Kapitel 19
Am nächsten Tag versuchten sie, das Chaos in der Wohnung in Griff zu bekommen. Er hatte sich in der Nacht auf den Wegen ins Bad ein paar blaue Flecken geholt, eine Zehe blutig geschlagen, aber alles stoisch ertragen.
Lea räumte einen Teil ihres Kleiderschrankes leer, um für seine Klamotten Platz zu machen.
Es war eines der schönsten Gefühle der Welt für ihn, als er seine Anzüge neben ihre Kleider hängte.
Das hätte ich schon vor Monaten gerne gemacht! dachte er. Sie stapelten Kartons aufeinander, bauten Mias kleinen Schrank auf, sahen sich um. Viel mehr Platz hatten sie nicht geschaffen, aber ein paar Wege waren etwas entschärft worden.
Beim Frühstück sprach Ben dann über die Zukunft. Zum ersten Mal hatten sie eine Zukunft, über die sie sprechen konnten.
„Wie weit bist du mit dem Studium? Hat die Schwangerschaft dich ausgebremst?" fragte er und streichelte zärtlich ihre Finger.
„Nein, gar nicht! Anfangs lief es ja noch normal. Als ich immer unförmiger wurde, hat David mir alles gebracht. Die letzte Prüfung habe ich zu Hause unter Aufsicht des Prof gemacht, jetzt fehlt mir noch ein Schein, und dann mache ich das Schlussexamen. Höchstens ein Semester noch, dann bin ich Diplom-Architektin und Diplom-Ingenieurin Hochbau."
Ben schwirrte der Kopf, er brachte den Mund nicht mehr zu. „Was? Du bist 23!"
„Na ja, dann 24!" antwortete sie lächelnd. „Ich war schon immer ziemlich schnell!"
„Schnell? Du dürftest eine der Jüngsten sein mit diesem Abschluss!" Er schüttelte den Kopf. Da hatte er ja einen Fang gemacht!
Oder vielleicht eher: Da hatte ihn eine eingefangen! dachte er und schmunzelte vor sich hin. „Nur zur Sicherheit: Und die Diplomarbeiten hast du im Kindergarten geschrieben?"
„Nein, die hatte ich gerade abgegeben, eine Woche, bevor ich dich angebaggert habe!" Sie grinste ihn frech an.
Das konnte er auch! Frech grinsen! Und er fühlte sich so wunderbar dabei! So frei! So jung! So verknallt!
Er zog sie auf seinen Schoß und fing an zu fummeln. „Ich würde dir gerne einen Job anbieten. Aber im Arbeitsvertrag müsste stehen, dass du dich zu Sex mit dem Chef verpflichtest, und ich weiß nicht, ob das zulässig ist."
Mittlerweile war er schon ganz schön weit gekommen mit seiner Fummelei.
„Es .... es... es gibt auch - hu! mündliche hu! mündliche Zusatzklauseln!" schlug sie nach Luft japsend vor.
„Das machen wir! Wir machen eine hu-mündliche-hu Zusatzklausel!" stimmte er zu und trug sie ins Bett.
„Du bist blöd, Ben Knüppers!" haute sie ihm hin. „Aber ein verdammt guter Liebhaber!"
Lachend rollten sie durchs Bett, waren betrunken vor Glück.
„Ich glaube, ich überschreibe dir meine Firma, und du stellst mich an. Ein Doppel-Dipl. macht mehr Eindruck!"
„Dafür hast du einen Doktortitel!" wandte sie ein. „Warum verwendest du den gar nicht?"
„Das klingt so altbacken! Würdest du dir ein Haus bauen lassen von einem Architekten mit Doktortitel? Du hast ja auch gedacht, ich bin hundert!" erinnerte er sie.
Da meldete sich ein leises Babystimmchen und gleich danach ein kräftigeres.
Er sprang aus dem Bett. „Na, langweilig wird einem in der Familie auch nicht!" stöhnte er, strahlte aber dabei übers ganze Gesicht.
Als beide Kinder satt und versorgt waren, saßen sie mit ihnen in den Armen auf dem Sofa.
„Aber jetzt mal im Ernst, Madame Superstar. Du fängst dann schon bei mir an, oder?" nahm er das Gespräch wieder auf.
„Die Kinder können wir mitnehmen, wir sind ja die Chefs! Wir stellen ein Bettchen in den Aufenthaltsraum, machen den Raum überhaupt zu einem Kinderzimmer. Kaffeetrinken kann man überall. Wir kaufen einen Schreibtisch für dich, den stellen wir neben meinen, solange sie noch so klein sind, können wir das Bettchen auch in unser Büro stellen.
