Kapitel 37
David saß seit einer Stunde im Verhörraum II. Zum Glück hatte er Dr. Neubert erreicht, der zwar etwas gestresst gewirkt hatte, aber kurz nach ihm auf dem Präsidium eingetroffen war. Sie unterhielten sich angeregt über das etwas wunderliche Vorgehen der Kripo, machten sich aber keine großen Sorgen.
Da David erfahren hatte, dass Svens Bruder Kai im Fall der Inobhutnahme der beiden Kinder für Lea und Ben tätig war, versuchte er, etwas über den Stand der Dinge aus seinem Anwalt herauszubekommen. Doch der durchschaute die scheinbar unverfänglichen Fragen schnell. Es war ihm schon klar, dass sein Mandant ein reges Interesse daran hatte, Neues zu erfahren – gerade, was Mia, das kleine Mädchen, betraf.
„Ich darf Ihnen leider keine Auskunft geben", bedauerte er ehrlich. „Mein Bruder würde mich vierteilen, und so eine Indiskretion kann ganz schnell ein ganzes Verfahren kippen – zum Negativen, wenn Sie verstehen."
Er stand auf, ging zum Fenster, tat so, als würde er angestrengt den Verkehr auf der Straße vor dem Polizeigebäude beobachten. „Habe ich Ihnen schon erzählt, dass mein Bruder ein äußerst engagierter und erfolgreicher Familienanwalt ist, der meistens sehr zufriedenstellende Ergebnisse zum Wohl der Kinder erzielt? Und dass die Chefin des Jugendamtes eine sehr umsichtig handelnde Frau ist, die nie vorschnelle Entscheidungen aufgrund von ungeprüften Aussagen Dritter trifft?"
David lächelte beruhigt. „Nein, das haben Sie mit keinem Wort erwähnt!" spielte er mit.
„Dann sollte ich das wohl auch nicht tun", antwortete Sven.
In diesem Moment riss Kriminalrat Holger Hansen die Tür auf, ließ sich schwungvoll auf dem ächzenden Stuhl gegenüber von David nieder.
„So, Herr Landers", begann er, worauf ihn Sven gleich mal unterbrach.
„Herr Dr. Landers! So viel Zeit muss sein", kritisierte er den Beamten.
Dessen Blick verfinsterte sich noch mehr. Ah! Ein Klugscheißer-Anwalt!
Süffisant grinsend fuhr er fort: „Also, Herr Dr. Landers. Nun erzählen Sie mal, warum Sie Frau Knüppers erschlagen haben."
David blieb kurz die Luft weg. Ihm wurde bewusst, was er bei all der Aufregung der letzten Stunden verdrängt hatte. Ein Mensch war gestorben – nein, ermordet geworden.
Eine Frau, die er gekannt hatte, die die Ehefrau seines besten Freundes gewesen war, über die er manches Mal schlecht gesprochen oder gedacht hatte, die er zuletzt auch gehasst hatte für das, was sie Lea und Ben, Mia und Benedikt angetan hatte.
Erschlagen! Als wäre er dazu fähig! Auch im schlimmsten Zorn nicht! Er hatte schon Probleme damit, eine Fliege zu töten - auch wenn sie ihm stundenlang ums Gesicht flog.
Offen sah er den Beamten an. „Ich habe Frau Knüppers nichts getan", erklärte er ruhig, aber die Betroffenheit war ihm deutlich anzusehen. „Ich bin wütend gegangen, ich habe ihr auch gedroht, weil ich für meine Freunde und die Kinder gekämpft habe und sie vollkommen uneinsichtig war. Aber ich habe sie nicht körperlich bedroht, ich habe an rechtliche Schritte gedacht."
Holger begann, an seinem Vorhaben, den jungen Mann fertig zu machen, zu zweifeln. Ein so guter Schauspieler konnte der doch nicht sein. Natürlich hatte er schon die tollsten Vorstellungen von Beschuldigten erlebt, aber das waren schwere Jungs gewesen, die geübt im Vertuschen und Täuschen gewesen waren. Und schließlich musste er auch die Logik seiner beiden Ermittler anerkennen.
