Kapitel 29

Der Tag schien für Ben kein Ende zu nehmen. Mia war unruhig, hatte mittags kaum geschlafen, wollte auch nichts essen. Er versuchte sie abzulenken, wollte ein paar Gehversuche mit ihr unternehmen – etwas, was sie sonst sehr liebte – doch auch dazu hatte sie keine Lust. Er begann sich eine Geschichte auszudenken, doch sie patschte zunehmend ungehalten in sein Gesicht.

Da kam er auf die Idee, Lea anzurufen, vielleicht konnte ihre Stimme die Kleine beruhigen. Doch seine Süße ging nicht ans Handy.
Als er wieder auf die Uhr sah, waren gerade mal zehn Minuten vergangen. Er machte sich einen starken Espresso, wärmte Mias Brei noch einmal auf. Sie ließ sich überreden, ein paar Löffelchen zu schlucken.

Danach fielen ihr vor Erschöpfung doch die Augen zu.

Doch bald schon schreckte sie wieder hoch, ihr Händchen suchte das von Benedikt, schlagartig verzog sich ihr Gesichtchen. Da beschloss er Nadja anzurufen. Das alles hier musste ein Ende haben.

Dann würde sie allerdings wissen, dass er ein Handy hatte! schoss es ihm durch den Kopf und er drückte schnell auf den roten Knopf. Endlich ging es auf achtzehn Uhr zu, sie würde sicher bald nach Hause kommen, würde die alten Rituale wieder aufleben lassen wollen.

Aber der Zeiger rückte weiter vor, es wurde neunzehn, zwanzig, einundzwanzig Uhr.
Machtspielchen! dachte er wütend.
Wenn sie während der nächsten Stunde nicht auftauchte, würde er ein Taxi rufen oder David bitten ihn abzuholen.
Kein Gericht der Welt würde so ein Verhalten unterstützen, wie sie es heute an den Tag legte. Das war unzumutbar für ihn und vor allem für sein Kind.

*

Lea hatte die Zeit mit Benedikt sehr genossen. Ihr zersplittertes Herz war ein kleines bisschen geheilt. Als sie ihr Handy wieder einschaltete, sah sie, dass sie einen Anruf von Ben versäumt hatte.

Sollte sie zurückrufen?
Aber wenn Nadja zu Hause war, würde das Klingeln ihn verraten. Sie sandte ihm in Gedanken ihre Liebe und hoffte, er würde sie spüren.
Kaum war sie zu Hause angekommen, als ihr Telefon sich meldete. Sie hörte sowohl seine Erleichterung, sie erreicht zu haben als auch die Anspannung in seiner Stimme.
„Ich komme gerade von Benedikt!" sprudelte es aus ihr heraus. „David hat mich zu den Pflegeeltern gebracht, und ich konnte einen ganzen Nachmittag bleiben. Es sind wirklich sehr nette Leute, ich bin glücklich, dass sie es mir erlaubt haben, den Kleinen zu sehen."

Ben freute sich unheimlich, dass Lea etwas aus ihrer Lethargie herausgekommen war. Deshalb wollte er sie nicht mit seinen Sorgen belasten. „Uns geht es auch einigermaßen gut."

Doch Lea nahm den bitteren Unterton wahr, ahnte, dass er sie nur schonen wollte. „Erzähl!" bat sie leise, und er war erleichtert, dass er ein wenig vom Ballast auf seiner Seele loswerden durfte.

„Mia ist sehr unruhig. Nichts kann sie ablenken. Sie ist einfach bodenlos sauer, glaubt wohl, ich bin schuld an allem." Seine Stimme wurde etwas fester, er schien sogar zu lächeln. Sie sprachen eine gute Stunde zusammen, trösteten sich, erinnerten sich an wunderschöne gemeinsame Zeiten, die bald auch wieder zurückkommen würden.

Danach war es für beide leichter, auf den neuen Tag zu warten, der sicher alles wieder ins Lot bringen würde.

Nach vielen Liebesschwüren beendeten sie widerwillig das Gespräch, Mia war wieder aufgewacht, schrie wie am Spieß. Kurz dachte Lea daran, einfach zu Ben zu fahren, die Kleine zu beruhigen, ihm etwas Ruhe zu verschaffen. Doch sie hatte keine Ahnung, wie sehr das die Verrückte, zu der Nadja offensichtlich geworden war, zu neuen Gemeinheiten reizen würde.