Ach so! Du musst ja noch ein Semester studieren! Dann soll sich Karin um die zwei kümmern. Mit mir zusammen natürlich. Und zum Stillen musst du halt immer kommen."
Er merkte, dass er ohne Punkt und Komma redete.
Aber sein Herz war so verdammt voll, er war so verdammt glücklich.
Er war so verdammt befreit.
Vor zwei Tagen hatte er nicht gewusst, wie er dieses Leben aushalten sollte, und jetzt flog er weit über Wolke sieben.
Leas Blick klebte an seinen strahlenden blauen Augen, und sie konnte ihr Glück kaum fassen.
Durch ein Wunder, einen irrsinnigen Zufall hatte sie ihn zurückbekommen, diesen gutaussehenden Mann, den sie mehr oder weniger aufgerissen hatte, in einem anderen Leben, in dem sie noch sehr jung, sehr leichtsinnig gewesen war.
Sie hatte mit acht sehr einsamen Monaten bezahlt dafür, aber das Schicksal hatte Pläne mit ihnen gehabt.
Deshalb hatte es den Sohn und die Tochter dieses Mannes am selben Tag auf die Welt kommen lassen, deshalb waren die Namen der beiden Kinder untereinander in der Zeitung gestanden, deshalb hatte sie ihren Sohn Benedikt genannt, eine Botschaft, die er verstanden hatte.
Er schien ihre Gedankengänge zu ahnen, denn er fragte: „Schicksal oder Zufall?"
Sie zuckte mit den Schultern.
„Ist im Grunde auch egal. Aber wir werden unser Glück festhalten, nicht wahr, Süße? Wir werden unser Leben zu einem Fest machen, wir werden jeden Tag genießen, weil wir uns haben, weil wir die Kinder haben, weil wir eine Familie sind."
Er war vollkommen aufgedreht. „Und wir werden ein Haus bauen! Ich habe ein Grundstück gekauft in der Nähe der Firma, damals, als ich mich so sehr in dich verliebt habe. Eines der verrückten Häuser, die wir zusammen geplant haben, werden wir da bauen, ja?"
Seine Augen waren feucht, ihre liefen über. Mia schien zu schniefen, Benedikt fasste nach ihren Fingerchen.
Da heulten die Eltern richtig los, und es waren wundervolle Glückstränen.
Dann packten sie die Kleinen in zwei Tragetaschen, um in die Firma zu fahren. Sein Auto stand noch immer im Halteverbot, hatte seltsamerweise nicht einmal einen Strafzettel.
Die junge Apothekenhelferin kam heraus, als sie gerade die Kinder einpackten. „Ich habe den Politessen gesagt, das Auto gehört einem Arzt im Einsatz!" erklärte sie lachend. „Da im Haus wohnt eine junge Frau, die hat es schwer am Herzen!"
Lea sah sie verwundert an. „Man kriegt so einiges mit an ruhigen Tagen!" sagte die junge Frau nur und verschwand wieder im Innenraum.
Ben nahm Lea in die Arme. „Ist schon gut, wenn man Stammkunde ist!" meinte er nur.
In den Räumen von Knüppers-Bau holte er alle Mitarbeiter zusammen in den Noch-Aufenthaltsraum.
„Also, Jungs und Mädels, das ist Lea. In einem halben Jahr eine Kollegin und jetzt schon die Frau in meinem Leben, und das sind unsere beiden Kinder."
Seine Sekretärin sah ihn fragend an. „Ich erkläre es schon, Karin!" Dann fasste er die nötigsten Informationen zusammen, ohne zu viele Details zu verraten.
Seine rechte Hand hatte etwas mehr Hintergrundwissen, verstand die Zusammenhänge besser.
Da hatte sie ihm also verziehen, die Hübsche! Er hatte sich ziemlich feige verhalten damals, als Nadja schwanger wurde, aber sie hatte vergeben können.
Sie sah das Leuchten in seinen Augen, das er damals gehabt hatte, das dann so schnell erloschen war.
Und die beiden Kinder waren ja so etwas von süß.
Alle Mitarbeiter waren schockverliebt in die Kleinen.
Ben wusste, dass alles gut klappen würde. Er würde Job, Kinder und seine Liebe gut unter einen Hut bekommen.
Er würde leben! Es würde ein Leben werden, wie er es sich nicht hatte erträumen können! Niemals!
Er war 35 Jahre alt, und sein Leben begann!
