Kapitel 24
Nadja saß in der Küche, wandte den Blick nicht vom Fenster, von dem aus sie die Straße und den Garagenvorplatz im Auge behalten konnte.
Heute war der Tag ...
Corinna Schnell hatte sie informiert, dass sie am Abend die Kinder aus der Familie holen würde.
‚Familie!' dachte Nadja hämisch. Ein junges Flittchen und ihr Ben.
Das war keine Familie!
Sie hatte richtig gehandelt. Er würde einsehen, dass er zu ihr gehörte. Ihr Plan, den sie akribisch durchgezogen hatte, würde gelingen. Schließlich war sie Anwältin, wusste, worauf es ankam, welche Knöpfe sie drücken müsste.
Sie hatte die Parteien im Haus aufgesucht. Der Alte im Parterre war nicht zu überzeugen gewesen, dass über ihm Sodom und Gomorrha herrschte.
„Das sind zwei ganz liebe Menschen!" hatte er gewagt, von sich zu geben. „Sie kümmern sich sehr um die beiden süßen Kinder!" Dann hatte er ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen.
Anders sah es bei der Frau aus, die über diesem Wolfgang wohnte. „Da geht es jeden Tag rund!" hatte die wütend ausgespuckt. „Die Kinder schreien die halbe Nacht, Besucher kommen und gehen, laute Musik. Wenn Sie mich fragen, nehmen die alle Drogen!" Endlich hatte sie sich mal ihren Frust von der Seele reden können.
Stocksauer war sie, weil niemand mit ihr redete, weil das junge Paar nur mit Wolfgang Kontakt hatte, dem sie hinten reinschlüpften. Wahrscheinlich machten sie sich Hoffnungen auf sein Erbe.
Nadjas Bitte, eine eidesstattliche Erklärung zu unterschreiben, kam die ältere Frau nur zu gerne nach. Endlich passierte mal etwas in ihrem Leben.
Endlich nahm sie auch mal jemand wahr.
Die Studenten im zweiten Stock waren ziemlich angetrunken, als sie der Rechtsanwältin die Türe öffneten. Ein paar Joints hatten außerdem die Runde gemacht, so dass sie gar nicht recht begriffen, was die Frau eigentlich von ihnen wollte.
Doch ein paar große Scheine machten sie sehr willig, irgendetwas zu unterschreiben, das keiner von ihnen eigentlich verstand. Nadja war sich voll bewusst, dass sie in einer absoluten Grauzone agierte, oder sogar mehr als das. Doch sie war so sehr von sich und ihrem Plan überzeugt, dass sie sich nicht allzu viele Gedanken machte. Was würde das Wort von besoffenen Kiffern gegen ihres gelten.
Blieb noch die junge Frau im dritten Stockwerk. Bei ihr hatte es geholfen, auf die Tränendrüse zu drücken. Mit ihrer Story, dass ihr Mann mit ihrem Baby zu seiner Geliebten gezogen war, als es ihr psychisch sehr schlecht gegangen war, hatte Nadja erreicht, was sie wollte.
Auch die unscheinbare Frau, die Männern alles zutraute, die sich mit der armen verlassenen Ehefrau sofort solidarisierte, unterschrieb, was Nadja ihr vorlegte.
Als sie heulend beim Jugendamt aufgetaucht war, all die „Beweise" vorgelegt hatte, hatte sie bei Corinna Schnell eine verwandte Seele getroffen.
Die Frau, die auch von ihrem Ehemann verlassen worden war, handelte, ohne die üblichen Check-up-Listen abzuarbeiten.
Sie war so überzeugt, das Richtige zu tun, dass sie auf eigene Faust die ihrer Meinung nach wichtigen Schritte unternahm.
„Gefahr in Verzug!" beschloss sie und tat, was in ihren Augen ihre Pflicht war.
Nun wartete Nadja darauf, dass die Sozialarbeiterin ihre Tochter brachte.
Sie hatte zwar keine Ahnung, was sie mit dem Kind anfangen sollte, war aber sicher, dass Ben auftauchen würde.
Mehr wollte sie ja gar nicht.
Etwas überrascht war sie dann doch, als Bens Auto als erstes ankam.
Doch er stieg nicht aus, schien auf etwas zu warten. Erst als der Polizeiwagen eintraf, sprang er aus seinem roten Flitzer und riss die Türe im Fond auf.
