Kapitel 34
Ingrid wusste, sie musste die Reißleine ziehen. Seit viel zu vielen Monaten hatte sie viel zu viel eingesteckt, hatte Ausreden erfunden für blaue Augen, geschwollene Wangen, Platzwunden im Gesicht.
Hatte versucht, Entschuldigungen zu glauben, Versicherungen, dass alles besser wird, wenn er erst wieder Arbeit hat, für bare Münze zu nehmen.
Hatte gehofft, war enttäuscht worden, hatte wieder gehofft.
Immer wieder, wie im Hamsterrad war sie gelaufen, gelaufen, gelaufen.
Hatte funktioniert.
Doch gestern war er zu weit gegangen. Er hatte die Kleine erschreckt, die vollkommen verängstigt im Treppenhaus gestanden war, mit weit aufgerissenen Augen, ihren Teddy fest an sich gedrückt, während er auf ihre Mami eingeprügelt hatte.
Kurz hatte er innegehalten, als Sabrina aufgeschrien hatte, doch er hatte seine Raserei nicht in Griff bekommen. Erst als das mutige Mädchen sich ihm in den Weg gestellt hatte, als er auf die wehrlose Frau am Boden eintreten wollte, hatte er aufgehört.
Ingrid hatte panische Angst gehabt, dass die Tochter seine Wut auf sich ziehen würde. Doch er hatte seine Autoschlüssel gegriffen, war zur Tür hinausgestürzt.
Ingrid nahm Sabrina in die Arme, die immer noch am ganzen Körper zitterte, versuchte das Kind zu beruhigen.
Kurz darauf läutete es Sturm, durch die Scheibe an der Eingangstür sah sie Blaulicht blinken.
Sie öffnete, versuchte ihr wieder einmal zerschlagenes Gesicht vor den beiden Beamten zu verbergen. Doch die wussten nach einem kurzen Blick Bescheid. Da drängte sich auch schon Kathrin, ihre Nachbarin und so etwas wie eine Freundin, an den Männern vorbei. Sie hatte wieder einmal die Schreie Ingrids gehört, als sie mit ihrem Dackel Lumpi vom Gassiegehen zurückgekommen war.
Dieses Mal hatte sie nicht auf Gernot, ihren Mann, gehört, der ihr jedes Mal verboten hatte, die Polizei anzurufen, wenn es im Haus nebenan laut geworden war. „Wir mischen uns nicht ein!", hatte er immer wieder verlangt. Doch heute hatte sie Sabrinas Stimmchen gehört und gewusst, dass sie handeln musste.
Sie brachte das verstörte Mädchen in ihr Haus, die Beamten fuhren Ingrid ins Krankenhaus und nahmen dort auch gleich die Anzeige gegen Frank auf.
Frank raste durch die Straßen der Stadt. Vor seinen Augen sah er immer noch die roten Kreise – wie immer, wenn er diese lodernde Wut in sich spürte. In letzter Zeit war das häufiger geschehen. Alles an Ingrid reizte ihn bis auf Blut.
Ihr vorwurfsvoller Blick, wenn er nicht aufgeräumt hatte, nicht eingekauft hatte, die Tochter nicht von der Schule abgeholt hatte.
Ja, sie konnte leicht über ihn urteilen, die erfolgreiche Bankangestellte, die die Kohle nach Hause brachte.
Die in ihren feinen Kostümchen den Kunden das Geld aus der Tasche zog.
Er war LKW-Fahrer mit Leib und Blut, hatte ganz Europa befahren, bis diese verdammten Bullen ihn auf der A 9 gestoppt hatten. Alkoholkontrolle – Lappen weg.
Die hatten doch keine Ahnung vom Leben auf der Straße, von den ganzen ätzenden Ruhepausen auf stinkenden Rastplätzen.
Da brauchte es halt hin und wieder ein paar Schlucke aus der Pulle, um überhaupt ein Auge zutun zu können. Doch er hatte stets alles im Griff gehabt, nie einen Unfall gebaut, war immer pünktlich gewesen, nie krank, immer zur Stelle. Auf ihn war Verlass.
In der Firma hatten sie zu ihm gehalten, wussten, was sie an ihm hatten. Er hatte im Lager gearbeitet, bis er seinen Schein wieder zurückbekommen würde.
