Kapitel 23


David ging ins kleine, auch ziemlich überfüllte Kinderzimmer. Sie hatten zwar das zweite Bettchen in die Firma gebracht, da die Kinder nicht zu überzeugen gewesen waren, getrennt zu schlafen. Doch dafür hatten sie eine sichere Wickelkommode aufgebaut, im Bad auf der Waschmaschine war es zu eng geworden.

Ohne lange nachzudenken oder gar Gefühle zuzulassen, schnappte er sich die beiden Tragetaschen und zwei kleine Köfferchen, packte das Nötigste hinein, brachte alles zurück. Ben war entsetzt, dass es Wahrheit werden sollte, aber auch dankbar, dass der Freund gehandelt hatte.

Lea bekam nicht viel mit. Wie paralysiert saß sie auf dem Sofa, starrte ins Leere.

Meine Kinder! Meine Kinder! schrie es unaufhörlich in ihrem Kopf.

Ben wollte zu ihr, sie in seine Arme reißen, ihr versichern das alles gut werden würde, dass alles ein schrecklicher Irrtum war, doch der junge Polizist stellte sich ihm in den Weg.

David hatte die Babys in die Tragetaschen gepackt, Corinna und Markus fassten nach den Griffen.

Doch Ben und David waren schneller. Jeder trug eines der Kinder nach unten, die Sozialarbeiterin und der Polizist folgten.

Als die Wohnungstüre ins Schloss fiel, schreckte Lea aus ihrer Trance hoch, sah sich mit aufgerissenen Augen in dem plötzlich so leeren Wohnzimmer um.

Sie sprang hoch, raste in den Flur, riss die Türe auf und schrie ins Treppenhaus: „Mein Kinder! Lasst mir meine Kinder!"

Ben und David fühlten diesen Schmerz eines verwundeten Muttertieres so tief, dass sie wussten, diese Wunde würde nie mehr heilen.

Die Frau, die unter Lea wohnte, riss ihre Türe auf. „Was ist denn heute schon wieder los?" fauchte sie. Die jungen Leute über ihr waren ihr schon lange ein Dorn im Auge. Die Studentin war ja noch erträglich gewesen, ihr früherer Freund war auch eher ruhig gewesen. Aber seit der weg war, war es bei der Kleinen immer schlimmer geworden. Laute Musik, die halbe Nacht lang ausbleiben, wechselnde Männerbekanntschaften. Schwanger war sie natürlich auch noch geworden, erst war ein Kind da, plötzlich ein zweites und ein Mann, Möbel wurden hin und her gerückt, Besuch ging ein und aus.

Lautes Lachen die halbe Nacht, dann schrien die Kinder wieder.

Dass die jungen Leute ihr immer mit den Einkäufen geholfen hatten, ihr auch mindestens einmal in der Woche etwas von dem leckeren italienischen Essen gebracht hatten, vergaß sie natürlich, als die Anwältin sie besucht hatte.

Lea sprang wie eine Furie auf die Frau zu. „Haben Sie diese Lügen über uns erzählt?" schrie sie, fassungslos darüber, dass Menschen einander so etwas antun konnten. Schnell schloss die Nachbarin die Tür.

Womöglich stand das Mädel unter Drogeneinfluss! Man las ja über schrecklichsten Sachen, die alten Menschen passierten.

Lea sank weinend auf dem Treppenabsatz zu Boden. Sie hatte keine Kraft mehr.

Nicht in den Beinen, nicht im Kopf – sogar die Arme waren zu kraftlos, um sich an dem alten, wackligen Holzgeländer hochzuziehen.
Walter hat doch versprochen, es festzuschrauben! schoss es ihr durch den Kopf, und sie begann, hysterisch zu lachen, als ihr die Absurdität dieses Gedankens zu Bewusstsein kam.

Ihr Vater zog sie hoch, hielt sie fest in seinen Armen. Auch sein Herz blutete, wie sie verstand er die Welt im Augenblick nicht.

Ihre eher pragmatische Mutter hatte inzwischen Baldriantee gekocht, den Lea zwar verabscheute, aber dennoch mit Todesverachtung hinunterwürgte.

*

In der engen Gasse luden die Sozialarbeiterin und der Polizist die beiden Tragetaschen in den Fond des Streifenwagens, schnallten sie ordnungsgemäß fest. Ben wurde da erst bewusst, dass sein eigener Wagen im Parkhaus stand, dass die beiden wohl nicht warten würden, bis er ihn geholt hatte.

Kaum zu einem klaren Gedanken fähig, fuhr er immer wieder durch seine Haare, die schon ziemlich durcheinander waren.

Die junge Apothekenhelferin, mit der sie sich ein wenig angefreundet hatten, machte gerade Pause und genehmigte sich vor der Türe eine Zigarette. Sie sah die etwas seltsamen Gruppe verwundert an, bemerkte Bens konfuses Verhalten. David, mit dem sie während der letzten Wochen immer wieder ein Lächeln und ein paar Blicke ausgetauscht hatte, schien dagegen ziemlich ruhig und beherrscht zu sein.