Nadja stand in der geöffneten Haustür, beim Brüllen des Kindes hätte sie sich am liebsten die Ohren zugehalten. Doch sie musste die fürsorgliche Mutter spielen, wenigstens heute.
Sie bedankte sich überschwänglich, mit Krokodilstränen in den Augen, bei der Sozialarbeiterin und dem jungen Polizisten, schloss die Tür hinter sich und Ben, wappnete sich auf das Zusammentreffen mit ihrem Ehemann.
Der hatte es mittlerweile geschafft, das kleine Monster zu beruhigen, hatte es auf das Sofa zwischen vielen Kissen zur Absicherung gelegt.
Dann streckte er sich, schien um Fassung zu ringen, bebte aber sichtlich vor Wut.
„Nadja!" flüsterte er beherrscht und stand Sekunden später vor ihr. Sein Gesicht war verzerrt, vor Wut, vor Angst, vor Trauer.
Betont ruhig stand Nadja auf. „Ach! Welch seltener Gast!" stieß sie süffisant hervor.
Ben versuchte sich zu beherrschen, auch wenn er im Augenblick durchaus zu einem Mord fähig gewesen wäre. Er wollte in ihr selbstgefälliges Grinsen schlagen, obwohl er einer der friedlichsten Menschen der Welt war.
Doch natürlich riss er sich zusammen.
Natürlich wusste er, dass körperliche Gewalt nichts bringen würde, im Gegenteil.
Natürlich wusste er, dass er versuchen musste, ruhig mit Nadja zu reden.
Nadja!
Der er einmal ewige Treue und Liebe geschworen hatte.
Er war sich damals so sicher gewesen, dass er diesen Schwur halten würde.
Doch es war anders gekommen, ganz anders.
Nun standen sich zwei Menschen gegenüber, die sich hassten, sich vernichten wollten.
War es seine Schuld gewesen?
Zum Teil sicherlich.
Er war feige und egoistisch gewesen, hatte sie hintergangen, betrogen, belogen. Aber viel schlimmer war, dass er schon lange vorher aufgehört hatte, sie zu lieben.
Doch Liebe brauchte nun einmal Nahrung, sonst verdorrte sie.
Er war zufrieden gewesen mit seinem Leben an ihrer Seite, aber nicht mehr glücklich.
Aber er hätte kämpfen müssen.
Um sie.
Seine Ehe.
Vielleicht auch seine Liebe.
Vollkommen wirr schossen ihm diese Gedanken durch seinen Kopf, als er ihr in der überdimensionierten Küche gegenüberstand.
Doch hier und heute, an diesem Punkt, an dem sie nun einmal angekommen waren, ging es nur noch um Mia – und natürlich um Benedikt.
Sie waren das, was zählte.
„Warum?" stieß er hervor und versuchte, die Tränen wegzublinzeln, die Nase frei zu schniefen.
Nadjas Blick wurde noch teuflischer. Sie wusste, sie hatte ihn da, wo sie ihn haben wollte. Gebrochen, ihr ausgeliefert um der Tochter willen.
„Weil ich es kann!" antwortete sie, und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
Er ließ sich auf einen der hochmodernen Küchenstühle fallen. Ein Gedanke an Leas Wohnung blitzte in ihm auf. Dort war er zu Hause, dort war Heimat, Geborgenheit, Liebe, Familie.
Hier, in seinem ehemaligen Heim, war nur noch Kälte.
„Und, wie stellst du dir das vor? Mia kennt dich nicht, du kennst sie nicht, du kannst sie nicht lieben, nicht für sie sorgen!" Er redete um sein Leben.
„Deshalb wirst du ja hierbleiben!" stieß sie hervor, und der vermeintliche Triumpf stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Ben lachte bitter auf. „Du bist verrückt! Vollkommen verrückt!"
„Ach ja? Und einer Verrückten kannst du deine heilige Tochter ja nicht ausliefern, oder?" Sie setzte sich auf den Stuhl neben ihm, sehr nah, zu nah.
Ihr Parfüm stieg ihm in die Nase, ein Duft, den er einmal sehr gemocht hatte. Doch heute brachte er ihn zum Würgen.
Er zwang sich dazu, nicht aufzuspringen, das Fenster aufzureißen, frische Luft in seine Lungen zu pumpen.
Er zwang sich, sitzen zu bleiben, ihre Nähe zu ertragen.
