Kapitel 41

Die Vier taten alles Erdenkliche, um wieder in die Normalität zurückzufinden ...

Eine schwere Hürde eröffnete sich für Ben noch, als die Hauptkommissarin anrief und ihn darüber informierte, dass Nadjas Leiche von der Gerichtsmedizin freigegeben worden war und er sie beerdigen konnte.

Sein erster Impuls war, dieses Thema zu verdrängen, zu ignorieren. Doch er wusste natürlich, dass das keine Lösung war. Außerdem konnte Lea in ihm lesen wie in einem Buch. „Was ist los?" fragte sie nach einer Liebesrunde, bei der er etwas abwesend gewesen war. Nur kurz wich er ihrem Blick aus, wusste genau, dass es keinen Sinn hatte, ihr etwas zu verschweigen.

Also, besser wäre es, gleich offen zu sein - Augen zu und durch.

„Ich muss Nadja beerdigen!" stieß er hervor und wusste genau, dass sie verstehen würde, wie hart das für ihn sein würde. Sie würde ihn nicht für schwach halten, er müsste sich seiner Angst und auch seiner Tränen nicht schämen.

Deshalb war er auch nicht überrascht, dass sie ziemlich schnell eine Lösung parat hatte. „Wir bitten David, dass er sich um alles kümmert," beschloss sie, und Ben fiel ein Stein vom Herzen.

David, der Freund, den er einst so abgelehnt hatte, der verliebt gewesen war in sein Mädchen, seine Lea, der aber sehr schnell einen Platz in seinem Herzen bekommen hatte, den er aus seinem Leben und auch aus der Firma nicht mehr wegdenken konnte. Er würde ihnen auch diesen Liebesdienst erweisen.

So standen sie im „engsten Familienkreis", wie das so genannt wurde, auf dem Bergfriedhof. Die Kinder waren bei Leas Eltern.

Die Tochter war zwar sehr unruhig gewesen, als sie sie zurückgelassen hatten. Sie war immer etwas gestresst, wenn sie das Haus verließen. Doch langsam kam die Sicherheit zurück, dass der Bruder bei ihr blieb - und auch die Eltern.

Anwesend am Grab waren nur Ben und Lea, David und Barbara sowie Karin.

Da Ben eine stadtbekannte Persönlichkeit war, wären sicher eine Menge an Fremden und Schaulustigen zur Beisetzung gekommen, sie hätten geglotzt und getuschelt, wenn sie eine Anzeige mit dem Beisetzungstermin und -ort aufgegeben hätten. Sie hatten sich für eine förmliche Nachricht entschieden, die ein paar Tage später erscheinen sollte. Es würde sowieso nicht ohne Gerede abgehen.

Das begann allerdings sehr schnell und sehr heftig. Sie hatten den Fremden nicht bemerkt, der Handyaufnahmen von der Beerdigung gemacht hatte. Die Beisetzungstermine wurden noch immer in den Nachrichten aus den Pfarreien veröffentlicht, und wie es der Zufall wollte, hatte einer der schärfsten Konkurrenten von Knüppers-Bau diese gelesen. Er hatte einen Mitarbeiter beauftragt, sich die Sache anzusehen – dass die Ehefrau von Knüppers verstorben war, hatte sich in seinen Kreisen noch gar nicht herumgesprochen.

Stefan Baumer rieb sich die Hände, als er die Aufnahmen sah. Eine sehr einsame Beerdigung, am Arm von Ben eine schöne Frau, eine neue Frau. Seine für die Öffentlichkeitsarbeit zuständige Angestellte schickte ein paar kryptische Meldungen an die verschiedenen Social-Media-Plattformen, natürlich unter Nicknames und nicht rückverfolgbar.

Eine Quelle bei der Polizei – immer sehr nützlich – wurde angezapft, die Posts wurden direkter.

Nadja Knüppers ermordet, wer ist der Täter?"

„Nur fünf Menschen am Grab der Ehefrau von Ben Knüppers? Wer hat etwas zu verbergen?"

In dieser Art ging es weiter und weiter.

Die Presse sprang auf den Karren der Fast-Verleumdung auf, Handy und Festnetzanschluss von Ben meldeten sich beinahe rund um die Uhr, auf dem Social-Media-Kanal der Firma häuften sich die Hate-Posts.

Aufträge für die Firma wurden storniert, Bauherren sprangen ab. Die neue Grundschule, für die er so viel an Herzblut investiert hatte, wurde eingeweiht – er hatte nicht einmal eine Einladung zu den Feierlichkeiten erhalten.

Ben war nahe daran zu verzweifeln. Sein Lebenswerk war in Gefahr. Sollte Nadja es nach ihrem Tod noch geschafft haben, ihn zu vernichten? Sein Anker waren Lea und die Kinder, die bald ein Jahr werden würden.

Ein Jahr! Er konnte es kaum fassen, dass es erst ein Jahr her war, dass Mia und Benedikt geboren worden waren. Etwas weniger als ein Jahr, dass er Lea zurückbekommen hatte.

