Kapitel 42
Frank irrte durch die Straßen.
Seine Hände!
Er musste seine Hände waschen!
Das Blut dieser Frau klebte daran!
Er musste sein Shirt wechseln!
Es war blutbespritzt!
Doch er hatte nichts mehr, kein Leben, kein Zuhause!
Er hatte getötet!
Warum hatte er das getan?
Irgendwie hatte er den Baggersee im Westen der Stadt erreicht. Ohne lang nachzudenken, stieg er vom Ufer ins Wasser, registrierte nicht die Kälte, wollte nur sauber, sauber, sauber werden. Er wusch und schrubbte an seinem Hemd herum, bis er langsam das Gefühl hatte, das Blut losgeworden zu sein.
Das Blut einer Fremden, die sein Leben endgültig hatte zerstören wollen.
Wieder stieg Wut in ihm auf. Sie hatte es verdient!
Er verließ das Wasser, legte sich ins Gras, das von der Sonne erwärmt war. Trotzdem fröstelte er, seine Kleidung war pitschnass. Er zog sich bis auf die Unterhose aus, drapierte die Klamotten um sich herum zum Trocknen und fiel in einen erschöpften Schlaf.
Sein knurrender Magen weckte ihn. Seine Sachen waren nur noch etwas feucht, aber seine Haut hatte die Sonne erwärmt. In der Hosentasche fand er ein paar Münzen. Er schleppte sich zum Kiosk, kaufte sich ein Sandwich, das er gierig verschlang. Danach sank er auf eine Bank, beobachtete die Jogger, die ihre Runden drehten, die Frauen, die ihre Hunde ausführten, die Kinder, die um die Wette liefen und dabei laut kreischten.
Er konzentrierte sich auf Einzelheiten, nur um nicht denken zu müssen.
Nicht denken zu müssen, dass er ein Mörder, ein Totschläger war.
Dass er heimatlos und absolut pleite war.
Er schleppte sich zu seinem Auto, das diesen Namen kaum noch verdiente, fuhr mit den letzten Tropfen Benzin zu einem Gebrauchtwagenhändler. Der bekam beinahe einen Lachanfall, als Frank fragte, wie viel er ihm für die Karre zahlen könnte. „Schrottwert sind ungefähr 200 Euro!" japste er.
„Okay!" Das war für Frank derzeit ein Vermögen. Er unterschrieb den Kaufvertrag und die Vollmacht zur Abmeldung. Dann fuhr er mit dem Bus in die Innenstadt, lief zum „Strohhalm", einer Initiative, die sich der Obdachlosen annahm. Tatsächlich bekam er einen Schlafplatz in einem Wohnheim zugeteilt, jetzt im Frühling waren die Betten nicht mehr so begehrt wie im Winter. Nur kurz dachte er an seine hämischen Worte, wenn Ingrid immer den „Donaustrudel", die Zeitschrift der Heimatlosen gekauft hatte, die an beinahe jedem Supermarkt von den Gestrandeten angeboten wurde. Sie hatte den Männern und Frauen oft auch ein paar Extramünzen zugesteckt. „Die kaufen sich doch nur Schnaps davon!" hatte er gemault, und ihr Blick auf ihn hatte ihn oft sehr wütend gemacht.
Jetzt war er einer von denen, auf die er immer voller Ekel hinabgesehen hatte.
Die nächsten Tage und Wochen vergingen, und er hatte das Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein, aus dem er nicht mehr erwachte. Tagsüber schlich er durch die Gassen der Stadt, bettelte hin und wieder Touristen an, die in Schwärmen durch die Stadt zogen. Er bekam überraschend viel an Almosen, denn er sah noch nicht so abgerissen aus wie viele seiner Leidensgenossen.
Penibel achtete er darauf, täglich zu duschen und seine Haare zu waschen, was ihm natürlich den Spott seiner Zimmergenossen einbrachte.
Aber einen Rest an Menschenwürde wollte er sich bewahren.
Den Alkohol mied er konsequent, wusste er doch, wohin er ihn gebracht hatte. Einer der Streetworker schien ein Auge auf ihn zu haben, verschaffte ihm immer wieder kleine Jobs unter der Hand, bei denen er sich ein paar Kröten verdienen konnte.
„Warum gehst du nicht aufs Amt?" fragte Erik ihn immer wieder. „Dir steht doch sicher Unterstützung zu!" Frank wich einer Antwort immer aus. Amt – Behörde – Polizei – Knast! Er war sich klar darüber, dass sie ihn suchten, dass sie ihn finden würden, wenn er irgendwo gesehen, erkannt wurde. Sein Fahndungsfoto hatte er schon ein paarmal in alten Zeitungen, die er aus Abfalleimern gezogen hatte, um sich die Zeit zu vertreiben, entdeckt.
Er wunderte sich, dass Erik ihn noch nicht erkannt und verpfiffen hatte.
Das erledigte dann allerdings Jo. Der hatte sich für eine Nacht bei Mary einquartiert, die nie abgeneigt war, einen von ihnen in ihr einfaches Zuhause mitzunehmen. Die Frau war zwar nur nach ein paar Schnäpsen zu ertragen, aber es gab immer eine Dusche, etwas zu essen und ein bequemes Bett. Als Jo seine Pflichten erledigt hatte, schaltete er den Fernseher ein, es lief gerade die Spätsendung von XY - Ungelöst.
Gefahndet wurde nach einem Mann, der eine Frau umgebracht hatte. Einem Mann, der eindeutig Frank war, der so oft auf der Pritsche unter ihm im Asyl geschlafen hatte. 5000 Euro Belohnung sollte es für einen Hinweis geben, der zur Festnahme des Mannes führte.
