Kapitel 22
David war zu Besuch, Leas Eltern hatten Essen vorbeigebracht, sich auf die kleine Couch gequetscht, Karin war nach einem Stadtbummel auf einen Sprung vorbeigekommen. Die Kinder genossen die ganze Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwurde. Alle lachten, schlemmten, tranken ein Glas vom teuren Rotwein, den Stefano spendiert hatte.
Die Stimmung war ausgelassen, die enge Wohnung erfüllt von purem Glück, als die Türglocke anschlug.
Ben, der gerade Lea abgeknutscht hatte, löste sich unwillig und sah sie fragend an.
„Erwartest du noch jemanden?"
„Ich? Nicht dass ich wüsste!"
Er stemmte sich hoch, streckte seine langen Beine durch. Es wurde wirklich Zeit, dass sie bequemere Sitzmöbel bekamen. Er war schließlich nicht mehr der Jüngste.
Aber im neuen Haus, das sie planten, würde Platz dafür sein.
Beschwingt, mit sich und der Welt vollkommen im Reinen, drückte er auf den Öffner für die Haustüre, wartete, dass, wer auch immer so spät noch etwas von ihnen wollte, die Stufen heraufkam. Lea hatte er eingeschärft, dass sie immer erst über die Sprechanlage nachfragen sollte, wer unten stand.
Doch er unterließ diese Vorsichtsmaßnahme meistens.
Umso erstaunter sah er den Polizeibeamten, der um die letzte Treppenwindung kam, gefolgt von einer untersetzten Dame mittleren Alters, die etwas außer Atem gekommen war.
Der Schreck fuhr ihm in die Glieder.
Polizei?
War etwas passiert?
Mit Nadja?
Er war ja offiziell hier gemeldet, aber seine Frau und er waren noch nicht geschieden.
Fragend sah er von dem Polizeibeamten zu der Fremden. Die fummelte in ihrer Handtasche herum, zog ein gefaltetes Blatt hervor, schüttelte es kurz, damit es sich öffnete.
Doch sie zeigte es Ben noch nicht. „Sind Sie Ben Knüppers, Ehemann von Nadja Knüppers, Vater des Kindes Mia Knüppers?" fragte sie leiernd und vollkommen emotionslos.
Ben hatte nicht die geringste Ahnung, was diese Fragen bedeuten sollten, doch sein Magen zog sich zusammen, der Schweiß ließ seine Hände feucht werden. Lachen klang vom Wohnzimmer ins Treppenhaus, wo die drei noch immer standen. Die Kinder kieksten und brabbelten vor Vergnügen.
Die Frau verzog ihr feistes Gesicht. „Da geht es ja hoch her! Um zehn Uhr nachts! Mit zwei Babys!"
Ben wurde erst rot, dann blass. Das klang nicht gut! Was ging die Frau das an?
„Mein Name ist Corinna Schnell. Ich komme von der Kindernothilfe des hiesigen Jugendamtes. Uns liegen zahlreiche Hinweise auf Kindeswohlgefährdung in zwei Fällen vor. Wir sind hier, um Benedikt Trattoni und Mia Knüppers abzuholen."
Endlich gab sie das amtliche Schreiben an Ben weiter, doch der Schock hatte ihn so gelähmt, dass er nicht in der Lage war, auch nur einen Buchstaben zu entziffern.
Der Polizist, der sich als Markus Hübner vorstellte, ergriff das Wort: „Geben Sie bitte den Weg frei."
Wie betäubt trat Ben zur Seite, der Beamte und die Sozialarbeiterin folgten den Stimmen, die noch immer so fröhlich klangen, ins Wohnzimmer.
Da erwachte Ben aus seiner Trance, überholte die beiden ungebetenen Gäste, schob sich schnell durch die Türe, stellte sich schützend vor Lea und die Kinder.
„Die wollen unsere Kinder abholen!" stieß er heiser hervor, noch immer unfähig zu verstehen, was hier ablief.
Die Erwachsenen erstarrten, die Kinder schienen die Spannung zu fühlen, verzogen die Gesichtchen.
David sprang auf, hatte als erster seinen kühlen Kopf zurückbekommen. „Was wollen Sie?" fragte er die Frau scharf.
Der Polizist trat vor Frau Schnell. „Ganz ruhig!" fuhr er David an. „Wir sind befugt zu dem, was wir tun müssen!"
„Ruhig?" konterte der. „Sie kommen mitten in der Nacht in die Wohnung eines unbescholtenen Paares und erzählen etwas von Kindern mitnehmen und erwarten, dass wir ruhig bleiben?"
