Kapitel 35

Auf dem Revier machten die Beamten Frank schnell klar, was Sache war, und überraschenderweise zeigte er sich einsichtig. Auf den Knast hatte er keinen Bock. Okay, er sollte sich von Ingrid fernhalten, das wäre jetzt nicht zu schwer. Allerdings hatte er keine Ahnung, wo er denn dann wohnen sollte, und vor allem, wovon er leben sollte.

Doch vor den Bullen zeigte er sich nur reumütig, das kam sicher gut an. Sie ließen ihn tatsächlich laufen, natürlich mit der Ermahnung, sich zu ihrer Verfügung zu halten, die Stadt nicht zu verlassen.

„Unter welcher Adresse können wir Sie erreichen?", fragte der Oberbulle. In Franks Gehirn ratterte es. Eine gute Frage! Klaus fiel ihm ein. Der Saufkumpan und ehemalige Kollege würde ihm sicher Unterschlupf gewähren. Die vielen gemeinsamen Jahre auf den Straßen und in den Kneipen verbanden schließlich. Also nannte er selbstsicherer, als er sich fühlte, die Adresse des Kumpels.

Kaum war er auf der Straße, tippte er Ingrids Kontakt an. Er hatte genau noch zwanzig Euro in der Börse, kein Dach über dem Kopf, Madame sollte sich schon etwas überlegen. Löhnen musste sie sowieso, Unterhalt war sie ihm schuldig – sie lebten schließlich in einem Rechtsstaat. Doch natürlich nahm sie das Gespräch nicht an, also sprach er ihr auf die Mailbox. Er bemühte sich, unterwürfig zu klingen, obwohl das Blut schon wieder in seinen Ohren rauschte. „Hallo, Schatz! Es tut mir alles so unendlich leid. Bitte, gib mir die Chance auf ein Gespräch!"

Wie erwartet kam kein Rückruf, sein Handy hatte nur noch wenig Speicherkapazität, in seiner Karre gab es keine Möglichkeit, es aufzuladen. Die Nadel der Tankanzeige bewegte sich gegen Null.

Ganz langsam begriff Frank, dass er gewaltig in der Scheiße saß. Doch schuld war natürlich nicht er, schuld war Ingrid, das Püppchen, schuld war das System, das Männern wie ihm keine Chance gab, schuld waren alle – außer ihm.

Klaus war wenig erfreut, als Frank an seiner Wohnungstür auftauchte. Er war gerade dabei, sein Leben auf die Reihe zu kriegen, eine Beratungsstelle hatte ihm einen Weg aufgezeigt, wie er das schaffen könnte.
Doch einfach wegschicken konnte er den Typen da auch nicht.
„Komm rein!", forderte er ihn auf.

Es wurde eine schwierige Zeit für beide. Frank hatte weder Klamotten noch Kohle. Klaus sah als einzige Möglichkeit, um den Kumpel finanziell nicht aushalten zu müssen, in einem Gespräch mit Ingrid. Die zeigte sich ihm gegenüber überraschend verständnisvoll.

„Kommen Sie vorbei, holen Sie seine Sachen", schlug sie vor. Sie war eine pragmatische Frau, sah schon ein, dass Frank nicht von der Hand in den Mund leben konnte. „Ich überweise ihm auch etwas Geld auf sein Konto, die Karte hat er ja hoffentlich noch."

Danach entspannte sich die Lage in der von einer Seite eher unfreiwilligen Männer-WG etwas. Frank riss sich zusammen, versuchte seinen Alkoholkonsum in Griff zu bekommen – natürlich auch, weil die Sauferei ganz schön ins Geld ging. Geld, das er dafür einfach nicht mehr hatte. Er bemühte sich, die Wohnung in Ordnung zu halten, etwas, wofür Klaus dankbar war.
Schließlich bekam Frank auch hin und wieder ein paar kleine Aushilfsjobs in seiner alten Firma, unter der Hand bezahlt.

Er begann sogar, Hoffnung zu schöpfen, dass er die Sache mit Ingrid wieder hinbekommen könnte. Auf seine Art vermisste er sie wirklich, auch die Tochter kam ihm immer öfter in den Sinn. Er war so ein Idiot gewesen, hatte doch ein wirklich gutes Leben gehabt, das er so vollkommen in die Tonne gekloppt hatte.
Doch er hielt sich an das Annäherungsverbot, wollte wirklich seine Freiheit nicht aufs Spiel setzen.

Überraschend schnell wurde ein Gerichtstermin festgesetzt. Frank ging zum Friseur, kaufte sich einen billigen Anzug und neue Schuhe. In der Nacht fand er kaum Schlaf, er wusste, es würde eng für ihn werden. Sein Pflichtverteidiger war ein eher uninteressierter, schnöseliger junger Mann, der ihn sehr herablassend behandelt hatte während des kurzen Vorgesprächs.