Bei dieser Summe vergaß Jo die Solidarität der Straße. Schnell und natürlich auch etwas angesäuselt wählte er die Nummer, die über den Bildschirm flimmerte.
„Ich kenn den! Den Mörder in Regensburg! Wie kriege ich das Geld?"
„Bleiben Sie bitte in der Leitung, ich verbinde Sie!" säuselte die weibliche Stimme am anderen Ende der Verbindung.
Kurz, ganz kurz überlegte Jo, ob er nicht doch auflegen sollte. Er war dabei, einen Kumpel ans Messer zu liefern, der eigentlich ganz in Ordnung zu sein schien. Er hatte immer wieder seine Brotzeit mit ihm geteilt, wenn er Arbeit und Kohle bekommen hatte. Hatte auch von seinen Reisen als Fernfahrer erzählt, die vielen Abenteuerberichte hatten Jo oft die viele Zeit vertrieben, die er in seinem Leben hatte und nicht mehr ausfüllen konnte.
Aber 5000 Euro!
Da meldete sich auch schon eine barsche männliche Stimme: „Kriminalrat Hansen! Sie haben Informationen für mich?"
„Wie kriege ich das Geld?" wiederholte Jo seine Frage und fühlte sich sehr schlau, er würde sich nicht reinlegen lassen.
„Geben Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse, dann klären wir das schon!" dröhnte aus dem Hörer.
„Hab keine Adresse, und mein Name kann Ihnen wurscht sein!"
In Hansens Kopf rotierte es: Obdachlos, Unterkünfte durchsuchen, Anrufer hinhalten, Verbindung herausfinden. So ganz unfähig war er ja nun auch wieder nicht.
„Bleiben Sie bitte in der Leitung, ich muss das kurz mit dem Staatsanwalt absprechen!" antwortete er dem wohl angetrunkenen Anrufer.
„Klar! Für 5000 Euro warte ich gern!" kam leicht lallend zurück.
Hansens Team reagierte blitzschnell. Antje wählte die Nummer der Kriminaltechnik, bat darum, den Anrufer ausfindig zu machen. Boris suchte eine Liste der Obdachlosenunterkünfte, schickte Streifen los.
Jo öffnete die Wohnungstür, sah sich zwei gefährlich aussehenden Beamten gegenüber, ließ sich widerstandlos festnehmen. Zutiefst erschrocken verriet er das Wohnheim, in dem er Frank immer wieder einmal getroffen hatte. Mary taumelte aus dem Schlafzimmer, begriff nicht recht, wie ihr geschah. Polizei in ihrer Wohnung! Was hatte Jo denn angestellt?
Im Caritas-Wohnheim zögerte der Angestellte der Nachtschicht etwas. Auch die Daten seiner "Gäste" waren streng geschützt. Doch nachdem er erfahren hatte, worum es ging, suchte er im Computer nach einem Frank Hofmeister. „Ich führe Sie zu seinem Raum, wenn Sie die Waffen stecken lassen und möglichst wenig Radau machen," schlug er vor.
Frank schien beinahe erleichtert zu sein, als das Licht anging und sein Blick auf die beiden Polizisten fiel. Sie hatten ihn gefunden, die Angst, die Ungewissheit, das Verstecken hatten ein Ende. Einer der Beiden klärte ihn über seine Rechte auf, das kannte er ja schon. Er nickte nur, zog sich an und folgte mit gesenktem Kopf.
Jo wurde wieder auf freien Fuß gesetzt, er hatte sich ja nichts zuschulden kommen lassen. „Und meine Kohle?" wollte er schon noch wissen.
„Wo können wir Sie finden, wenn das durch ist mit der Belohnung?" fragte Antje.
„Mal hier, mal da. Besser ich frage jede Woche selber nach," schlug er vor.
„Machen Sie das." Die Hauptkommissarin lächelte den Obdachlosen an, gab ihm eine Visitenkarte. „Sie können mich auch anrufen."
Ein Einsatzwagen brachte ihn zu Mary zurück. Voller Stolz erzählte er ihr von seinem Abenteuer. „Du hast einen Kumpel verpfiffen?" Mit ungläubigem Blick sah sie ihn an. „Für Kohle? Hau bloß ab, und lass dich nicht mehr in meiner Nähe blicken! Am besten auch nicht mehr bei deinen Kumpanen, denn wenn ich quatsche, bist du unten durch! Bei allen!"
Wie ein begossener Pudel schlich Jo aus der Wohnung. War wohl nicht so toll gewesen, was er getan hatte. Da erfüllt man einmal seine Bürgerpflicht, ist es auch wieder nicht recht! grollte er. Er sollte sich wohl wirklich nicht mehr bei den anderen sehen lassen. Wenn er das Geld hatte, würde er in eine andere Stadt umziehen müssen.
Umziehen! Bei diesem Gedanken musste er bitter auflachen. Nein, gelohnt hatte sich seine Aktion ganz und gar nicht. Anstatt zum Helden würde er zum Aussätzigen werden, das bisschen, das er noch als Heimat hatte, verlieren.
Frank gestand unterdessen alles, was ihm zur Last gelegt wurde, berichtete detailliert, wie es zu dem Totschlag gekommen war. Er verzichtete auf einen Anwalt, da käme eh nur wieder so ein verdammter Schnösel. Untersuchungshaft wurde angeordnet, und er ließ sich total übermüdet auf das Bett fallen, das um einiges bequemer war als die Pritschen im Wohnheim.
Ingrid und ihre Tochter konnten wieder ohne Angst in ihr Haus zurückkehren, ihr Leben würde wieder in normale Bahnen zurückkommen.
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