„Ich gehöre zu Lea!" flüsterte er. „Ich habe auch einen Sohn!"
„Du hast noch einen Bastard gezeugt!" keifte sie ihn an. „Um den kann das blonde Püppchen sich schon allein kümmern. Du zahlst, was du zahlen musst. Damit wird sie zufrieden sein."
Ben schwirrte der Kopf. Glaubte sie allen Ernstes, dass er Lea und Benedikt verlassen würde, weil sie diese grausame Intrige eingefädelt hatte?
Doch er musste erst einmal Schritt für Schritt gehen, heute würde er sicher nichts mehr an dieser verfahrenen Situation ändern können.
„Wo soll Mia denn schlafen? Hast du etwas zu essen für sie? Windeln? Kleidung?" fragte er und fühlte sich um Jahre gealtert.
Wieder überzog dieses überhebliche Grinsen ihr feistes Gesicht.
Natürlich hatte sie alles perfekt vorbereitet! Was dachte er denn? Sie hatte ja fest damit gerechnet, dass die Sozialarbeiterin die Wohnverhältnisse überprüfen würde. Aber die hatte es sehr eilig gehabt, war sichtlich mit ihren Nerven am Ende gewesen.
„Schau halt nach!" knallte sie ihm hin. Er schleppte sich ins Kinderzimmer, war dann doch etwas angenehm überrascht. Tatsächlich war der Raum wieder vollkommen möbliert, das Schränkchen voll mit Babysachen und sogar Spielzeug.
Das hatte er so jetzt nicht erwartet. Doch gleichzeitig mit dem guten Gefühl stieg panische Angst in ihm hoch. Sie schien sich auf einen längeren Aufenthalt Mias in diesem Haus eingestellt zu haben. Was natürlich auch bedeutete, dass er bleiben musste.
In seinem Kopf drehte sich ein Mühlrad von Sorgen, doch er wusste, dass er heute nichts mehr geändert bekam.
Er war todmüde, vor seinen Augen flimmerte es.
Er würde jetzt noch Mia versorgen und dann ein paar Stunden schlafen.
Schlafen? dachte er. Wo?
Auf seine Frage antwortetet Nadja ungerührt: „In unserem Ehebett! Wo sonst?"
Fassungslos sah er sie an, konnte nur noch den Kopf schütteln. Er zog und schob das Gästebett aus dem Arbeitszimmer ins Kinderzimmer, machte dabei ziemlich viel Krach, Mia wachte auf, begann zu brüllen, Nadja brüllte das Kind an, das sich vor Schreck verschluckte und nach Luft japste, bis Ben seine Tochter beruhigend auf den Arm nahm und ihr über den Rücken strich.
Warum wach ich denn nicht auf? brüllte es in ihm.
„Ich geh jetzt ins Bett!" kündigte Nadja zu seiner großen Erleichterung an. „Ich habe morgen einen wichtigen Termin."
Sie streckte die Hand in seine Richtung. „Gibst du mir bitte dein Handy?" Ihr zuckersüßer Ton passte nicht zu den eiskalten Augen. „Den Festnetzanschluss habe ich übrigens abgemeldet."
Gottergeben hielt er ihr sein Smartphone hin, hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren.
Als sie endlich weg war, als seine Frau – an dieser Bezeichnung erstickte er fast so sehr wie an der: Mutter seines Kindes – aus seinem Sichtkreis verschwunden war – sah er in den Küchenschränken nach, ob es Babynahrung gab.
Wieder überraschte ihn das große Angebot, das er fand, und es war sogar altersgerecht. Er machte einen Brei warm, fütterte Mia, wickelte sie und legte sie in das fremde Bettchen. Sie sperrte sich, als ob sie ihm klarmachen wollte, dass sie ohne ihren Bruder gar nicht daran dachte, hier zu schlafen.
Doch nach einer ganzen Weile siegte die Erschöpfung gegen ihren starken Willen, der Tag war auch für die Kleine sehr anstrengend gewesen.
Ben sank auf dem Gästebett zusammen, versuchte sein Herz, das nach Lea und seinem Sohn schrie zu beruhigen. Versuchte sich nach Hause zu träumen, dem einzigen Zuhause, das er noch hatte und noch wollte.
Wie ging es Lea?
Wohin hatten sie Benedikt gebracht?
Er hoffte so sehr, dass David für die Mutter seiner Kinder da sein würde.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top