Kapitel 32

Lea war nun wirklich einem Nervenzusammenbruch nah. Sie hatte noch nie eine Panikattacke gehabt, aber das, was da in ihr hochstieg, fühlte sich verdammt danach an. Oft hatte sie in Romanen davon gelesen, wusste deshalb auch, dass die Atmung sehr wichtig war, um alles in Griff zu bekommen.
Sie versuchte sich zu erinnern. „Atme langsam durch die Nase ein, zähle dabei bis vier. Halte den Atem an, zähle dabei bis sieben. Atme kräftig durch den Mund aus, zähle dabei bis acht. Wiederhole die Übung so lange, bis du dich etwas beruhigt hast." Sie versuchte es, und tatsächlich – es wirkte.

Die schimmernden schwarzen Kreise vor ihren Augen verschwanden, ihr Blick und ihr Geist wurden klarer.
Angelika beobachtete sie besorgt. Was würde die geliebte Tochter denn noch alles aushalten müssen?
War Ben wirklich gut für sie?
Sie hätte mit einem anderen Mann sicher weniger Probleme in ihr so junges Leben geholt.

Doch dann sprang Lea auf, rief den Kontakt von Kai Neubert auf, drückte auf den grünen Button. Gehetzt berichtete sie von den neuesten Ereignissen.

„Frau Trattoni, ich bin nicht im Strafrecht versiert", antwortete er. „Aber mein Zwillingsbruder Sven ist Strafrechtler. Wenn es für Sie in Ordnung ist, informiere ich ihn, und er meldet sich bei Ihnen."

Lea war erleichtert, wenigstens einen Ansprechpartner zu bekommen.
Strafrecht! dachte sie. Das klingt ja fürchterlich. Was war denn überhaupt los, was hatten sie Ben und David vorzuwerfen?
Da läutete es an der Tür, und der nächste Albtraum schien Wirklichkeit zu werden.

*

Ben und David wurden auf dem Kommissariat in zwei verschiedene Büros geführt.
Wenigstens keine Verhörräume! schoss es Ben mit Galgenhumor durch den Kopf. Eine junge Frau betrat den Raum, kaum dass er Platz genommen hatte. Ein wenig erinnerte sie ihn an Maria Furtwängler, einer seiner liebsten Ermittlerinnen beim „Tatort", den er zusammen mit Lea oft und gerne gesehen hatte. Sie hatten zwar selten eine Folge bis zum Ende durchgehalten, bevor die Leidenschaft die Hormone hatte kochen lassen, aber es kamen ja immer Wiederholungen. Lächelnd erinnerte er sich.

„Es freut mich, Sie so gutgelaunt zu sehen", verkündete die Beamtin, die sich als Hauptkommissarin Antje Kammer vorstellte.

„Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum ich hier sitze", antwortete Ben. „Da kann ich mich auch nicht schlecht gelaunt fühlen. Etwas übermüdet vielleicht, etwas erstaunt, etwas gestresst."
Antje wusste nicht so genau, ob sie diesen Dr. Knüppers für seine Coolness bewundern sollte - oder ob seine Abgebrühtheit sie abstieß.

„Sie sind hierhergebracht worden, um zum Tod von Nadja Knüppers befragt zu werden!", knallte sie ihm hin und ließ ihn nicht aus den Augen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihre Worte seine Gehirnwindungen durchlaufen hatten.
Nadja? Tot? Wie? Warum? Ein Unfall? Aber dann hätten sie ihn ja nicht hierher geschleppt.
Als ihm der Sinn ihrer Aussagen klar geworden war, sprang er so erregt auf, das sein Stuhl nach hinten kippte.
„Wie? Nadja ist tot?", stieß er keuchend hervor. „Warum ist sie tot?

Die Hauptkommissarin machte sich eine Notiz: Überraschung glaubhaft.

„Zu den näheren Umständen darf ich Ihnen noch keine Auskunft erteilen", wand sich die Polizistin etwas heraus.
„Kommen Sie!", fuhr er sie an. „Sie ist tot, und ein Einsatzkommando stürmt meine Wohnung!" Er schien nachzudenken. „Brauche ich einen Anwalt?"

„Im Moment noch nicht, Sie sind als Befragter hier, nicht als Beschuldigter. Deshalb habe ich Sie auch nicht über Ihre Rechte belehrt."

„Und warum dann dieser Auftritt Ihrer Kollegen?" Ben war sich noch nicht klar, ob er sich in einem Albtraum befand, oder ob alles hier Realität war.

„Das galt nicht so sehr Ihnen."
„Wem dann? David?" Er lachte bitter auf. Warum zogen sie jetzt seinen Freund da mit hinein?
Antje gab keine Antwort. Dann entschloss sie sich, ein paar Karten auf den Tisch zu legen.
„Ihre Frau ist in ihrer Kanzlei ermordet aufgefunden worden. Es wurden eindeutige Beweise entdeckt, dass Herr Dr. Landers nachmittags bei ihr gewesen ist." Wieder haftete ihr Blick aufmerksam auf dem Noch-Ehemann. Doch der zeigte keine Zeichen von Nervosität.
„Ja, ich weiß. Er wollte mit ihr sprechen, sie überreden, dass sie diesen verrückten Kampf gegen oder um mich beenden sollte."