Als er wieder einmal vor dem Computer saß und blicklos auf den Bildschirm starrte, wollte Lea nicht länger schweigen. Ben, ihr Held, seit sie zu studieren angefangen hatte, der Vater ihrer zwei so wunderbaren Kinder, der wunderbare Mann und Liebhaber, litt.

Unter Ungerechtigkeiten, falschen Andeutungen und verborgenen Anschuldigungen. Das Netz war hemmungslos, gnadenlos, die Presse nicht viel besser.

„Soll Nadja gewinnen?" fragte sie die Liebe ihres Lebens leise.

Ben tauchte aus seinem Gedankenstrudel auf, der ihn beinahe mitgerissen hätte, sah das schöne Mädchen, die wunderschöne Frau, sah Lea.

Er wischte über seine Augen, wischte den Schmerz weg. „Nein!" antwortete er nur – und mehr an Worten brauchte es nicht. Er würde kämpfen, der Shitstorm würde sich legen. Er nahm sie in die Arme, die Leidenschaft schoss durch seine Adern und landete in einem ganz bestimmten Körperteil.

Er musste sie lieben, dort auf diesem Sofa, musste ihr gut tun, musste ihr erlauben, ihm gutzutun. Musste sich wieder verlieren in dieser sorglosen Erregung wie vor einigen Wochen.

Musste sich ganz und gar verlieren, um sich wieder zu finden.

Karin strahlte glücklich vor der Tür, an die sie gerade klopfen wollte. Zu lange hatte sie dieses lustvolle Stöhnen nicht mehr gehört.

Sie werden es schaffen! dachte sie – und sie behielt recht.

So schnell wie der Skandal mit allen Falschinformationen hochgekocht war, so schnell legte sich die Aufregung wieder. Andere Themen wurden interessanter, Ziele der Hater verlagerten sich, die Presse schwieg.

Ben und Lea nutzten die etwas ruhigere Zeit, um die Planungen für das eigene Haus abzuschließen. Den Bauantrag hatten sie praktisch eingabefertig gehabt, bevor ihre Welt zerbrochen war. Nun feilten sie noch an Feinheiten.

Auch David war nicht sonderlich böse über weniger Arbeit, hatte er doch dadurch mehr Zeit, sich der Beziehung mit Barbara zu widmen. Die bodenständige junge Frau war auch sehr schnell zu Leas Freundin geworden.

Als nächstes mussten sie überlegen, was mit dem Haus, das er für Nadja und sich gebaut hatte, geschehen sollte. Zu viert saßen sie an der Donau, die Kinder wanderten von Arm zu Arm, abwechselnd opferte sich einer oder eine, die Kleinen bei den Gehversuchen zu führen – was ganz schön aufs Kreuz ging. Aber dem Juchzen von Benedikt und Mia, wenn sie wieder ein paar Schritte geschafft hatten, konnte niemand widerstehen.

„Einziehen werdet ihr wohl dort nicht wollen, oder?" fragte Barbara rein rhetorisch, worauf Ben und Lea sie nur entsetzt ansahen. „Das ist schon klar! Aber es gibt da eine Organisation, die sich um Wohnraum für Geflüchtete kümmert, also vorrangig Familien. Wenn ihr das Geld aus Vermietung oder Verkauf nicht wirklich braucht, wäre das eine sinnvolle Nutzung, finde ich."

Ben war sofort begeistert. „Und die Räume von Nadjas Kanzlei könnten sie als Büros nutzen," schlug er vor. Er hatte sich damals in den Neubau eingekauft, hatte ihr eine Freude machen wollen, was ihm auch gelungen war.

Damals! Als die Katastrophe der Gegenwart nicht zu erahnen gewesen war.

David kam gerade von seiner kurzen, aber anstrengenden Tour zurück, an jeder Hand ein Kleinkind. Mit leicht verschobenen Lendenwirbeln ließ er sich auf die Decke fallen. Lea berichtete ihm aufgeregt vom Vorschlag seiner Freundin. Er nahm Barbara in die Arme und küsste sie. In den letzten Tagen hatte er schon erkannt, was für ein großes soziales Gewissen die junge Frau hatte, obwohl weder sie noch ihre Familie mit weltlichen Gütern gesegnet war.

Sie arbeitete ehrenamtlich für die Tafel, sammelte mit ihrem altersschwachen Kleinwagen Lebensmittel bei den Supermärkten ein, bastelte Modeschmuck, den sie der Sozialen Initiative der Stadt zur Verfügung stellte, die ihn auf Märkten verkaufte.

Lange konnte er nicht Zärtlichkeiten austauschen, die eifersüchtige Mia ließ sich auf seinem Schoß nieder, zog an seinen Haaren. „Aua, du Biest! Morgen schere ich mir ein Glatze!" rief er und befreite seine Strähnen aus dem festen Griff des Mädchens. Benedikt kickste vor Vergnügen, patschte begeistert in die Hände.

Erwachsene und Kinder genossen den Tag, der etwas wie Normalität in ihr aller Leben zurückgebracht hatte.


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