Kapitel 30

Um sechs Uhr am nächsten Morgen wurde Mia langsam unruhig. Wenigstens sie schien zu ihrem normalen Rhythmus zurückzufinden. David tauchte schlaftrunken in der Tür auf, nahm Ben die Versorgung der Kleinen ab. Der raste als erstes ins Schlafzimmer, Nadjas Bett war unberührt. Leicht panisch rief er bei Lea an, erzählte hektisch und vollkommen überdreht, was in der Nacht alles geschehen, oder besser, nicht geschehen war.
Auch Lea konnte sich keinen Reim aus Nadjas Verhalten machen, allerdings konnte sie das schon seit einiger Zeit nicht.
„Ich ruf beim Anwalt an", schlug sie vor. „Er hat gesagt, ich kann mich zu jeder Tages- oder Nachtzeit melden."
„Mach das, Süße", stimmte Ben zu, war erleichtert, dass Lea eine Möglichkeit gefunden hatte zu handeln.

Dr. Neubert meldete sich etwas verschlafen, war aber sofort hellwach, als seine Mandantin ihm alles berichtet hatte.

Er hatte am Vortag mit Henriette telefoniert, sie hatten vereinbart, dass sie die Beweise, die diese Frau Knüppers vorgelegt hatte, akribisch nachprüfen würde, den Hausbewohnern auf den Zahn fühlen würde. Mit dem zuständigen Familienrichter hatte sie einen Termin für Anfang nächster Woche vereinbart, sie war ziemlich sicher, dass die Kinder schnell zu Herrn Knüppers und Frau Trattoni zurückkommen würden.

Das Verschwinden der Ehefrau jetzt war natürlich mehr als seltsam, passte so gar nicht zu deren bisherigem Verhalten.
„Ich kümmere mich drum!" versprach er Lea, wenn er auch nicht so recht wusste, wie. Im Anschluss rief er Henriettes Privatnummer auf, im Büro wäre sie sicher noch nicht.

Die Amtsleiterin war genauso verwundert wie er selbst. „Was bezweckt sie denn jetzt damit wieder?" fragte sie rhetorisch. „Kommt da dann wieder irgendeine Fantasiegeschichte?" Die Frau erschien ihr immer zwielichtiger.

„Vielleicht hat die Polizei eine Idee, was man da unternehmen könnte", schlug sie schließlich vor. „Habe ich noch Zeit, ins Büro zu fahren?"

Kai grinste vor sich hin. Die Tatkraft der Frau Doktor gefiel ihm schon seit langem, ihr Aussehen nicht weniger. „Können wir uns dort treffen?", fragte er, und sie glaubte eine ganz klein wenig an Anzüglichkeit herauszuhören. Flirtete er mit ihr?
Das Lächeln in ihrer Stimme kam deutlich bei Kai an, als sie antwortete: „Aber immer gerne, Herr Dr. Neubert."
„Na dann! Bis in einer Stunde!" Er verbarg seine Freude nicht. Es gab Tage, die schlechter begannen „Ich bringe Croissants mit."

„Stopp!", hielt sie ihn noch auf. „Für mich lieber eine Wurstsemmel." Dann drückte sie den roten Knopf.

Im Büro schaltete sie den Kaffeeautomaten ein, den sie aus eigener Tasche bezahlt hatte. Die Filtermaschinen, die zur Standartausstattung der städtischen Büros gehörten, waren ihr ein Graus.
Während des improvisierten Frühstücks beratschlagten sie und der Anwalt sich über die weitere Vorgehensweise.

Corinna traf ein, wurde auf ein Gebäckteil und einen Koffeinschuss eingeladen. Sie hielt sich etwas bedeckt, war noch immer der Meinung, richtig gehandelt zu haben. So etwas wie vor drei Jahren durfte sich nie wiederholen!
Nie!

Lieber würde sie auch in Zukunft zehnmal zu früh handeln als noch einmal zu spät. Da konnte Henriette wettern, so viel sie wollte.
„Und jetzt ist Nadja Knüppers verschwunden? Das ist aber schon sehr seltsam, oder?" warf sie in den Raum.
Henriette sah sie verblüfft an. „Du meinst, der Vater hat etwas damit zu tun?"
Die Sozialarbeiterin zuckte mit den Schultern. „Er und seine Freundin würden schon sehr davon profitieren, wenn die Ehefrau aus dem Weg wäre", schien sie laut zu denken.

