{ 1 | Die Seuche }
Die bis auf die Knochen abgemagerte Gestalt vor ihr rührte sich nicht, und nur das flache Heben und Senken der Brust verriet Rayna, dass ihr Vater noch nicht zu den Sternen gereist war.
»Das Fohlen ist da«, flüsterte sie tonlos, und ihre Stimme klang nicht halb so fest, wie sie es gewollt hatte.
»Eine Stute. Syalla haben wir sie genannt, nach dem Licht der Sterne. Mama ist noch bei ihr und Vara.«
Wieder reagierte er nicht, und Rayna spürte ihre Augen brennen. Sonst war sie nicht so sensibel, aber ihren Vater so zu sehen, an der Schwelle zum Tod, versetzte ihr einen Stich ins Herz, so schmerzhaft, dass es ihr die Kehle zuschnürte.
Um ihre Tränen zurückzuhalten, wandte sie sich von dem dünnen Holzgestell ab, das nur mit viel Fantasie einem Bett glich. Weil sie sich so hilflos fühlte, dass sie nicht einmal wusste, wohin sie ihre hellbraunen Augen richten sollte, begann die junge Frau, unruhig auf und ab zu gehen.
Die Holzwände um Rayna herum, die ihr sonst immer ein Gefühl von Geborgenheit gegeben hatten, schienen nun von allen Seiten näher zu kommen, sie einzukesseln, zu erdrücken. Viel zu viele Stunden hatte sie hier drin verbracht, seit ihr Vater krank geworden war, und es schien, als würden all diese Stunden nun auf sie einprasseln. Als wäre die Luft selbst so krank, dass sie schwer in ihren Lungen lag.
Rayna stürzte aus der hölzernen Tür heraus und die knarzenden Treppenstufen hinunter, durch den schmalen Flur, bis sie endlich die zweite Holztür aufstoßen konnte und kalte Luft und gleißend helles Tageslicht entgegenschlug. Blinzelnd und keuchend versuchte sie, etwas außer den verschwommenen Silhouetten vor ihren Augen zu erkennen.
Langsam wurden aus den verwischten Schatten die Zweige ihrer geliebten, knorrigen Bäume, die das Haus - wenn man die baufällige Hütte überhaupt als solches bezeichnen konnte - sanft umrahmten wie uralte Wächter.
Die Tränen hielten sich gehorsam zurück, obwohl Rayna das Gefühl hatte, dass in ihr gerade ein ganzer See entstand. Es würde ihrem Vater auch nicht helfen, wenn sie um ihn weinte, obwohl er noch hier war, unter ihnen, und vielleicht jedes Wort verstand, das sie aussprach.
Aber was konnte ihm denn helfen, wenn es keine Tränen waren? Obwohl sie die beste Heilerin der ganzen Gegend war, hatte Raynas Mutter mit ihren Arzneien nichts ausrichten können. Und mit jedem Tag, der verstrich, wurden die Atemzüge des einst so starken Mannes flacher, seine Gestalt dürrer, sein Blick trüber. Die Krankheit, die das Leben aus ihm herauszusaugen schien, war unbekannt, und egal, wohin Rayna geritten war, niemand hatte ihr helfen können. Jetzt, wo sie weglief, grub sich die Schuld in ihren Bauch - aber es schien ohnehin, als sei das einzige, was ihnen jetzt noch helfen konnte, schlichtweg ein Wunder.
Wie von allein trugen ihre Füße sie weiter, an den einzigen Ort, an dem sie zur Ruhe kommen und - nur für einen Moment - vergessen konnte, was gerade geschah.
Sie passierte die Wächterbäume, wie sie die knorrigen Holzgiganten um das Haus herum nannte, und schlug den schmalen Pfad ein, in den sich mit der Zeit Fuß- und Hufspuren eingetreten hatten.
Die Farne des lichten Waldes gaben schnell den kleinen Stall frei, den man auf den ersten Blick nur schlecht von ihrem Haus unterscheiden konnte - bis auf die Tatsache, dass der Stall nur ein Stockwerk hatte.