Lea fühlte sich, als würde sie träumen. Alle waren so freundlich zu ihr, dem Grünschnabel. Sie würde mit ihrem absoluten Traummann zusammenleben, arbeiten, die wunderbaren Kinder großziehen. Was wollte sie denn mehr?
Dann gingen die beiden in Bens Büro. Das Sofa weckte heiße Erinnerungen in ihr. Aber auch schwermütige Gedanken. Hier hatte er sie geliebt, war aufgesprungen, nach Hause gefahren und aus ihrem Leben verschwunden.
Auch Ben erinnerte sich. Er hatte sich sehr oft erinnert in den letzten Wochen.
An den Abend, als er sie zum letzten Mal hatte lieben dürfen. Als er aufgesprungen war, weil er es nicht hatte erwarten können, mit Nadja zu sprechen, sie um die Scheidung zu bitten, weil er sich so unendlich verliebt hatte.
Doch wie anders war alles gekommen. Wie schrecklich, wie fürchterlich anders. Wie hoffnungslos dieser Tag geendet hatte, wie hoffnungslos die nächsten Monate waren.
Wie oft hatte seine Seele nach Lea geschrien.
Wie viele Nächte hatte er in seinem Arbeitszimmer durchgeheult.
Wie oft hatte er ihr Bild, das er in Berlin gemacht hatte, auf seinem Handy angesehen.
Wie oft hatte er den Finger auf ihrer Nummer liegen gehabt, wie oft war er zu feige gewesen, den letzten Druck auszuführen.
Wie oft hatte er die Entwürfe der verrückten Häuser auf den Bildschirm geholt, hatte er sich an ihr Lachen erinnert, das er dann immer von ihren Lippen getrunken hatte, weswegen sie dann wieder und wieder auf dem Sofa gelandet waren.
Dieses Zimmer hatte ihn gemartert, hatte ihn gequält bis aufs Blut. Er hatte es ertragen als eine Art von Buße.
Für seinen Ehebruch, für sein gestohlenes Glück, für seine Feigheit am Ende.
Wenn sein Erzeuger seine Mutter nicht verlassen hätte, als sie mit ihm schwanger war, hätte er vielleicht anders reagiert, hätte er gesagt: Dumm gelaufen, Nadja! Ich bin dann mal weg!
Aber ein ungeborenes, unschuldiges Kind zu verlassen, erschien ihm unmöglich.
Gut, Lea hatte sein Verhalten verziehen, was aber nichts an der Tatsache änderte, dass er sie nur durch einen Geniestreich des Schicksals wieder zurück bekommen hatte.
Sie hielten sich in den Armen, hingen ihren Gedanken nach.
Er räusperte sich, wischte verstohlen über seine Augen.
Dann fuhr er den Computer hoch, rief die Entwürfe einiger Häuser auf.
„Und, Süße? Welches Haus bauen wir?" fragte er mit belegter Stimme.
„Das mit der Dachterrasse, den hundert Balkonen, den zweihundert Zimmern. Das war schon immer mein Favorit!"" antwortete sie lachend.
Er räumte seinen Platz. „Gut! Dann zeichne mal die Baupläne! Vielleicht reduzierst du die Anzahl der Balkone auf zehn und die der Zimmer auf, sagen wir mal, zwölf?"
Lea strahlte ihn an und begann zu arbeiten. Das Programm beherrschte sie im Schlaf.
Ben stand hinter ihr und beobachtete sie stolz. Das Mädel war echt gut!
Wieder verbesserte er sich in Gedanken. Die junge Frau war wirklich sehr begabt.
Seine Mitarbeiter und er hatten eine Weile ziemliche Probleme gehabt mit der Anwenderoberfläche, aber sie switchte und scrollte, klickte und zeichnete, als hätte sie in ihrem Leben nichts anderes gemacht.
Zwei Stunden später druckte sie eingabefähige Pläne aus.
„Okay! Ich schreibe dann mal Entlassungsschreiben für die anderen und gehe ein Jahr in Erziehungsurlaub!" sagte er nur.
„Gut?" fragte sie.
„Geht so!" antwortete er.
„Passt!" erklärte sie.
„Genau!" erwiderte er.
Dann wirbelte er sie durch die Luft. „Du bist der Hammer, Lea! Du bist echt voll der Hammer!"
Karin öffnete die Türe wie immer, ohne anzuklopfen. Doch sie schloss sie schnell wieder leise.
Diesen leidenschaftlichen Kuss wollte sie doch nicht unterbrechen.
Zugesehen hätte sie gerne noch eine Weile. Aber sie war ja keine Spannerin.
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