Corinna Schnell hatte sich rasch ein Bild von der Situation gemacht, das sich hervorragend einfügte in die Vorstellung, die sie von den Umständen hier durch zahlreiche Berichte gewonnen hatte. Laut feiernde Erwachsene, wahrscheinlich alkoholisiert, den Gläsern auf dem Tischchen nach zu schließen, dazwischen zwei kleine Kinder, die schon längst im Bett sein sollten. Ein vollkommen mit Möbeln überfüllter Raum, nicht im Geringsten passend für eine vierköpfige Familie.
Ben hatte Mia auf den Arm genommen, die jeden Moment zu weinen anfangen würde, so wie sie die kleinen Lippen verzog. Danach würde Benedikt mit einstimmen, wie immer, zur Unterstützung der Schwester.
Ben atmete tief ein, versuchte seine Gedanken zu ordnen, versuchte herunterzukommen, versuchte stark zu sein, für Lea und die Kleinen.
„Erklären Sie uns bitte die genauen Umstände!" bat er gefasst.
Corinna war froh, dass die Situation sich zu entspannen schien. Sie musste ihren Job machen.
„Uns liegen eine Reihe von eidesstattlichen Erklärungen vor, dass hier ganze Nächte lang gefeiert wird, während Kinder wie am Spieß schreien. Frau Nadja Knüppers hat außerdem Anzeige gegen Ben Knüppers wegen Kindesentzug gestellt, die Ihnen in den nächsten Tagen zugestellt wird. Deshalb werden wir Mia zu ihrer Mutter bringen, wo sie wohl besser aufgehoben ist als hier!" Sie ließ ihren Blick abwertend über das Zimmerchen schweifen. „Benedikt werden wir vorerst in einer Pflegefamilie unterbringen, bis zur Klärung der Sachlage. Ich rate Ihnen dringend, sich anwaltliche Unterstützung zu suchen."
Im Zimmer war es mucksmäuschenstill geworden, alle schienen sogar das Atmen vergessen zu haben.
In Lea stieg etwas wie ein hysterischer Lachanfall hoch, den sie mit Mühe und Not hinunterschluckte.
Worte schwirrten wie böse Monster durch ihren Kopf.
Jugendamt ...
Inobhutnahme ...
Pflegefamilie ...
Kindsentzug ...
Kindeswohlgefährdung ...
Mia ...
Nadja Knüppers ...
Sie musste doch aus diesem Albtraum aufwachen!
So etwas geschah doch nicht wirklich!
Nicht ihnen!
Sie atmete gegen eine Panikattacke an, Ben strich ihr beruhigend über den Kopf.
Das würde sich klären lassen – alles.
Sie waren doch keine asoziale Familie, denen man Kinder wegnehmen musste, um sie zu schützen.
Es war ihm vollkommen klar, dass sie das alles hier einem Rachefeldzug Nadjas zu verdanken hatten.
Als Anwältin hatte sie genau gewusst, wie sie vorgehen musste, um ihnen größtmöglichen Schaden zuzufügen.
Als Erster fand David seine Sprache wieder. Ein Gedanke, eine Erinnerung war in seinem Kopf aufgeblitzt, und er griff nach seinem Handy.
Sofort stand der Beamte neben ihm, als wäre er ein Schwerverbrecher unter Polizeiaufsicht.
„Was machen Sie?" blaffte er David an.
Dem riss langsam der Geduldsfaden. Hatte der Typ nichts anderes zu tun als hier in dieser absolut friedlichen Wohnung den Bullen raushängen zu lassen?
„Ich hole meine Uzzi aus dem Handy!" schoss er zurück. „Ist unter Werkzeuge abgespeichert!"
Währenddessen suchte er in der Galerie nach bestimmten Fotos. Er musste eine ganze Weile lang wischen, Ordnung auf dem Smartphone zu halten war nicht so sein Ding.
Endlich hatte er die Aufnahmen gefunden. Er klickte das erste Bild an, das Nadja zeigte, die betrunken und halb nackt auf dem Sofa hing – damals, als sie Bens und Mias Sachen abgeholt hatten.
Er bereute es beinahe, dass er kein Video aufgenommen hatte.
Das Handy hielt er Corinna unter die Nase. „Hier! Bei dieser Frau soll Mia besser aufgehoben sein?"
Die Sozialarbeiterin zeigt keine Regung. „Wir haben uns natürlich ein eigenes Bild von den Lebensumständen der Mutter gemacht!" erklärte sie schnippisch.
„Mutter!" Lea konnte sich diesen hämischen Zwischenruf nicht verbeißen. „Sie hat Mia wohl oder übel zur Welt gebracht, nachdem sie Ben in die Babyfalle gelockt hat! Aber eine Mutter ist sie sicher nicht!"