Kurz zermarterte er sich das Gehirn, wie er ohne Gesichtsverlust aus diesem Verhör herauskäme, da nahm ihm der Anwalt diese Sorge ab.
Sven klappte die Akte zu, hatte bemerkt, in welcher Bredouille sich Hansen befand. „Ich denke, wir können gehen", stellte er ohne ersichtliche Gemütsbewegung fest.
Der Kriminalrat nickte nur, froh darüber, dass der Anwalt keine Szene machte. Ohne ein Wort verließ er den Verhörraum, zog sich in sein Büro zurück. Antje und Boris sahen sich verwundert an. „Das ging ja schnell!", wunderte sich die Hauptkommissarin grinsend und schlug sich mit Boris ab. „Dann suchen wir mal den großen Unbekannten."
Ben hatten sie schon nach Hause geschickt.
David überlegte nur kurz, ob er heimfahren oder bei Ben und Lea vorbeischauen sollte. Graue Augen tauchten vor seinen auf, die einer ganz bestimmten Apothekenhelferin gehörten.
Damit war sein Entschluss gefasst.
Die empathische junge Frau hatte sich wohl ein wenig in sein Herz geschlichen. Optisch war sie das genaue Gegenteil von Lea, die er bisher als sein weibliches Idealbild angesehen hatte – mittlerweile ganz ohne irgendeine Art von Hintergedanken natürlich. Doch Barbaras hilfsbereite, herzliche und auch pragmatische Art gefiel ihm außerordentlich.
Also lenkte er seinen Wagen wieder einmal in die schmale Altstadtgasse. Barbara hatte Dienst, was ihm ein erleichtertes Lächeln aufs Gesicht zauberte. „Kannst du eventuell Pause machen?", fragte er sehr mutig, als sie ihn freudig begrüßte. „Wir könnten einen Kaffee trinken gehen." Barbara hatte ein sehr gutes Verhältnis zu ihrem Chef, der genau wusste, was er an ihr hatte. Deshalb war es auch nicht das geringste Problem, dass sie ihren Kittel an den Haken der Garderobe hängte und mit den Worten „Ich bin gleich wieder da", die Apotheke verließ.
Ben und Lea versuchten oben in der Wohnung, ein wenig den Boden unter den Füßen zurückzubekommen. Kai hatte sich gemeldet und versichert, dass Mia bald zurückgebracht werden würde, sobald die Kripo erklärte, dass Ben nicht als Verdächtiger angesehen wurde.
Frau Dr. Strettmann prüfe derzeit die Aussagen der Hausbewohner, sei auch überzeugt, dass die in sich zusammenfallen würden. Das hieß, dass auch Benedikt in absehbarer Zeit nach Hause kommen würde.
Lea und Ben hielten sich in den Armen, wurden sich urplötzlich klar darüber, wie selbstverständlich sie ihr Glück hingenommen hatten. Alles hatte gepasst, sie schienen vom Schicksal verwöhnt worden zu sein. Doch so schnell konnte alles zu Schutt und Asche zerfallen, was in Stein gemeißelt zu sein schien.
Sie begannen sich zu küssen, ließen die Leidenschaft, die diese Küsse immer in ihnen erweckten, zu. Es wurde keine heiße Liebesrunde, wie vor den schrecklichen Erlebnissen, aber sie schenkten sich Zärtlichkeit und Erfüllung.
David genoss die Stunde Auszeit mit Barbara. Die unkomplizierte Art der jungen Frau ließ ihn die Schrecken der letzten Tage vergessen. Er konnte das eine oder andere Mal sogar lachen, die Bilder von Nadja aus seinem Kopf vertreiben. Immer, wenn seine Gedanken wieder abzudriften schienen, holte sie ihn mit einer Anekdote wieder zurück, und er war ihr mehr als dankbar dafür.Vorsichtig griff er nach ihrer Hand, hielt sich daran fest wie an einem Rettungsring, den seine Seele so sehr brauchte.
