24. Kapitel – Die Pfade der Toten
So früh am Morgen war die Graue Schar losgeritten, dass die Sonne sich noch lange Zeit nicht zeigte, denn links und rechts des Pfades, den sie nun entlangritten, erhoben sich die Flanken des Gebirges, und vor sich sahen sie alle drohend die schwarzen Grate des Geisterberges, die das Licht der Sonne verbargen und den Pfad in Schatten hüllten, einen Schatten, der tiefer war als jeder, den Beravor bisher gesehen hatte; und es schien ihr, als würde um sie herum alles kälter werden, je näher sie dem Dwimorberg kamen. Sie folgten einem ansteigenden Pfad tiefer in das Gebirge hinein, der auf beiden Seiten von alten Steinen gesäumt war, die schon seit Anbeginn der Zeiten dort zu liegen schienen. Nicht lang war dieser Pfad, und immer und immer näher kam der Berg, und doch wünschte sich Beravor, dass sie nie dort ankommen würden, denn eine Furcht befiel sie beim Blick auf diesen Berg, die sie sich nicht erklären konnte, und dennoch ritt sie weiter.
Bald waren sie nahe an den Berg herangekommen, und noch immer stand die Sonne nicht über dem Geisterberg; und da kam die Graue Schar an den Rand eines kleinen Waldes von schwarzen Bäumen. Und plötzlich wurde Beravor schwarz vor Augen und ein Entsetzen befiel sie, als die Bäume über ihr waren, und sie sah sich nicht mehr nach Istavor um, die nahe bei ihr ritt, noch blickt sie nach Rovaldil, der vor ihr war, sondern sie sah nur noch die schwarzen Wipfel der Bäume und die Schatten unter ihnen. Sie wollte umkehren und aus dieser verfluchten Schlucht fliehen, denn es schien ihr, als würde ihr das Herz in der Brust zerrissen werden; doch sie kehrte nicht um, denn obwohl ihr schien, als dränge sie eine Macht in ihrem Herzen dazu, die Flucht zu ergreifen und all diesen Schrecken hinter sich zu lassen und ihn vielleicht sogar irgendwann wieder zu vergessen, so gab es einen Willen, der sie und Gwaelim zwang, weiterzureiten. Sie hörte, dass vor ihr jemand etwas sagte, doch sie nahm die Worte nicht wahr, denn sie verklangen schnell in den Schatten des Waldes und dem von Tannennadeln bedeckten Boden. Kein Wort redete sie von da an mehr für den Rest des Tages.
Als das erste Entsetzen etwas abgeklungen war, zwang sich Beravor, trotz der Furcht, die sie empfand, nach vorne zu blicken, und ohne, dass sie es bemerkt hatte, hatte die Schar angehalten, und undeutlich im Zwielicht des Morgengrauens meinte Beravor den Schemen eines gewaltigen Steins zu erkennen, doch sie wagte nicht, näher heran zu reiten, und Gwaelim zögerte und schnaubte, und Beravor spürte, dass er große Angst hatte. Da sah sie, wie vor ihr die ersten Reiter von ihren Pferden stiegen, und sie tat es ihnen gleich. Dann nahm sie die Zügel von Gwaelim in die Hand, und wie alle anderen führte sie ihr Pferd und redete ihm in Gedanken gut zu; aber sie wagte es nicht, auch nur ein Wort laut auszusprechen. Gwaelim ließ sich widerwillig führen, aber er machte nie Anstalten, umzukehren, vielleicht aus Angst, alleine den Weg zurück nehmen zu müssen. Schließlich führte auch Beravor, die am Ende des Zuges lief, Gwaelim am großen Stein vorbei, und als sie ihn anblickte, da schauderte ihr, und schnell ging sie an ihm vorüber, und in diesem Moment war sie dankbar, dass es diesen Willen gab, der sie voran zwang, gegen ihren eigenen Willen zwar, aber zu ihrem Besten, und der sie auch jetzt heil an diesem Stein vorbeizog, auch wenn sie am liebsten geschrien und um sich geschlagen hätte, so bang war ihr; doch ihre Lippen blieben stumm und ihre Muskeln starr, und sie lief vorbei; und nur in ihrem Gesicht konnte man sehen, welche Seelenqualen sie litt.