Barbara trat zu ihm, deutete auf die Szene, die sich gerade abspielte. „Was ist denn da los?" fragte sie ziemlich verunsichert. Da hörte sie eines der Babys des jungen Paares im Auto leise wimmern, das zweite stimmte ein, das Wimmern ging über in schluchzendes Weinen.

David wurde nun auch nervös. Die Kleinen merkten, dass ihnen etwas ganz und gar nichts Gutes widerfuhr.
„Die holen die Kinder ab!" stieß er hervor. „Bringen Mia zu ihrer Mutter und Benedikt in eine Pflegefamilie!" Während er die Sätze aussprach, wurde ihm der Wahnsinn dieser Aktion noch bewusster.

In Barbaras Gehirn fügten sich ein paar Puzzleteilchen zusammen. „Da war vor einiger Zeit eine etwas korpulente Frau in der Apotheke. Die hat so seltsame Fragen nach den Kindern gestellt. Ob sie viel weinen, ob sie gepflegt aussehen, ob Ben und Lea spät mit ihnen nach Hause kommen und so Zeug. Ich hab nix geantwortet, ihr gesagt, sie soll verschwinden." Plötzlich wurde sie blass und schlug sich an den Kopf. „Ich hätte das Ben und Lea erzählen müssen!"

„Mach dir keinen Vorwurf!" beruhigte David sie. Aber es wurde immer klarer für ihn, wie Nadja das alles absolut perfide in die Wege geleitet hatte.

Corinna wurde immer ungeduldiger. Sie mussten los, die Kinder würden bald zu brüllen beginnen, wie Kinder das eben machten, und sie würde das in einem Auto aus zwei Kehlen nicht aushalten können.

David, dessen Kleinwagen um die Ecke eine Lücke gefunden hatte, lief los. Er würde Benedikt, sein Patenkind, nicht einer unbekannten Pflegefamilie ausliefern.
„Ich muss zu Nadja! Ich kann Mia nicht mit ihr allein lassen!" schluchzte Ben.

„Ich fahr dich zum Parkhaus!" bestimmte Barbara und schloss kurzerhand die Apotheke zu. Ihr Auto parkte im kleinen Hof hinter dem Haus. Schnell schickte sie ihrem Chef eine Textnachricht, dass sie einen familiären Notfall hätte, was ja durchaus richtig war. Er musste ja nicht wissen, innerhalb welcher Familie der stattfand. Er wohnte nur eine Straße weiter, wäre sicher schnell hier.

Mit zitternden Händen drückte Ben auf den Auslöser für die Fernbedienung, als sie bei seinem Wagen angekommen waren, wischte sich die Augen trocken. Er musste sich zusammenreißen, musste stark sein für Mia, für Benedikt und natürlich für Lea, die im Moment wohl durch die Hölle ging.

Bewusst konzentrierte er sich auf den Verkehr, der zum Glück nicht mehr sonderlich stark war. Vor seinem ehemaligen Zuhause parkte er erleichtert darüber, heil angekommen zu sein, ein. Doch sein Magen krampfte, sein Herz raste.
Er sollte aussteigen, sollte mit Nadja reden, bevor die anderen eintrafen. Aber er hatte wirklich Angst, die Nerven zu verlieren, seiner Noch-immer-Ehefrau etwas anzutun. Es wäre wohl besser, im Auto zu warten.

*

David folgte dem Polizeiwagen, war etwas verwundert, dass die beiden das widerstandslos duldeten. Aber wahrscheinlich war ihnen klar geworden, dass sie ihn nicht loswerden würden, ohne ihn mit Handschellen an den nächsten Laternenpfahl zu fesseln.

Die Fahrt dauerte eine ganze Weile, führte in einen der Vororte Regensburgs. Vor einem Einfamilienhaus in einem der Neubaugebiete hielt der Streifenwagen schließlich an. David hörte das Schreien der zwei Süßen schon, als er aus seinem Wagen sprang.

Als Benedikts Tasche endlich losgeschnallt war, nahm er den Kleinen auf seinen Arm, um ihn zu beruhigen. Das brachte Mia allerdings dazu, noch heftiger zu brüllen, da ihr Bruder sie alleine gelassen hatte. Auch keine Mama und kein Papa waren da.

Corinna Schnell war am Rande eines Nervenzusammenbruches, der junge Polizist nicht viel davon entfernt.

Die Tür des gepflegten Hauses öffnete sich, ein Mann in den Vierzigern trat ins Licht der Außenlaterne, ging auf die Gruppe von überforderten Menschen zu.

„Sie sind spät!" war seine nicht sehr freundliche Begrüßung für Frau Schnell.

„Es gab Komplikationen!" wehrte die sich.
„Wenn man mitten in der Nacht Kleinkinder aus einer Familie reißt, wird das nicht ohne Komplikationen abgehen!" konterte Holger Reimann.

