Kapitel 33

Bei David verlief der Aufenthalt im Kommissariat weniger angenehm, wenn man Bens Verhör als angenehm bezeichnen konnte. Aber alles war relativ.

Ein ziemlich junger, ziemlich übergewichtiger Beamter stellte sich als Kommissar Boris Helmbrechts vor. „Wurden Sie schon über Ihre Rechte belehrt?", fragte er ohne Begrüßung, nachdem er sich laut schnaufend auf seinem Schreibtischstuhl niedergelassen hatte.
„Rechte? Bin ich als Beschuldigter hier? Was soll ich getan haben? Meinen Freund aus dem Haus seiner verrückten Noch-Ehefrau zu befreien und ihn und seine Tochter nach Hause zu bringen?"

Boris verzog keine Miene. Dem Laffen würde seine Arroganz schon noch vergehen. „Sie werden beschuldigt, Frau Nadja Knüppers ermordet zu haben. Sie haben das Recht zu schweigen, alles, was Sie aussagen, kann bei Gericht gegen Sie verwendet werden. Außerdem haben Sie das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen", leierte er herunter.

„Nadja? Ermordet? Sie ist tot?" fragte David fassungslos.
„Das sind Ermordete in der Regel!", kam von dem Beamten zurück. „Also! Wollen Sie einen Anwalt anrufen?"

„Ja! Nein! Ich kenne keinen Anwalt!" stotterte David. In diesem Augenblick klopfte es an der Tür des Büros, Dr. Sven Neubert kam herein und stellte sich als Rechtsbeistand von Dr. Landers vor. „Lea Trattoni hat mich informiert, also besser gesagt, meinen Bruder. Sie sagen erst einmal gar nichts, wir brauchen Informationen."

Kommissar Helmbrechts lehnte sich in seinem Stuhl zurück, der unter seinem Gewicht gefährlich ächzte. „Informationen? Die hätte ich auch gerne", erklärte er süffisant. Der giftige Blick des Anwalts holte ihn aus seiner arroganten Haltung zurück.

„Also, dann wollen wir mal. Heute Abend wurde Frau Nadja Knüppers tot in ihrer Kanzlei aufgefunden. Ein Aufnahmegerät hatte die Unterhaltung zwischen ihr und dem Beschuldigten aufgezeichnet. Dr. Landers hatte Frau Knüppers eindeutig gedroht. Der Zeitpunkt des Todes fiel ziemlich genau auf den seines Besuches. Bilder der Überwachungskamera am Hauseingang zeigen, wie er sehr erregt das Haus betreten und noch erregter wieder verlassen hat."

„Kann ich das Band hören?", fragte der Anwalt, und der Kommissar schaltete das Gerät ein. Sven grinste. „Wenn ich alle Menschen umgebracht hätte, zu denen ich gesagt habe: Das wirst du bereuen!, würde ich sicher nicht mehr aus dem Gefängnis kommen. Weitere Beweise? Mein Mandant war bei Frau Knüppers, das lässt sich nicht abstreiten. Als er sie verließ, lebte sie noch. Sie hat das Gerät ausgeschaltet."

„Das kann auch der Beschuldigte getan haben!" Die Antwort kam schnell.
Der Anwalt lächelte etwas überheblich. „Und dann lässt er Gerät und Band in der Kanzlei, um Ihnen Ihren Job ein wenig zu erleichtern?"

Sven wechselte das Thema. „Die Kameraaufnahmen würde ich auch gerne sehen, wenn es möglich wäre."

Mit geschmerztem Blick wandte sich Kommissar Helmbrecht dem Computer zu, tippte lange auf der Tastatur herum, klickte ebenso lang mit der Maus, drehte schließlich den Bildschirm zum Anwalt.

Natürlich fiel Sven sofort der Mann auf, der das Haus betrat, als David es verließ. „Okay! Wer ist das?"
Boris wand sich etwas, sah seine Felle davonschwimmen. „Wissen wir nicht", gestand er ein.
Da packte den Anwalt die Wut. „Da steht ein unbescholtener Mann offen vor einer Kamera, versucht nicht, sein Gesicht zu verbergen, weder beim Betreten noch beim Verlassen des Gebäudes. Seiner Intelligenz ist mit Sicherheit zuzutrauen, dass er diese Technik kennt. Ein anderer verbirgt sein Gesicht unter einer Kappe, dreht der Kamera bewusst den Rücken zu. Aber Sie starten eine filmreife Aktion in der Wohnung einer jungen Frau, schleppen ihren Lebensgefährten und den Freund der Familie aus dem Haus."

Er konnte nur den Kopf schütteln. Sein Bruder hatte ihn über das Vorgehen der Polizisten informiert. Sein Blick fiel wieder auf den Bildschirm, er sah den auffallend großen, kräftigen Mann eilig, nahezu fluchtartig das Gebäude verlassen. Doch wieder nahm er sich die Zeit, die Kappe ins Gesicht zu ziehen. Und der Anwalt wusste, wie sicher auch die Polizei, dass es in diesem Haus, außer einem Bioladen im Erdgeschoss nur die Räume von Nadja Knüppers Kanzlei gab.
Die Hände dieses Mannes wiesen Flecken auf, die Aufnahmen waren ziemlich scharf. „Da haben Sie Ihren Täter!"