Als Beravor den Stein passiert hatte, führte der Pfad noch ein wenig unter den dunklen Bäumen hindurch, und auf allen Dúnedain lastete der Schrecken dieser Finsternis. Doch nach kurzer Zeit lichtete sich der Wald, und die Graue Schar trat in eine weite Schlucht: Auf allen Seiten war sie von hohen Felswänden umringt, außer an der Stelle, an der der Pfad in sie hineinführte und die die Waldläufer nun durchschritten; nun waren sie am Geisterberg angelangt, und die größte und drohendste der Felswände lag nun direkt vor ihnen. Die Sonne hatte sich immer noch nicht über den Berg erhoben, und Beravor glaubte auch nicht mehr an ihr Licht, denn es schien ihr, als habe sie alle Erinnerungen an Helligkeit verloren und als seien seit ihrem Ritt nach Edoras und Dunharg viele Menschenalter vergangen.
Sie standen vor einem dunklen Tor, breit und von einem großen Bogen überwölbt, auf dem undeutliche Zeichen eingemeißelt waren; Beravor meinte, im Dämmerlicht Gestalten darin zu erkennen, doch sie war sich nicht sicher, und der Gedanke daran, dass es wirklich Gestalten waren, war noch unerträglicher, als in den Wald zu blicken, der nun hinter ihnen lag. Und dann blickte sie in das Tor, und ein neuer Schrecken befiel sie, noch größer als der vorherige und größer als alle anderen Schrecken, die sie bisher gespürt hatte: Denn es war nicht die Angst vor Kriegen und Schlachten und vor dem Verlust derer, die sie liebte, sondern es war die Angst, die allen Menschen innewohnt, die Angst vor dem Tod; eine solche reine und nackte Angst vor dem Nicht-Sein, die Beravor wie ein schwarzer Abgrund oder vielmehr wie ein alles verzehrender Schlund vorkam, und vor dem es kein Heil in Vergehen oder Werden gab, denn er fraß alles. Und dann verstärkte sich ihr Entsetzen und ihre Angst noch und steigerte sich ins Unermessliche, denn sie hörte plötzlich Halbarad reden, und er sprach:
„Das ist ein übles Tor, und mein Tod liegt jenseits von ihm. Dennoch will ich wagen, es zu durchschreiten; aber kein Pferd wird hineingehen."
Die Worte Halbarads waren wie ein Stich in Beravors Herz, denn sie verstand seine Worte und sah seinen Tod vor ihrem Auge; und dann merkte sie, wie Gwaelim zitternd neben ihr stand, und sie wollte seine Zügel loslassen und wenigstens ihn vor dem Tod bewahren, indem sie ihn ziehen ließ, doch da hörte sie, wie Aragorn sprach, und wie seine Stimme mit der Dunkelheit um sie und der Angst zu ringen kämpfen schien:
„Doch wir müssen hinein, und deshalb müssen auch die Pferde gehen. Denn wenn wir je durch diese Dunkelheit kommen, liegen jenseits viele Meilen, und jede Stunde, die verloren wird, wird Saurons Sieg näher bringen. Folgt mir!"
Und da schien es, als habe Aragorn für einen Moment die Angst besiegt, und er ging voran in das Tor und die Dunkelheit, und plötzlich wurde Beravors Herz hart und vertrieb die Angst, und mit grimmiger Miene und zusammengebissenen Zähnen folgte sie, und ihr folgte Gwaelim, denn auch sein Herz war durch den plötzlichen Gemütswechsel seiner Herrin von der Angst befreit worden, und bereitwillig folgte er ihr, so wie sie Aragorn folgte. Denn Beravor wusste, dass sie ihr altes Leben zurückgelassen hatte, und nun musste sie wohl oder übel das auf sich nehmen, was sie erwartete, und ein Tod in der Schlacht war besser als manch andere Art, zu sterben; und sie war bereit. Dann trat sie in die Dunkelheit des Tores.