Er und Margret, seine Frau, hatten zwar zugestimmt, dieses Pflegekind aufzunehmen, aber bei ihrem Besuch zum Vorgespräch hatte Corinna Schnell die Akte auf dem Tisch liegen lassen, als sie auf die Toilette musste. Natürlich hatte sie beide so schnell wie möglich diese gesammelten Aussagen, die gegen das junge Paar sprachen, gelesen. Danach waren sie überzeugt, dass hier eine Fehlentscheidung des Jugendamtes vorlag.

Das Ganze hatte von vorherein wie ein Rachefeldzug einer verlassenen Ehefrau auf sie gewirkt. Sie hatten viel Erfahrung mit Pflegekindern, hatten sich bereit erklärt, den kleinen Jungen aufzunehmen, um zu verhindern, dass er in eine schlechter geeignete Familie kam.

„Sie sind der Vater?" wandte er sich mitfühlend an David.

„Der Patenonkel!" stellte der richtig. „Der Vater muss sich um die Tochter kümmern!"

Holger erinnerte sich, dass es da auch noch ein Mädchen gab, im gleichen Alter wie der Junge, der sich mittlerweile schreiend auf Davids Armen wand.

Es schienen etwas konfuse Familienverhältnisse zu sein, aber das mussten die Eltern unter sich ausmachen.
„Kommen Sie rein!" wandte er sich wieder an David, der erleichtert war, nicht weggeschickt zu werden.

„Und Sie bringen das Mädchen endlich mal wohin, wo es zur Ruhe kommen kann!" forderte er die Sozialarbeiterin auf, die daraufhin dankbar in das Polizeiauto einstieg.

Eigentlich sollte sie sich ja darum kümmern, dass Benedikt gut untergebracht würde, aber sie kannte die Reimanns. Da würde alles klappen.

Markus startete entnervt den Wagen. Das Mädchen hinten brüllte mittlerweile wie am Spieß, und er überdachte ernsthaft seinen Wunsch, mit seiner Freundin eine Familie zu gründen.

Wahrscheinlich wäre sie sowieso bald seine Ex-Freundin. Er hatte sie heute gebeten, zu ihm zu kommen, nun saß sie wohl wartend im Wohnzimmer, wäre wieder einmal angefressen, weil er sich so massiv verspätete. Zum Glück hatte er ihr letzte Woche einen Schlüssel gegeben, nachdem sie ihm eine ziemliche Szene gemacht hatte, weil sie eine halbe Stunde vor der Türe auf ihn hatte warten müssen.

David betrat mit dem brüllenden Benedikt auf dem Arm das Haus, in dem der Junge die nächsten Tage leben sollte.
Warum auch immer.

Eine kleine zierliche Frau stellte sich ihm als Margret vor. Er war sehr erleichtert, dass es sich bei dem Ehepaar um sympathische Menschen handelte, die es auch noch zuließen, dass er bei seinem Patenkind blieb.

*

Die Zeit schlich dahin. Ben war mit den Nerven vollkommen am Ende, als endlich der Polizeiwagen in der Straße auftauchte, hinter ihm anhielt.

Er sprang aus seinem Wagen, lief auf das Auto zu, in dem sich seine kleine Tochter befand. Der Schmerz wegen Benedikt nahm ihm fast den Atem, aber er wusste, dass er sich auf David verlassen konnte.

Mia schrie wie am Spieß, als er die Autotür aufriss. Was für ein Wahnsinn! schoss es ihm durch den Kopf. Zwei Babys mitten in der Nacht aus ihrem Leben zu reißen!

Er nahm seine Tochter auf den Arm, versuchte, sie etwas zu beruhigen.
In der Türe des Hauses, das er so voller Glück und Zuversicht auf die Zukunft mit Nadja entworfen hatte, stand seine Noch-Ehefrau und hatte ein diabolisches Grinsen im Gesicht.

Er war gekommen! Ben war gekommen, um seinen Augenstern zu bewachen.

Jetzt hatte sie ihn in der Hand. Er würde bleiben, sie wusste es genau. Sie würde ihre Bedingungen diktieren, und er würde sie erfüllen. Musste sie erfüllen, weil er war, wie er war.

Ben, der Übervater!

Corinna und Markus begrüßten die Mutter, die nun endlich ihre heißgeliebte Tochter zurückbekommen würde. Die Sozialarbeiterin hatte größtes Mitleid mit der Frau, der man einfach ihr Kind weggenommen hatte.

So ein kleines Kind gehörte zur Mutter. Hier würde die Kleine es gut haben. Ein großes Haus in einer ruhigen Wohngegend. Nicht so eine beengte Altstadtwohnung. Mit einem total überforderten Pärchen, das sich nicht ordentlich um die zwei Kinder kümmern konnte oder wollte.

Sie war zufrieden mit sich und dem Job, den sie gemacht hatte.

Und sie hatte keine Ahnung, wie falsch sie lag.


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