Kapitel 28

Lea bestand darauf, ihren Vater zum Anwalt zu begleiten. Es waren ihre Kinder, sie war kein zerbrechliches Püppchen, sie konnte kämpfen um das, was ihr wichtig war. Ben würde das auch von ihr erwarten, aber das war nicht der Hauptgrund.

Sie selbst erwartete das von sich.

Dr. Kai Neubert war überraschend jung, doch er schien hochprofessionell zu sein. Als Lea und Stefano bei ihm eintrafen, hatte er bereites eine Akte angelegt, mit der Leiterin der Dienststelle gesprochen, sich eine Strategie zurecht gelegt. All das beruhigte Lea ungemein. Sie unterschrieb die Vollmacht für den Anwalt, hörte sich an, wie er weiter vorgehen wollte.

„Zuerst werde ich Einspruch gegen den Beschluss der Inobhutnahme einlegen, dann diesen Hausbewohnern auf den Zahn fühlen, ihnen erklären, dass eine eidesstattliche Falschaussage keine Kleinigkeit darstellt. Danach können wir die Rückführung der Kinder in Angriff nehmen. In spätestens zwei Wochen sollten die Kleinen wieder bei Ihnen sein. Von einem Gespräch mit Frau Nadja Knüppers würde ich gerne absehen."

Da blieb Lea doch das Herz stehen. Zwei Wochen! Das erschien ihr wie eine Ewigkeit. Doch sie musste das eben hinnehmen und durchhalten.

Stefano brachte seine Tochter nach Hause, wo David schon wartete und ungeduldig Spuren in den billigen Teppich lief. Leas Vater brühte erst einmal einen starken Espresso auf, für einen Italiener ein Allheilmittel.

Währenddessen berichteten sich Lea und der Freund von dem, was in den vergangenen Stunden geschehen war. Dann verstummte Lea, ihr Blick schweifte ab.
David stupste sie an, sie kehrte in die Wirklichkeit zurück. „Meinst du, ich könnte Benedikt sehen?", fragte sie heiser. Sie versuchte ja, tapfer zu sein, doch die Sehnsucht nach ihrem hübschen Jungen nahm ihr die Luft zum Atmen. Natürlich vermisste sie auch Mia brennend, doch die Tochter hatte wenigstens ihren Vater bei sich, während ihr Sohn ganz alleine bei fremden Menschen war.

David fuhr sich nervös durch sein Haare. Konnte er es wagen, Lea zu den Reimanns zu bringen?

Gefährdete das die „Rückführung"?
Die Pflegefamilie und die Eltern sollten auf keinen Fall Kontakt aufnehmen, das hatte er schon mitbekommen.
Aber Leas Schmerz konnte er nur ganz schlecht aushalten.
„Ich ruf da mal an", erklärte er schließlich.

Holger Reimann wollte Davids Bitte kategorisch ablehnen. Er war verpflichtet, keinerlei Kontakt mit leiblichen Eltern zuzulassen, durfte nicht einmal deren Personalien wissen. Doch Benedikt hatte eine sehr schlechte Nacht gehabt, hatte kaum eine Stunde geschlafen, hatte kaum etwas gegessen und sehr viel geweint. Sein Herz und das seiner Frau war beinahe gebrochen. Was hatte man da einem kleinen Jungen angetan?

All die anderen Pflegekinder hatten ihre Zuwendung und Liebe genossen. Doch der Kleine schien nur zu vermissen. Holger wischte sich über die müden Augen, hörte, dass Benedikt schon wieder zu schluchzen begann, dass Margret versuchte, ihn zu beruhigen.
Da konnte er nicht anders, als zu antworten: „Ja, kommen Sie vorbei! Es muss ja niemand erfahren."

Schließlich war dieser David  kein Verwandter, er selbst verstieß somit  gegen keine Regeln. Dass auch die Mutter mitkommen würde, musste er vorher ja nicht gewusst haben, und er würde sie wohl schlecht draußen vor der Türe stehen lassen können.
Als Margret mit Benedikt auf dem Arm zu ihm kam, gestand er ihr, was er eben ausgemacht hatte.

Sie lächelte ihn trotz ihrer sichtlichen Übermüdung an. „Wir müssen ja nicht päpstlicher als der Papst sein."
Natürlich hatten sie sich bei den anderen Pflegekindern immer strikt an die Vorschriften gehalten, doch da war das auch mehr als notwendig gewesen. Doch bei dem kleinen Mr. Trattoni sahen sie das alles etwas anders. Er war sehr gepflegt und aufgeweckt, litt unglaublich unter der Trennung von seinen Bezugspersonen.

Kurz darauf läutete es Sturm, und schon standen David und eine auffallend schöne und auffallend junge Frau vor der Tür, die Holger öffnete.
Benedikt spitzte seine Öhrchen, als er die Stimme seiner Mutter erkannte und hüpfte aufgeregt auf Margrets Arm auf und ab.