Nervös betrat er den kleinen Gerichtssaal, sah sich nach Ingrid um. Doch er wurde bald informiert, dass die Aussagen seiner Frau nur schriftlich vorliegen würden, um ihr ein Zusammentreffen mit ihm zu ersparen. Seine kleine Hoffnung, dass es zu einer Versöhnung kommen könnte, wenn er alles gestand und sie um Verzeihung bat, zerbrach.
Der Staatsanwalt verlas die Anklageschrift, all die zusammengetragenen Aussagen hörten sich schlimmer an, als Frank die Geschehnisse in Erinnerung hatte.
Die Schlange Kathrin, die Polizisten, die Ärzte, Ingrid selbst hatten alles schon sehr dramatisiert.

Sein Anwalt verfolgte alles sehr desinteressiert, wischte die ganze Zeit auf dem Handy herum, machte den Mund nicht auf. In Frank brodelte es wieder einmal gefährlich. Doch wider Erwarten fiel das Urteil gnädig aus. Er war noch nicht kriminell aufgefallen, mit Ausnahme des Führerscheinverlustes hatte er eine weiße Weste.
So bekam er eineinhalb Jahre auf Bewährung, musste an seine Frau 5000 Euro Schmerzensgeld bezahlen, das Kontaktverbot blieb bestehen.
Der Entscheid des Familiengerichts, der schon vorlag, besagte, dass Ingrid einstweilig das alleinige Sorgerecht für Sabrina zugesprochen wurde. Die Scheidung hatte sie bereits eingereicht, wie er so nebenbei erfuhr.

Frank atmete erst einmal auf. Kein Knast – er hatte wirklich befürchtet, dass er einfahren musste. Doch dann wurde ihm auch seine unsichere finanzielle Situation wieder klar. „Und wovon soll ich in Zukunft leben?", fragte er seinen Anwalt, der schon dabei war, den Gerichtssaal zu verlassen.

Der grinste ihn wieder überheblich an. „Das sollten sich Typen wie Sie überlegen, bevor Sie die Frau, von der Sie abhängig sind, verprügeln. Abgesehen davon, dass Männer Frauen überhaupt nie körperlich misshandeln sollten. Auch nicht seelisch! Überhaupt nicht! Ich bin übrigens mit dem Urteil höchst unzufrieden." Damit ließ Dr. Karsten Neubert seinen unsympathischen Klienten stehen. Er war eigentlich Opferanwalt, kämpfte seit Jahren für die Rechte der Frauen, die unter gewalttätigen Männern zu leiden hatten. Doch Personalmangel bei den Pflichtverteidigern hatte dazu geführt, dass man ihm diesen Fall aufs Auge gedrückt hatte. Dementsprechend wenig hatte er sich auch für den Kerl engagiert.

Seine jüngeren Brüder, die Zwillinge Sven und Kai, führten zusammen mit ihm eine Kanzlei, die sie vom Vater übernommen und vollkommen neu ausgerichtet hatten. Kai hatte Familienrecht gewählt und Sven Strafrecht.

In Frank stieg wieder einmal diese unkontrollierbare Wut hoch. Diese Schnösel, reich geboren, mit allen Chancen gesegnet, hatten leicht reden. Sie hatten vom wirklichen Leben keine Ahnung. Er selbst hatte sich aus dem schlimmsten Milieu, das man sich vorstellen konnte, herausgekämpft, hatte sich ein Leben aufgebaut – aus eigener Kraft. Hatte es sogar geschafft, mit Charme und ein paar Schwindeleien Ingrid für sich gewinnen zu können. Alles war gut gelaufen, bis diese verdammten Bullen ihn kontrolliert hatten.

Heute brauchte er Schnaps, viel Schnaps.
Heute brauchte er Vergessen!
Morgen würde er versuchen, klar und emotionslos seine Lage zu analysieren. Klaus musste sein Vermittler bei Ingrid sein, er hatte das schon einmal geschafft.

Sie musste ihm eine Chance geben!
Sonst war er am Hund!

Im Supermarkt holte er sich eine Flasche billigen Sprit, stand genervt in der Schlange an der Kasse, zählte die paar Kröten ab.
Dann fuhr er zu Klaus' Wohnung, ließ sich in sein Notbett fallen und begann, sich zu betrinken. Der Schnaps brannte in seiner Speiseröhre bis zum Magen, doch er erinnerte sich, dass sein Kopf sich bald beruhigen würde, dass das Gedankenkarussell bald stillstehen würde.

Die Lebensangst würde einer Euphorie weichen, die ihn sich wieder mächtig fühlen ließ. Der Alkoholpegel würde das schaffen.


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