In ihrer Not rief sie David an, bat ihn, Ben zu unterstützen. Der Freund versprach, sofort loszufahren. Dagegen konnte die Hexe ja nicht wirklich etwas haben. Er war zwar selbst ausgelaugt von den Ereignissen des verrückten Tages, aber diesen Liebesdienst würde er der Familie nicht versagen.

*

Ben freute sich über alle Maßen, als er David die Haustür öffnete. Er hatte einen besonders guten Draht zu den Kindern, vielleicht konnte er Mia etwas beruhigen und ablenken. So war es dann auch. Ein Strahlen ging über das Gesicht der Kleinen, als sie den Besucher erkannte.

Für sie schien ein Teil ihrer zerbrochenen Welt wieder aufzutauchen. Nach einem Schlaflied – David konnte deutlich besser singen als Ben – fiel sie endlich in einen heilsamen tiefen Schlummer.
Dann setzten sich die Männer an den Esstisch, David berichtete ausführlich von den Ereignissen in der Firma, Ben genoss den Ausflug in die Normalität.

Als er das nächste Mal die Zeit kontrollierte, bewegte sich der Zeiger auf dreiundzwanzig Uhr zu. Langsam wurde ihm nun doch etwas mulmig.
Nadja wollte ihn, wollte ihr altes Leben an seiner Seite zurück. Da war es doch mehr als kontraproduktiv, dass sie ihn so auflaufen, so hängen ließ.
Im Kühlschrank hatte er Mengen von Gemüse entdeckt, sie hatte wohl vorgehabt, etwas zu kochen, die alten – in ihren Augen guten Zeiten – wieder aufleben zu lassen.

David verstand Bens Bedenken sofort. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
„Ich fahre nochmal hin", beschloss er und machte sich zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Weg zur Kanzlei.

Nadjas Wagen, den Ben ihm beschrieben hatte, stand auf dem reservierten Parkplatz, ein Blick nach oben zeigte David aber, dass kein Licht brannte.

Er läutete, doch keine Stimme drang aus der Sprechanlage. Er versuchte es noch ein paarmal, läutete schließlich Sturm – ohne dass eine Reaktion kam. Unschlüssig stand er vor der verschlossenen Tür.

Sollte er die Polizei anrufen?
Erst wollte er sich mit Ben kurzschließen.
„Komm erst einmal her. Ich muss nachdenken!", bat ihn sein Chef und Freund.

Als David wieder die Wohnung des Freundes erreicht hatte, war es nahe an Mitternacht. Beide Männer waren übernächtigt und blass, hatten dunkle Augenringe. David wählte Nadjas Festnetzanschluss, es läutete ewig lange durch, bis er aus der Leitung flog.
Dass sich der Anrufbeantworter nicht einschaltete, gab ihm noch mehr zu denken.

Bei ihrer Handynummer schaltete sich wenigstens die Mailbox ein, er sprach ziemlich gehetzt und unwillig eine Nachricht aufs Band. „Frau Knüppers, könnten Sie mich bitte zurückrufen?" Dass er bei Ben war, wollte er noch nicht preisgeben.

Um ein Uhr waren die zwei Freunde nahe an einem Nervenzusammenbruch. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Nadja hatte Ben gezwungen, in das ehemals gemeinsame Haus zurückzukommen, und ließ ihn dann dermaßen hängen?
Das ergab nicht den geringsten Sinn.
Ben hätte dringend Leas Zuspruch gebraucht, hätte so gerne ihre Stimme gehört, wollte sie aber nicht noch mehr verunsichern.
Vielleicht hatte sie sogar etwas Schlaf gefunden, den sie dringend nötig hätte.

Schließlich beschlossen die Männer, sich auch etwas hinzulegen. David machte sich ein Nachtlager auf der Wohnlandschaft zurecht, Ben schleppte sich zum Gästebett in Mias Zimmer.
Zum Glück schlief die Tochter tief, die Ereignisse der letzten Tage forderten wohl auch bei ihr ihren Tribut.


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