„Du wärst eine gute Psychotherapeutin geworden", erklärte er spontan, weil er ihre Gegenwart als so heilend empfand. Ihr Blick trübte sich etwas ein, was ihn schmerzte – vor allem, weil er den Grund für ihre Reaktion nicht kannte.
Barbara atmete tief ein, beschloss spontan, sich dem Mann zu öffnen, für den ihr Herz so schnell zu schlagen begonnen hatte.
„Das war eigentlich mein Berufsziel", erklärte sie. „Aber dann wurde mein Vater schwer krank, bekam multiple Sklerose, verlor seinen Job, es war kein Geld mehr da für mein Psychologiestudium. Also machte ich eine Ausbildung zur pharmazeutisch-kaufmännischen Angestellten. Mein Chef ist toll, bezahlt sehr gut, ich kann meine große Familie unterstützen. Ich habe noch drei jüngere Geschwister, zwei Jungs und ein sehr anstrengendes pubertierendes Mädchen. Wir halten ganz toll zusammen, Mama hat auch wieder zu arbeiten begonnen, wir kommen schon über die Runden. Hauptsache ist, dass Papa zurzeit eine stabile Phase hat, schon eine ganze Weile keine akuten Schübe mehr hatte."
David hing gebannt an ihren Lippen, fand sie noch interessanter als bisher. Wie sich doch ihre Lebensläufe unterschieden. Er, das reiche Söhnchen, das nie auf irgendetwas hatte verzichten müssen, der studieren hatte können, was immer er wollte, dem seine Eltern schon während des Studiums eine luxuriöse Wohnung finanziert hatten, seinen Campingbus, teure Klamotten.
Und dann dieses hübsche Mädchen, das seine Lebensziele aufgegeben hatte, um für die Familie da zu sein.
Barbara hatte es gut getan, sich auszusprechen bei jemandem, der wirklich zuhören konnte. Doch nun wurde es Zeit, wieder zur Arbeit zurückzugehen. David bezahlte natürlich für Kaffee und Kuchen, brachte sie zur Apotheke. Dass er auf dem ganzen Weg ihre Hand gehalten hatte, bemerkte er erst, als sie vor der breiten Glastür standen.
Der zarte Kuss, den er auf ihre Lippen hauchte, ließ sein Herz wie auch ihres schneller schlagen. Lächelnd betrat sie die Apotheke, lächelnd stieg er die Treppen zu den Freunden hoch.
Als er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, hörte er leises Lachen aus dem Schlafzimmer. Ein riesengroßer Stein fiel von seinem Herzen.
Die beiden würden es schaffen, genauso wie er - und auch Barbara. Schwierigkeiten waren dafür da, gelöst und aus der Welt geschafft zu werden. Zusammen.
Leise verließ er die Wohnung, fuhr nach Hause, hatte einen Traum für die Nacht, der kein Alb werden würde, sondern einen Namen hatte: Barbara.
Ben und Lea saßen erfüllt, glücklich und seit Tagen wieder einmal voller Hoffnung auf dem kleinen Balkon. Sie winkten Wolfgang zu, der unten in seinem kleinen Paradies die laue Mainacht genoss.
Doch aus heiterem Himmel überfiel Ben die Trauer.Bisher hatten die Ereignisse, die sich überschlagen hatten, dieses Gefühl nicht zugelassen. Doch hier und jetzt wurde ihm bewusst, dass Nadja tot war.
Die Frau, die er geheiratet hatte, mit großen Zukunftsplänen.
Er hatte sein Leben mit ihr verbringen wollen, doch es war anders gekommen.
Er hatte sie betrogen, hatte das Monster in ihr erweckt.
Und ein anderes Monster hatte sie getötet.
Das hatte sie nicht verdient, auch wenn sein Hass sehr hell gelodert hatte.
Lea spürte seine Zerrissenheit, hörte seinen hektischen Atem, sah, wie er sich die Augen trocken rieb.
„Lass es zu!", flüsterte sie. „Lass die Trauer zu."
Er nickte nur, ließ die Tränen laufen.
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