„Wir haben Aussagen einer aufmerksamen Nachbarin, dass Sie das Haus nur zu einem Spaziergang mit Ihrer Tochter verlassen haben, dass aber Herr Dr. Landers öfter vorgefahren und auch wieder – ziemlich schnell – weggerast ist."

Ah! dachte Ben. Die Meier! Die ihn immer ziemlich angeflirtet hatte. Gut, jetzt gab sie ihm tatsächlich ein Alibi.
„Wie gesagt, er war bei Nadja, sie hat ihn aber auflaufen lassen. Dann später noch einmal, weil wir sie nicht erreichen konnten, und es für ihre Verhältnisse schon ziemlich spät war. Doch sie hat nicht geöffnet. Danach hat Lea sich mit dem Anwalt in Verbindung gesetzt, der uns bei dieser Inobhutnahme vertritt, und der wohl die Polizei informiert hat."

„Haben Sie etwas gegen eine Speichelprobe?", wechselte die Beamtin das Thema.

„Nein! Sie können meine Fingerabdrücke haben, meine DNA, das Bewegungsprofil meines Handys, die Listen meiner Telefonanbieter, von mir aus auch meine Kontoauszüge. Aber lassen Sie mich bitte nach Hause zu meiner Freundin und meiner Tochter. Ich habe echt Angst, wie lange die Frau in meinem Leben das alles noch durchhält. Und Mia ist auch schon ziemlich durch den Wind."

Antje sah bewusst gebannt auf den Bildschirm. „Ihre Tochter ist in eine Notfallgruppe gebracht worden", erklärte sie wie nebenbei. Da war es um Bens Ruhe geschehen, das war jetzt der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

„Sind denn alle vollkommen verrückt geworden?", brüllte er so laut, dass der Beamte aus dem Nebenraum angeschossen kam. Doch die Hauptkommissarin machte ein Handzeichen, das sie die Situation in Griff hatte.
„Ich bin ein angesehener Bürger dieser Stadt. Erfolgreich, guter Steuerzahler, unbescholten. Das Einzige, das man mit vorwerfen könnte, wäre, dass ich mich neu verliebt habe. Das passiert vielen. Doch dummerweise hatte ich mit meiner Frau die Trennung noch nicht vollzogen, habe mit ihr geschlafen, habe Mia gezeugt – einem ganz perfiden Plan von ihr zufolge. Einen Monat vorher war ich mit Lea in Berlin, ein Kondom war wohl nicht in Ordnung, so ist Benedikt entstanden. Okay, moralisch sicher nicht einwandfrei, aber wohl kein Verbrechen. Nadja hatte es ziemlich ruhig aufgenommen, dass ich sie verlassen und Mia mitgenommen hatte. Bis sie Lea gesehen hatte. Ab diesem Zeitpunkt hat sie ihren Rachefeldzug gegen uns gestartet."

Es war alles aus ihm herausgebrochen, Tränen der Wut liefen über seine Wangen. „Und nur auf ihre Lügen und die sicher gekauften Aussagen der Hausmitbewohnern hin nimmt man uns die Kinder weg, reißt sie aus ihrer gewohnten Umgebung. Und Mia jetzt gleich ein zweites Mal!"

„Sie haben Ihre Frau gehasst?", fragte Antje ruhiger, als sie sich fühlte. Aber die Situation musste unbedingt deeskalieren.
„Ja! Das habe ich!", gestand Ben, ohne nachzudenken. „Eine saubere Trennung zweier erwachsener Menschen, deren Beziehung eben nicht gehalten hatte, wäre möglich gewesen. Aber sie hat blind vor Rachsucht gehandelt. Ja, ich habe sie gehasst! Aber ich habe ihr nichts angetan, so wenig wie David."

Die Beamtin hörte dieses Mal wie so oft auf ihr Gefühl. Sie verzichtete auch auf den Speicheltest und die Fingerabrücke. Sollte eines davon oder beides bei seiner Frau gefunden werden, würde die Beweiskraft gegen den Ehemann wohl trotzdem gegen Null gehen. Jeder einigermaßen geschickte Anwalt würde ihnen das um die Ohren hauen.

Die richterlichen Beschlüsse für die anderen Maßnahmen hatte sie schon vorliegen. Sie erhob sich von ihrem Stuhl. „Dann lasse ich Sie jetzt nach Hause fahren. Sie verlassen bitte die Stadt nicht und halten sich zu unserer Verfügung."

„Und David?" fragte Ben.

Sie wich einer Antwort aus, wählte die Nummer eines Beamten, bat ihn, Herrn Dr. Knüppers heimzufahren.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top