Eine Zeit lang war Beravor vollkommen blind. Die Finsternis hatte sie umschlossen, und bis auf dumpfe, wie aus weiter Ferne zu ihr dringende Geräusche von den Schritten der Waldläufer um sie herum nahm sie nichts wahr. Fühlt sich so der Tod an?, dachte sie, als vor ihr ein Licht zu leuchten begann von einer Flamme, und es brauchte eine kurze Weile, bis Beravor erkannte, dass Aragorn eine Fackel entzündet hatte. Die Dunkelheit schien auch ihr Denken umnebelt zu haben. Bald darauf wurde es auch hinter ihr etwas heller, und sie erkannte, als sie sich umblickte, den Schemen eines der Elbenbrüder, dessen helle Rüstung den Schein der Flammen spiegelte.
Von Zeit zu Zeit hielt die Schar an, auch wenn Beravor nicht wusste, warum. Dann schien es, als erhöbe sich überall um sie ein Gewirr aus Stimmen, und die Angst, die mittlerweile wieder zurückgekehrt war, wurde größer und größer, bis Beravor nichts weiter hoffte, als dass sie weitergehen mögen. Doch wenn sich der Zug dann in Bewegung setzte, wurde die Angst nicht kleiner. So lief sie und lief; und ihre Beine waren schwer, doch sie wollte nicht rasten, denn zu groß war die Furcht vor den gespenstischen Stimmen. Gwaelim lief stets neben ihr, und vielleicht noch ein anderer Waldläufer mit seinem Ross, denn auch wenn der Weg breit schien, so schrammte Beravor doch immer wieder mit ihrem Arm am Felsen vorbei, der den Pfad begrenzte und überwölbte. Der Boden war ebenso uneben wie die Wände, und mehrere Male wäre Beravor in der Dunkelheit unter dem Berg gestürzt, hätte sie nicht die Zügel ihres Pferdes in der Hand gehalten.
Stunde um Stunde verging; so kam es jedenfalls Beravor vor. Längst begleiteten die Stimmen sie auf Schritt und Tritt, egal, ob sie hielten oder voranschritten. Beravor wollte nicht mehr weitergehen, am liebsten wollte sie auf der Stelle zugrunde gehen und einfach sterben, damit die Stimmen zu reden aufhören würden und sie ihren Frieden haben könnte. Sie glaubte, käme sie jemals aus dieser Dunkelheit heraus, werde sie verrückt sein. Doch sie starb nicht und ging weiter voran, denn der Wille Aragorns trieb sie an, und nur ihm war es zu verdanken, dass sie sich nicht auf der Stelle niederlegte und auf ihr Ende wartete. Stattdessen tastete sie sich an der Wand entlang, in der Hoffnung, sich hin und wieder festhalten zu können, denn die Angst ließ ihre Glieder zittern und sie fühlte sich vollkommen entkräftet. Ihre Hände waren nass von Schweiß und fanden selten Halt am kalten Stein. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, ohne es selbst wahrzunehmen. Sie blickte sich nicht mehr um. Sie wollte nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Sie wollte einfach nur weitergehen. Sie kannte kein Ziel mehr, sie konnte sich keine Farben ins Gedächtnis rufen, keine Erinnerung an etwas, das lebte und wuchs und blühte. Es war nicht ihr Ziel, aus diesem Gang heraus zu kommen, sondern einfach nur, nicht stehen zu bleiben, um nicht von den Stimmen völlig eingenommen zu werden.