Lea stürzte auf die fremde Frau zu, riss Benedikt in ihre Arme. Tränen des Glücks rannen über ihre Wangen, die der Kleine mit seinen Patschhändchen auffing.
„Nehmen Sie doch Platz", forderte Holger sie auf, nachdem er sie sanft ins Wohnzimmer geschoben hatte.

Margret war schon dabei, Kaffee zu kochen, und er half ihr das Tablett mit Geschirr und Kuchen zu beladen.
Als Lea bemerkte, dass dem Ehepaar immer wieder die Augen zufielen, meinte sie lächelnd: „Sie können sich gerne eine Weile hinlegen. Wenn Sie erlauben, bleibe ich so lange hier."

Dankbar zeigte ihr Margret Benedikts Zimmer und in der Küche die Babynahrung.
Bevor sie in einen erschöpften Schlaf fielen, murmelte Holger: „Irgendetwas ist da gehörig schief gelaufen."
Seine Frau konnte nur noch zustimmend brummen.

Als David sah, dass im Augenblick alles geregelt zu sein schien, beschloss er, in die Firma zu fahren. Karin und die Kollegen würden sich schon wundern, warum keiner des „Dreigestirns", wie sie oft genannt wurden, auftauchte.
Im Büro herrschte pure Aufregung. Die unersetzbare Sekretärin hatte seit Stunden versucht, Ben, Lea oder David zu erreichen.

Ein ziemlich wichtiger Auftraggeber hatte einen Termin gehabt, war nach einstündiger Wartezeit genervt abgedampft. Gefühlt hundert Anrufer hatte sie abwimmeln müssen, sie war mit ihren Nerven so ziemlich am Ende. Doch als sie David sah, seine tiefen Augenringe und die Falten um seinen Mund wahrnahm, erschrak sie fürchterlich.
„Was ist passiert?", fragte sie leise und atemlos.

Der junge Architekt ließ sich müde auf einen der Drehstühle fallen, versuchte die mentale Anstrengung der letzten Stunden aus seinen Augen zu wischen.
Dann berichtete er ausführlich von den unglaublichen Ereignissen, die seine Freunde und ihn überrollt hatten.
Karin hatte immer blasser werdend zugehört, ihr Gehirn wollte die Worte Davids verstehen, schaffte es aber nur langsam.
Als auch die letzte der fürchterlichen Tatsachen ihre Synapsen durchdrungen hatte, stieß sie einen für sie eher unüblichen Fluch aus: „Dieses verdammte Mistvieh! Warum holt sie nicht einfach der Teufel?"

David versuchte anschließend, telefonisch den Kunden zu beruhigen, familiäre Probleme seines Chefs anzudeuten, den Termin auf unbestimmte Zeit zu verschieben.
Doch der Firmenboss, der eine großzügige Familienvilla plante, war uneinsichtig. „Es gibt Architekten genug in der Stadt, die meinen Auftrag sicher gerne übernehmen werden. Richten Sie das bitte Herrn Knüppers aus. Was ich allerdings sehr bedaure, ist, dass ich die hübsche Kleine nicht mehr zu Gesicht bekomme. Wenn sie mir etwas entgegen käme, könnte ich es mir ja nochmal überlegen."

David war kurz davor zu explodieren. Diese verdammten Machos starben einfach nicht aus!
„Die hübsche Kleine ist Herrn Knüppers' Lebensgefährtin", erklärte er sehr beherrscht. „Ich glaube nicht, dass sie Ihnen in irgendeiner Weise entgegenkommen wird." Damit beendete er das unerfreuliche Gespräch, das er heute nicht wirklich noch gebraucht hätte.

Danach arbeitete er die Telefonliste ab, die Karin erstellt hatte. Hier lief es dann deutlich besser, er konnte alles klären. Kurz schob sich ein Gedanke durch seine Gehirnwindungen. „Was machen eigentlich die Herren hochbezahlten Architekten, die Ben noch beschäftigt?"

Karin rollte die Augen gegen die Zimmerdecke. „Erstens sind alle schwer beschäftigt, und zweitens wollen die Anrufer immer einen von euch Dreien!"

Ein Blick auf die Uhr zeigte David, dass es höchste Zeit war, Lea abzuholen. Schnell rief er noch auf Bens Prepaidhandy an, informierte ihn über all die Ereignisse des Nachmittags.

*

Nachdem David wutschnaubend die Kanzlei verlassen hatte, schaltete Nadja lächelnd das alte Aufnahmegerät in ihrer Schreibtischschublade aus. Sie benutzte es noch hin und wieder, um sich bei Gesprächen mit Mandanten abzusichern. Nicht ganz legal, aber es musste ja niemand mitbekommen. Sie war sehr geschickt in der Handhabung, die Tonqualität war zwar nicht die beste, aber es tat seinen Dienst.

Da hörte sie ein polterndes Trommeln an der Kanzleitür. Wütend sprang sie auf. War der Herr Jung-Architekt nochmal zurückgekommen! Jetzt würde sie ihm aber die Meinung sagen! Energisch riss sie die Tür auf.


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