell vergessen, hast es wahrscheinlich auch schon. Das wäre das Beste für alle. Such mich nicht, du wirst mich nicht finden. Ich verlasse München. In meinem Job hat ein Kind auch noch eine zweite Funktion, nämlich die eines Alibis. Als Lesbe im Schuldienst bekäme ich sicher Probleme, aber eine Mutter mit Kind, vom Partner verlassen, die mit ihrer besten Freundin zusammenlebt, geht da schon eher.
Also dann! Genieße dein Leben wie vor mir, nichts für ungut und danke für deine großzügige Spende.
Sophia
Ben las die Worte ein zweites Mal, war danach aber genauso fassungslos wie nach dem ersten Mal.
Plötzlich fielen auch ganz viel Puzzleteilchen seines eigenen Lebens an den richtigen Platz. Tante Luise, die bei ihnen gewohnt hatte, bis er ungefähr sechs oder sieben war. Danach kam Tante Emilia, die etwa zwei Jahre blieb und schließlich Tante Gundula. Als sie verschwand, war er schon ein pubertierender Teenager. Es hatte ihn jedes Mal ziemlich getroffen, wenn die Frauen, die sich um ihn gekümmert hatten, die ihn sicher auch geliebt hatten, die auch er geliebt hatte, plötzlich aus seinem Leben verschwunden waren.
Das hatte ihn sicher auch dazu gebracht, Nadja relativ schnell zu heiraten, an dieser Ehe festzuhalten. Er hatte Beständigkeit in seinem Leben gesucht. Seine Mutter war durchaus nicht die der aufopfernde Typ von Frau gewesen, die ohne ein Kind nicht hätte leben können. Da war wohl eher Luise die treibende Kraft gewesen. Das mit ihm als Alibi für ihre sexuelle Orientierung nahm er ihr schon eher ab. Sie war oft nachts unterwegs, meistens samstags, kam etwas derangiert nach Hause. Als er älter wurde, hatte er gehofft, sie würde einen Mann finden, er würde vielleicht doch noch einen Vater bekommen.
Wolfgang ließ ihm Zeit, das alles ein wenig zu verarbeiten, zu verstehen, bevor er weitersprach.
„Ich soff mich beinahe ins Koma, als ich den Brief gelesen hatte. Dann kaufte ich mir eine Großpackung Kondome, fickte alle, die nicht bei drei auf den Bäumen waren. Meine Rache an den Weibern! Als der letzte Gummi verbraucht war, merkte ich, dass die Leere in meinem Herzen nicht weniger geworden war. Also musste ich etwas anderes suchen, das mich erfüllen konnte, und ich begann, das Studium mit großem Eifer und Fleiß abzuschließen. Meinen ersten Job bekam ich bei einem der Größten der Branche, und er brachte mich an die Spitze. Ich entwarf und baute rund um den Globus, verdiente massenhaft Kohle, hätte ganz lange Zeit jeden Cent hergegeben, um Sophia und mein Kind zurückzubekommen. Ich habe nicht nach euch gesucht, ihre Worte waren mehr als deutlich gewesen. Ich hatte wechselnde Freundinnen, aber nie wieder eine längere Beziehung.
Dann fiel mir in einer Fachzeitschrift ein großartiger Artikel eines Dr. Ben Knüppers aus Regensburg auf. Meine Nachforschungen ergaben, dass das mit dem Alter hinkommen würde. Ich kaufte dieses Haus hier, zog selbst ein. Ich wollte nicht aktiv werden, dachte, dass zu viel Zeit vergangen war. Das Schicksal sollte entscheiden.
Als ich die Anzeige von Sophias Tod las, heulte ich einen Tag und eine Nacht lang. Als Verwandte waren lediglich ein Dr. Ben Küppers mit Nadja angegeben. Da war ich mir sicher, dass du mein Sohn bist."
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