Plötzlich rutschte sie mit der Hand an der Felswand ab, als sie sich zur Seite bog, und sie stolperte, und der Klang der Schuhe auf dem Fels, als sie sich fing, wurde von der Dunkelheit augenblicklich verschluckt. Sie merkte, dass sie nun in einer Kammer oder Halle stand; zumindest war die Decke höher und die Wände waren verschwunden; das hatte Beravor beinahe zu Fall gebracht. Nun sah sie, wie einer der beiden Elbenbrüder, der die Fackel trug, vom Ende des Zuges an ihr vorbeiging und sich Aragorn näherte. Trotz ihrer Furcht vor dem, was sie da entdeckt haben mochten, näherte sich auch Beravor, doch sie wagte nicht, den Blick auf das zu richten, was sich vor ihr abspielte, zu groß war die Angst vor dem Unbekannten. So blieb sie in der zweiten Reihe und sah nur den Schein der Fackeln, die Elladan hochhielt, der schon bald von der Dunkelheit verschluckt wurde und die Halle nicht zu erhellen vermochte. Beravor hörte, wie Aragorn seufzte und etwas sagte, und für einige Zeit murmelte er etwas, das sie nicht verstand. Doch dann erhob er sich wieder, und diesmal rief er mit lauter Stimme:
„Doch das ist nicht mein Auftrag!", und er wandte sich um und blickt zurück in die Dunkelheit, und der Schein der Fackeln spiegelte sich in seinen königlichen Augen, und sein Gesicht verriet noch Hoffnung und Mut, wo Beravor keines von beidem mehr sah. Sie selbst senkte ihren Blick, damit Aragorn nicht ihrer Angst gewahr würde, denn sie schämte sich, war sie doch eine der Dúnedain und nicht hier, um zu zittern!
„Behaltet eure Schätze und eure Geheimnisse, die ihr verborgen habt in den Verfluchten Jahren!", rief Aragorn in die Finsternis und die flüsternden Stimmen hinein; „Schnelligkeit fordern wir nur. Lasst uns vorbei, und dann kommt! Ich rufe euch zum Stein von Erech!"
Plötzlich verstummten die Stimmen, und obwohl sich Beravor nichts sehnlicher als das gewünscht hatte, linderte es ihre Pein nicht; denn so wie alles, von dem sie bisher gedacht hatte, es würde ihr nützen, schien in dieser Höhle das Gegenteil zu tun, und so wuchs ihre Furcht weiter, denn obwohl die Stimmen verstummt waren, spürte sie nun in ihrem Rücken ein gewaltiges Heer, schweigend und tödlich und so furchteinflößend wie kein Alptraum, den sich je ein Mensch erdacht oder den er selbst geträumt hat. Ein kühler Windstoß wehte plötzlich durch die Halle und ließ Beravor erschaudern, und dann flackerten die Fackeln, und dann waren sie aus. Beravor war plötzlich blind, sie fühlte nur noch die Zügel Gwaelims in ihrer rechten Hand und die andere Hand erspürte den Knauf ihres Schwertes, das an ihrer Seite hing, und er war bitterkalt wie das Eis des schrecklichsten Winters. Eine kurze Zeit meinte sie zu vernehmen, wie die Elben sich bemühten, die Fackeln wieder zu entzünden, doch es geschah nichts. Und schließlich hörte sie, wie Aragorn sich wieder in Bewegung setzte, und obwohl sie den Weg nicht sah und nicht einmal erahnen konnte, folgten ihre Füße und taten einen Schritt vor den anderen, ohne dass Beravor es wollte oder etwas dagegen tun konnte. Der Wille ihres Königs trieb sie voran.