Doch das war nichts für ihn, das war nicht sein Leben. Er trank immer mehr, fehlte oft, bis der Chef ihm eines Tages seine Papiere übergab. Seitdem war er „Hausmann". Bitter lachte er auf bei der Erinnerung an den Tag, als Ingrid ihm diesen Vorschlag gemacht hatte. Sie würde wieder arbeiten gehen, er sollte sich um Haus und Kind kümmern. Galle stieg in ihm hoch. Sabrina war da fünf gewesen, jetzt war sie sieben. Er war kein liebevoller Vater, hatte nie gelernt, wie man das wird. Das Kind war eben da, weil Ingrid es sich so eingebildet hatte.
Er war ein echter Kerl, kein Schmusepapi, kein staubsaugender Softie. Und trotzdem hatten ihn die Blicke des Mädchens heute getroffen. Seine Fäuste schlugen krachend gegen das Lenkrad der alten Karre, die ihm seine „Herrin" wohl oder übel zugestanden hatte. Die feine Familienkutsche fuhr natürlich Madame.
Irgendwann fand er sich auf einem Parkplatz am Rande der Stadt wieder, erinnerte sich an die Wodkaflasche unter dem Beifahrersitz, nahm ein paar kräftige Schlucke. Er wurde müde, fuhr die Rückenlehne nach hinten, fiel in einen betrunkenen Schlaf.
Am Morgen wachte er mit schmerzendem Rücken auf. Er war nicht mehr jung genug für solche Übernachtungen. Knatternd sprang der Motor an. Er musste nach Hause, musste wieder einmal bitten und betteln, dass sie ihn hineinließ, dass sie ihm noch ein Chance gab. Und er musste sich in Zukunft sicher auch zusammenreißen, sonst hatte er bald auch kein Dach mehr über dem Kopf. Das Haus lief schließlich auf ihren Namen, war ihr Elternhaus, sie hatte es schon bewohnt, als sie geheiratet hatten.
Vielleicht konnte er sie noch einmal rumkriegen, wenn er versprach, diese komische Therapie zu machen.
Doch vor dem Haus stand ein Polizeiwagen. Er stieg verwundert aus. Was hatten denn die Bullen hier zu suchen? Eine Beamtin stellte sich ihm in den Weg, als er auf den Vorgarten zuging. „Herr Frank Hofmeister?", fragte sie.
In ihm stieg wieder die Wut hoch. Hatte Ingrid dieses Mal die Bullen gerufen? Was zwischen ihnen geschah, ging nur sie beide etwas an. So war es die letzten Male abgelaufen.
„Was wollen Sie von mir?", blaffte er.
„Wir müssen Sie bitten, uns aufs Revier zu begleiten. Gegen Sie liegt eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt vor." Ramona zwang sich zur Ruhe, obwohl es in ihr ordentlich rumorte. Sie hatte es so satt, immer wieder gegen Typen wie den da vorzugehen. Wann würden die Männer denn endlich mal aufhören, Frauen zu schlagen oder ihnen noch Schlimmeres anzutun?
Da legte der Kerl auch schon wieder los, uneinsichtig wie die meisten. „Die verdammte Bitch! Kann die ihr Maul nicht halten? Braucht wohl noch ein paar drauf."
Markus kam seiner Kollegin zu Hilfe. Normalerweise wollte sie solche Einsätze alleine durchziehen, sie war eine starke, taffe Frau.
„Steig jetzt ein, Superheld, der seine Kraft nur an Frauen messen kann!", zischte er und bugsierte Frank zur hinteren Sitzbank.
Ingrid hatte die Szene vom Küchenfester aus beobachtet, hatte die Luft angehalten, bis Frank endlich im Auto saß. Dann stieß sie erleichtert den Atem aus. Die Beamten hatten ihr klar aufgezeigt, dass sie keine Angst mehr haben musste. Ihr Mann würde mit einer einstweiligen Verfügung verpflichtet, sich von ihr und der Tochter fernzuhalten, sie konnte eine Notfallscheidung im Eilverfahren durchziehen, es würde eine Gerichtsverhandlung geben, aber das konnte dauern.
Erleichtert ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. Kathrin hatte Sabrina zur Schule gebracht, würde sie auch wieder abholen. Gut, dass die Nachbarin sich eingemischt hatte! dachte Ingrid dankbar.
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