Dann stand er auf. „Sie haben sicher nichts dagegen, wenn mein Mandant und ich jetzt gehen. Ja, ich weiß, er wird die Stadt nicht verlassen. Er hat im Übrigen auch keinen Grund dazu."

Boris erhob keine Einwände, die Argumente waren ihm ausgegangen. Das Bewegungsprofil des Handys konnten sie sich sparen, der junge Mann hatte ja nicht abgestritten, bei Nadja Knüppers gewesen zu sein. Er ärgerte sich, dass sie das Detail, dass das Aufnahmegerät ausgeschaltet worden war, übersehen hatten.

Natürlich hätte Dr. Landers auch noch einmal zurückkommen können, aber die Kamerabilder logen ja auch hier nicht.

Dann mussten sie sich wohl auf die Suche nach dem großen Kerl machen.

*

Als Ben endlich zu Hause ankam, suchte er seinen Wohnungsschlüssel, erinnerte sich, dass er den ganzen Bund Nadja ausgehändigt hatte. Den würde er wohl nicht mehr zurückbekommen, ebenso wenig wie seine Autoschlüssel. Alles würde wahrscheinlich als Beweismittel eingetütet und für Jahre in der Asservatenkammer des Kommissariats verschwinden.

Kopfschüttelnd über diese blöden Gedanken drückte er auf den Klingelknopf, las, was ihn noch immer mit Glück erfüllte: Dr. Lea Trattoni - Dr. Ben Knüppers. Er erinnerte sich noch genau an den Tag, als David ihnen das glänzende Schild geschenkt hatte.
Es dauerte lang, bis Lea sich über die Sprechanlage meldete.
„Ja? Bitte?" Ihre Stimme klang schleppend und verwaschen. Sein Herz begann schon wieder zu bluten.
Was hatte er diesem schönen, fröhlichen Mädchen angetan.
Was musste sie alles erdulden, nur weil sie ihn liebte, weil er sie liebte.

„Ich bin's, Ben!" Er versuchte, das Schluchzen, das in ihm aufstieg zu unterdrücken, versuchte, stark zu sein.
Das Summen des Öffners kam schnell, sie stand in der Wohnungstür, als er die zwei Treppen hochgestiegen war, doch sie bewegte sich nicht auf ihn zu. Wie eine Statue lehnte sie am Holm, ihr Blick schien gebrochen, das leuchtende, glitzernde Grau war matt und leblos. Er nahm sie in die Arme, schob sie in die Wohnung. Sie ließ es sich gefallen, reagierte aber kaum darauf.

Im Wohnzimmer saßen Angelika und Stefano, wirkten nicht viel lebendiger. Barbara, die Apothekenhelferin, die immer wieder so hilfsbereit gewesen war in den letzten Tagen, begrüßte Ben mit einem kleinen Winken.
„Als sie Mia wieder abgeholt haben, ist Lea zusammengebrochen. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben", erklärte sie, und Ben verstand die Apathie seines Mädchens, das eine so starke Frau geworden war. Doch das alles war auch für sie zu viel gewesen.
Stefano stand schwerfällig auf. „Wir fahren dann mal."

Als er leicht taumelte, nahm Angelika ihn in die Arme. „Wir rufen ein Taxi", bestimmte sie.
„Schon erledigt", erklärte Barbara. „Ihr Auto parke ich um in unseren Hof."

Stefano nickte nur und gab ihr seine Autoschlüssel. Er fühlte in diesen Tagen die Last seiner 65 Jahre gewaltig.
Kaum waren Leas Eltern in den Mietwagen gestiegen, brachte ein Polizeifahrzeug David. Er hatte eigentlich nur nach Hause gewollt - ein paar Stunden Ruhe, sich sortieren, orientieren. Doch er musste sehen, wie es den Freunden ging.

Er verzichtete darauf zu klingeln, er hatte seinen Hausschlüssel noch. Die Stille im Wohnzimmer, nur unterbrochen von Leas beinahe tonlosem Weinen, traf ihn bis ins Mark. Die Apothekenhelferin - Barbara hieß sie, glaubte er sich zu erinnern - kam ihm entgegen. Sie zog ihn in die Küche, informierte ihn über alles, was an diesem Abend geschehen war.

Davids Herz blieb wieder einmal stehen, raste danach los.
War er schuld?
Hätte er nicht zu Nadja fahren sollen?
Wie viel würden die Freunde noch aushalten können?
Müde und gebrochen sank er auf einen der wackligen Stühle. Das nahezu fremde Mädchen setzte sich ihm gegenüber, hielt seine Hände und sprach aus, was er jetzt unbedingt hören musste: „Ihr könnt alle nichts dafür."


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