Selbst beim Tod ihrer Eltern hatte Beravor noch nie solche Schmerzen gespürt wie bei dieser Wanderung unter dem Berg hindurch, denn der Schrecken, der sie begleitete, war nicht greifbar und entsetzlicher als alles, was sie je erlebt hatte, und er umfasste ihr ganzes Denken und sein wie eine Hülle aus Leid; und jeder Schritt schien ihr schlimmer als die schlimmste Folter, die sich der Dunkle Herrscher jemals ausgedacht hatte. Mehr als einmal zuckte ihre Hand zum Griff ihres Schwertes, damit sich Beravor hineinstürzte und endlich all die Angst und Qual verschwinden würde. Doch im letzten Moment zuckte sie jedes Mal zurück, denn ein kleiner Zipfel von Beravors Herz hing noch am Leben und hatte die Hoffnung auf Licht noch nicht aufgegeben, und daran klammerte sich ihr ganzes Sein, doch er hing an einem seidenen Faden und war kurz davor, zu reißen. Sie konnte kaum atmen, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt, und immer öfter stolperte sie oder ließ Gwaelims Zügel beinahe fallen. Bei jedem Schritt oder jeder anderen Bewegung, die sie tat, spürte sie ein Stechen in der Brust, und ihr Atem ging schwer. Normalerweise machten ihr lange Wanderungen wenig aus, doch diese schien sich nun schon über Tage hinzuziehen und wollte kein Ende nehmen, und die Luft in diesem Gang war schwer und schien Beravor wie verpestet von Finsternis und giftiger Dunkelheit. Irgendwann trugen sie ihre Füße nicht mehr, und Beravor klammerte sich an den Hals ihres Gefährten, um nicht kriechen zu müssen, und sie schleppte sich voran; und hinter sich hörte sie das Geräusch vieler hundert Füße, und sie spürte, wie kalte Finger nach ihr grapschten und sie in die Dunkelheit hinter sich ziehen wollten, und in ihrer Verzweiflung oder ihrem Wahnsinn, Beravor vermochte es nicht mehr zu unterscheiden, begann sie mit einer Hand um sich zu schlagen wie ein wildes Tier, während sich die andere Hand krampfhaft in Gwaelims Mähne festkrallte; sie spürte den Schmerz nicht, der in ihre Finger fuhr, als sie beim Versuch, die Geister zu vertreiben, gegen einen scharfkantigen Stein stieß, sie spürte den Schmerz nicht, den ihre panisch im Fell des Pferdes festgekrallten Finger verursachten. Sie wollte, dass irgendetwas passierte, dass sie stürbe oder dass sie kämpfen könnte oder wenigstens schreien, aber nichts davon ging. Und mittlerweile empfand sie den Willen Aragorns, der sie vorantrieb, als einen unbarmherzigen Sklaventreiber, der seine ausgehungerten und halbtoten Knechte mit der Peitsche vorantrieb.
Plötzlich öffnete Beravor die Augen. Sie wusste nicht, wann sie sie geschlossen hatte, doch mit einem Mal sah sie einen einzelnen Stern am Himmel, und sie durchschritt ein Tor, das aus dem Berg ins Freie führte, und sie hörte das Plätschern eines kleinen Bächleins. Es dauerte etwas, bis sie von ihrer panischen Blindheit geheilt war, doch dann sah sie, dass sie nicht mehr im Berg war, sondern draußen stand, und neben ihr war tatsächlich ein Bächlein, das ebenfalls aus dem Berg rann. Plötzlich fielen der Schmerz und das Leid und der Sterbenswille von Beravor ab, und auch wenn sie sie nie in ihrem ganzen Leben vergaß, so waren sie doch plötzlich nur eine grauenhafte Erinnerung, aber ohne Auswirkungen auf ihren Körper. Sie atmete tief ein und spürte die klare Luft in ihrem Rachen, und es schien ihr, als sei sie aus einem wochenlangen tiefen Schlaf erwacht, der einen unendlich grausamen Alptraum beherbergt hatte. Doch war es erst der Abend desselben Tages, an dessen Morgen sie von Dunharg aus aufgebrochen waren, aber noch wusste sie das nicht.
Es war eine Erlösung für Beravor, als sie endlich wieder den Rücken ihres Pferdes besteigen und ihren gepeinigten Füßen etwas Erholung verschaffen konnte. Denn auch wenn Gwaelim ebenfalls unter dem Schrecken der Geister gelitten hatte und immer noch litt – denn der Schrecken war noch nicht verklungen und die Toten folgten der Grauen Schar –, so war seine Seele nicht derart von der Furcht ergriffen worden und sein Körper hatte nicht derart stark unter der Düsternis und der Furcht gelitten; eher konnte er noch seine Reiterin tragen, als dass diese in der Lage war, ihn zu führen. Und so ritt Beravor den Pfad hinab, hinter ihr waren Rovaldil und Istavor, und dahinter Elladan, und Legolas und der Zwerg Gimli gemeinsam auf einem Pferd. Beravor war froh, dass ihre Freundin es ebenfalls unbeschadet (so schien es) aus den Pfaden der Toten geschafft hatte, und sie war froh, dass hinter ihr noch einige der Schar ritten, wenn auch nicht viele, denn als letzte vor dem Heer aus Furcht, das ihnen folgte, zu reiten, war das Letzte, was sie nun wollte. Zu ihren beiden Seiten erhoben sich nun dräuende Felswände, die nur wenig Licht in die Schlucht, in der sie ritten, fallen ließ; und Beravor hatte ihre Angst um das, was hinter ihr lag, noch nicht abgeschüttelt. Immer noch fühlte sie sich dem grauenvollen Berg zu nahe, und sie wusste, dass der größte Schrecken des Berges ihnen auf Schritt und Tritt folgte. Als sie an den Morgen dieses Tages zurückdachte, auch wenn sie nicht wusste, dass es noch immer derselbe Tag war, und ihr bewusst wurde, dass sie all diesen Schrecken damals noch nicht gekannt und noch nie gefühlt hatte, wurde ihr die ganze Grausamkeit dieses Krieges bewusst, der alle dazu zwang, Dinge zu erleben, die viel zu groß und viel zu schrecklich für sie waren, und weit Schlimmeres zu erleiden als den schlimmsten Tod, den man sich vorstellen kann.