Fast gedankenverloren öffnete sie die knarzende, brusthohe Tür und sog den Geruch von Heu und Fell tief ein, spürte sofort, wie sich ihr verkrampfter Körper entspannte.
Ihre Mutter, die dem Fohlen auf die Welt geholfen hatte, war nicht mehr da, und so fand sich Rayna allein mit den beiden Yiris, den zweifach gehörnten Pferden, die erschöpft im Stroh lagen.
Beim Anblick der neugeborenen Stute Syalla, deren zwei Hörner auf Stirn und Nasenrücken noch kaum mehr als Stummel waren, schmolz ihr Herz beinahe dahin.
Neugierig, mit ungeschickten, staksigen Schritten auf viel zu langen Beinen, rappelte sich das Yirifohlen auf und tapste unsicher auf Rayna zu, die ihr die Hand hinhielt. Syallas warmes, braunes Fell glich bis auf das letzte Haar dem ihrer Mutter Vara, die misstrauisch jede Bewegung ihrer Tochter beobachtete.
Nur der weiße Fleck auf der Stirn der kleinen Stute unterschied sie farblich von ihrer Mutter. Der Tupfen, der ein wenig wie ein Stern aussah und dem sie ihren Namen verdankte: Syalla - Sternenlicht.
Dieses Wort gehörte zu den wenigen, die Rayna aus der Alten Sprache kannte. Varas Name bedeutete ›Die Wächterin‹, und genau so sah sie auch aus mit ihren aufmerksamen, dunklen Augen, die jede Bewegung Raynas verfolgten. Eine Wächterin über ihr Fohlen.
In einigen Wochen würden Vara und Syalla auf der Weide zu den anderen beiden Yiris stoßen. Auf diesen Tag freute sich Rayna jetzt schon, aber wenn sie so in die riesigen, jungen Augen der Stute blickte, wusste sie, dass er noch in ferner Zukunft lag.
Syalla knabberte vorsichtig an der Hand der jungen Frau, stakste ein wenig in der geräumigen, dick mit Stroh gepolsterten Box herum und versuchte sogar einen kleinen Hüpfer - vergeblich; sofort stolperte die braune Stute und landete im Stroh, was Rayna ein leises Lachen entlockte. Es fühlte sich schön an, zu lachen. Viel zu wenig hatte sie das getan in den letzten Wochen.
Lange verweilte sie noch im Stall, sah einfach Syalla dabei zu, wie sie herumstakste und das Laufen übte - und bewunderte sie dafür, dass sie es keinen Tag nach ihrer Geburt schon so gut konnte. Rayna selbst hatte im Vergleich zu dem kleinen Yiri ewig gebraucht, um auch nur zu krabbeln.
Sie versank in ihren Gedanken und ließ die Minuten vorbeigleiten, weil dieser Moment sie alles andere vergessen ließ. Und Rayna wollte nicht an die Wirklichkeit erinnert werden, an die herzzerreißende Wirklichkeit, in der das Leben ihres Vaters am seidenen Faden hing. Nein, sie wollte einfach im Stroh sitzen bleiben und so tun, als bestünde die Welt nur aus ihr und den Yiris. Wenigstens für einen Augenblick.
Doch jeder Augenblick hatte einmal ein Ende, und irgendwann erdrückten die Schuldgefühle Rayna fast, weil sie sich nur um sich selbst kümmerte, statt für ihren Vater zu sorgen. Also rappelte sie sich schweren Herzens auf, klopfte Vara liebevoll auf die Schulter und strich über das längere ihrer Hörner, schloss die Stalltür achtsam hinter sich und tappte durch den lichten Wald die geringe Entfernung zum Haus zurück.
Sobald sie die hölzerne Tür geöffnet hatte, schlug ihr die kranke Luft entgegen. Oder zumindest fühlte es sich so an, weil jeder Atemzug ihr so schwer fiel. Wieder drängten die Wände von allen Seiten auf sie zu, kamen näher in ihrem Kopf.