Frau Schnell verlor langsam die Geduld. Diese Diskussionen führten zu gar nichts. Es gab einen Eil-Beschluss vom Familiengericht, den sie auszuführen hatte. „Ben Küppers hat das Kind der Mutter entzogen, als es der nach der Geburt, sicher auch hormonell bedingt, schlecht ging. Er hat die Schwäche seiner Frau rücksichtslos ausgenützt, und Mia hierhergebracht!" Bei ihren letzten Worten sah sie sich wieder naserümpfend um.
Leas Eltern verfolgten alles fassungs- und sprachlos. Gut, viel Platz war hier in der Wohnung nicht, aber die Kinder waren tagsüber sowieso immer mit in Bens Firma. Aber sie wollten das nicht ansprechen, womöglich wäre das auch gegen die jungen Leute verwendet worden.
Corinna wollte das alles hier zu Ende bringen. „Packen Sie jetzt endlich ein paar Sachen für die Kinder ein. Ich werde handeln, wie ich verpflichtet bin, es zu tun. Wir können noch eine Stunde weiter diskutieren, es wird nichts ändern." Sie wurde ziemlich ungeduldig.
Lea schüttelte den Kopf. Niemals würde sie ihren Sohn dieser Frau in die Hände geben, die ihn zu einer fremden Familie bringen würde.
Und eben so wenig würde sie ihre Tochter dieser Verrückten ausliefern, die noch immer Bens Frau war.
Da hatte Stefano eine Idee. „Können wir die Kinder nicht zu uns nehmen? Wir haben viel Platz und Zeit!" schlug er vor. Lea sah einen Hoffnungsschimmer an dem heute so verdammt dunklen Himmel ihrer Zukunft. Flehend sah sie die fremde kühle Frau an. „Das wäre doch eine Lösung?" flüsterte sie leise und den Tränen nah.
Doch Corinna winkte ab.
Der Polizeiobermeister verdrehte die Augen. Er hatte Feierabend, schon eine ganze Weile, wollte nach Hause zu seiner Freundin. Er hatte zugestimmt, diesen Auftrag noch zu begleiten. Kinder lagen ihm sehr am Herzen, zu viele Vernachlässigungen in kaputten Familien hatte er schon erleben müssen.
Hier hatte er so seine Zweifel, aber er konnte gegen einen Gerichtsbeschluss nichts ausrichten. Es war auch nicht sein Job, mit Frau Schnell zu diskutieren.
Schärfer, als es der Situation angemessen war – auch um seine eigene Unsicherheit zu überspielen – forderte er die Eltern auf, sich dem Beschluss zu beugen, endlich den Aufforderungen der Sozialarbeiterin zu folgen.
Ben verstand, dass ihre Argumente nichts zählten gegen den Wisch, den er noch immer fassungslos in Händen hielt. Aber Mia allein zu Nadja zu lassen, das käme nicht infrage. Andererseits konnte er auch Lea nicht allein lassen, wenn die beiden Benedikt wirklich mitnehmen würden.
Er wusste nicht, was er machen sollte, war vollkommen überfordert, emotional und intellektuell. Ein Blick Leas traf ihn mitten ins Herz. Tu was! baten ihre Augen. Er war sich vollkommen bewusst, dass er schuld war an allem.
Er hatte sie schon einmal enttäuscht und allein gelassen, weil er feige gewesen war. Sie hatte ihm verziehen, überraschend schnell verziehen.
Hatte ihn vergessen lassen, dass da Nadja war.
Noch immer seine Frau, noch immer mit Macht über ihn, wenn auch nur durch seine Tochter. Vorsichtig nahm er sie in die Arme, voller Hoffnung, dass sie noch einmal verstehen und verzeihen würde.
Der pragmatische David rettete die Situation.
„Okay, Leute! So kommen wir nicht weiter!" ergriff er das Wort. „Ben fährt mit zu Nadja, ich zu der Pflegefamilie. Stefano und Birgit bleiben bei Lea. Morgen werden wir sofort zu einem Anwalt gehen, werden herausbringen, welche angeblichen Beweise es gibt, die so eine krasse Handlungsweise rechtfertigen. Dann bekommen wir Benedikt und Mia zurück, Ben versucht eine schnelle Scheidung durchzuziehen und das alleinige Sorgerecht für Mia zu bekommen. Das wird alles nicht von heute auf morgen passieren, aber wir müssen endlich handeln."
Corinna war erleichtert, dass der junge Mann die Nerven behielt, dass es endlich vorwärts ging.
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