Ihre Chefin wurde nachdenklich, Kai schüttelte dagegen den Kopf. „Jetzt malen Sie mal nicht den Teufel an die Wand. Wir rufen die Polizei an, erklären in Ruhe den Fall, bitten sie, mal in der Kanzlei nachzusehen."

Der Beamte am Telefon war wenig entgegenkommend. „Frau Knüppers ist volljährig und im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte?" fragte er gewohnheitsmäßig.
Als Kai bejahte, bekam er zu hören, was er erwartet hatte. „Dann hat sie freies Aufenthaltsbestimmungsrecht. Da können wir leider nicht tätig werden."

Er notierte sich zwar die Namen, die ihm genannt worden waren, sah aber keine Notwendigkeit zu handeln.
Kurz darauf war Schichtwechsel, und Markus Hübner nahm seinen Platz ein. Nadja Knüppers, las er auf dem Notizblock neben dem Telefon, und die Erinnerung an diesen mehr als seltsamen Einsatz vor zwei Tagen stieg wieder hoch. Er lief dem Kollegen nach. „Was ist mit Nadja Knüppers?", fragte er ihn.

Der hob nur uninteressiert die Schultern. „Meldet sich nicht. Der Ehemann hockt mit dem Kind zu Hause und ist wahrscheinlich sauer, dass die Alte nicht heimkommt."
Markus schüttelte den Kopf. „Da steckt schon etwas mehr dahinter. Das Jugendamt hat zwei Kinder aus der Familie geholt, ich war dabei. Das alles war irgendwie gruselig. Mir war da gar nicht wohl bei der Geschichte."

Der Kollege wollte nach der langen Nachtschicht nur nach Hause. „Ja, die haben irgendwas gefaselt von Inobhutnahme und Pflegefamilie. Aber was sollen wir da machen? Das müssen die unter sich klären." Damit verschwand er durch das Portal des Reviers.

Markus grübelte eine Weile, machte sich dann aber auf den Weg zu seinem Chef, der ihm glücklicherweise sehr aufmerksam zuhörte.
„Und Sie vermuten ein Verbrechen?"

Der junge Beamte fuhr unsicher durch seine Haare. „Ich habe keine Ahnung, aber das alles passt nicht so recht zusammen. Erst setzt die Ehefrau alle Hebel in Bewegung, um das Kind zu bekommen, und dann verschwindet sie ohne ein Wort?"
Der Dienstellenleiter dachte eine Weile nach. Auch für ihn passte in diesem Puzzle kein Teil zum anderen. Sie würden handeln müssen, sie waren verantwortlich für die Sicherheit und das Wohlergehen der Bürger dieser Stadt. Er schloss sich mit dem Leiter der Kripo, die einen Stock höher residierte, kurz. Lorenz versprach, die nötigen Schritte zu unternehmen.

„Gut gemacht, Hübner!", lobte der Chef den jungen Polizisten. „Lieber einmal etwas zu viel unternehmen als einmal zu wenig. Sie scheinen einen guten Riecher zu haben, ich werde das in meinen Unterlagen vermerken."
Markus war froh, einen Chef wie seinen zu haben. Ihm selbst ging es nicht um Lob oder Auszeichnungen, er wollte das Richtige tun. Deshalb war er Polizist geworden.

Kriminal-Hauptkommissar Lorenz Schneider überlegte eine Weile. Sein Freund hatte ihm einen Sachverhalt geschildert, der möglicherweise vollkommen harmlos war, aber ebenso auf ein Verbrechen gegen Leib und Leben hindeuten konnte.

Die Entscheidung zu handeln, traf er mehr aus einem Gefühl heraus. So schickte er zwei seiner Männer los, um in der Kanzlei vorbeizuschauen.

Kurze Zeit später erreichte ihn der Anruf, dass diese Nadja Knüppers nicht öffnete, das auf sie zugelassene Fahrzeug aber noch immer vor dem Haus parkte.
„Macht den Hausmeister ausfindig, er soll die Tür öffnen!", wies er die Beamten an.
Das konnte allerdings ziemlich peinlich werden, wenn die Frau in ihren Büroräumen übernachtet hatte, womöglich nicht alleine.


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