Mühevoll stapfte die junge Frau die Treppe hoch, hörte bei jedem ihrer Schritte die alten Stufen knarzen. Eine leise Stimme aus dem Zimmer über ihr, zittrig und brüchig.
»...nicht mehr sie selbst. Und ich auch nicht. Bitte, wenn... wenn du mich hören kannst, dann... tu doch irgendetwas.«
Rayna spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen, als sie die verzweifelten Worte ihrer Mutter hörte. Sie klang so flehend, so hoffnungslos, dass sie sie einfach nur in den Arm nehmen wollte, obwohl es ihr genauso schrecklich ging. Sie betrat fast lautlos den kleinen Raum, und die ältere Frau, die vor dem Bett hockte, fuhr herum. Sie sah schrecklich aus - die Augen aufgequollen und gerötet, die Schultern hängend.
»Oh... Rayna, mein Blättchen! Ich dachte, du wärst bei den Yiris.« Überrascht wischte sie sich schnell die Tränen von den Wangen.
Mit brennenden Augen schloss ihre Tochter sie in eine liebevolle Umarmung. Wortlos. Aber Worte waren längst überflüssig, denn die beiden teilten dieselbe Verzweiflung.
»Er ist noch da, Mama«, versicherte Rayna der Verzweifelten und hoffte, dass ihre Worte auch nur halb so überzeugt klangen, wie sie sich fühlte. »Und er wird uns nicht verlassen. Du kennst ihn doch, besser als jede andere.«
»Ach, Blättchen, natürlich wird er das nicht. Ich muss nur noch herausfinden, welche Krankheit ihn so schwach macht, dann kann ich eine passende Arznei herstellen und Fenkur heilen, ehe du ›Ashanga-Blüte‹ sagen kannst.« Liebevoll strich Lyska, wie ihre Mutter eigentlich hieß, ihr eine dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. Rayna fiel, wie schon so oft, die lange Narbe an ihrem Arm auf. Aber weil Lyska nicht über diese Narbe sprach, wusste sie nicht, woher ihre Mutter eine solche Wunde hatte und in diesem Moment war es ihr auch vollkommen egal.
Tock. Tock.
Ein seltsam rhythmisches Klopfen hallte durch das Holzhäuschen, sodass die beiden Frauen überrascht aufschreckten. Es klang ganz so, als hämmerte jemand an der Tür - aber sie lebten so fern von jeglicher anderer Zivilisation, dass eigentlich nie jemand vorbeikam. Und wenn, dann waren es reisende Händler mit unverschämten Preisen.
Tock. Tock.
Wer immer an der Tür stand, schien ziemlich hartnäckig zu sein. Rayna versuchte, ihre trübsinnigen Gedanken in die hinterste Ecke ihres Kopfes zu schieben - mehr oder weniger wirksam - und rappelte sich seufzend auf.
»Ich verscheuche den Idioten, der uns für zwanzig Orun einen Feuerstein verkaufen will«, versuchte sie, Lyska aufzuheitern. Ihre Mutter lächelte sie schwach durch einen Tränenschleier hindurch an.
»Wir kaufen nichts!«, rief sie schon durch einen schmalen Spalt in der Tür, bevor sie überhaupt den Fremden sah, der sich dort mit selbstbewusst geschwellter Brust aufgestellt hatte. Sein spärliches Gepäck - nur ein kleiner, lederner Beutel baumelte an seinem dunklen Umhang herunter - verriet ihr, dass er eindeutig kein einfacher Händler war.
»Nanu, da ist aber jemand schlecht gelaunt. Keine Sorge, ich beiße nicht!«, sagte der schlaksige junge Mann vor ihr - dann schob er sich einfach an Rayna vorbei ins Haus hinein und ließ sie verdattert stehen. Rayna hätte mit allem gerechnet, aber nicht mit so einem komischen Vogel, der einfach hier hereinplatzte.
Und vielleicht damit, dass ebendieser Vogel ihr Leben vollkommen auf den Kopf stellen würde.
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