Trotz dieser düsteren Gedanken konnte Beravor ihren Blick endlich wieder nach vorne richten, und so sah sie bald das Ende der Schlucht; und kurz darauf ritt sie hinaus, und gerade war die Sonne im Westen versunken, als sie den Westen wieder sehen konnte. Die Schar würde nun in ein Tal hinabreiten, eine große Mulde mit vielen Häusern und Hütten, in denen kleine Lichter brannten; und soweit Beravor es in der anbrechenden Nacht beurteilen konnte, war es nicht das schlechteste Fleckchen Erde, denn es wuchs hohes Gras und der Boden war von weicher und feuchter Erde; sanft viel der Weg vor ihnen ab; doch mit einem Mal drehte sich Aragorn um und die ganze Graue Schar versammelte sich um ihn, und Aragorn rief mit einer Stimme, die das ganze Tal und die Schlucht erfüllte, und die klang wie der Schlachtruf eines großen Fürsten aus der Altvorderenzeit:
„Freunde, vergesst eure Müdigkeit! Reitet nun, reitet! Wir müssen zum Stein von Erech kommen, ehe dieser Tag vergeht, und lang ist noch der Weg." Dann wandte er sich wieder in Richtung des Tales und trieb Roheryn an, und obwohl keiner einen Laut von sich gab, so schien es, als sich die Schar in Bewegung setzte, als ertöne ein Schlachtruf; und schneller als je zuvor ritten sie auf ihren Pferden aus dem Norden, die sogar die Pferde Rohans an Kraft und Willensstärke übertrafen, denn obwohl auch sie von den Anstrengungen des Tages erschöpft waren, liefen sie geschwind und ohne zu straucheln.
Zunächst schien es, als gäbe es keinen Weg, der ins Tal führte, und bald musste die Graue Schar an einem angeschwollenen Wildbach zum Stehen kommen; aber es dauerte nicht lange, da hatten ihre Führer eine Brücke gefunden, die darüber führte, und von dort aus folgten sie einem gut erkennbaren Weg, der sie schnell und zuverlässig hinunter zu den Heimstätten der Menschen brachte. Und immer ritt hinter ihnen her ein gewaltiger Schrecken.
Als sie hinunterritten, sah Beravor in der Entfernung ein paar Menschen, die noch auf der Straße liefen oder etwas bei ihrem Haus arbeiteten; doch als sie der Schar gewahr wurden, die, obwohl noch weit weg von ihren Behausungen, immer näher kamen, da schien es, als würden sie von einer plötzlichen Todesangst gepackt, und manche schrien und rannten um ihr Leben, und viele schlugen hastig die Türen hinter sich zu; und alles Licht in der Siedlung wurde gelöscht, bis bald kein Schein von Feuer mehr das Tal erhellte. Die, die keine Zuflucht in einem Gebäude fanden, schlugen sich in die Felder oder warfen sich auf den Boden; und überall erhob sich Geschrei: „Der König der Toten! Der König der Toten ist gekommen!" Glocken im ganzen Tal wurden geläutet, und es schien Beravor, als war es nicht das erste Mal, dass die Bewohner dieses fruchtbaren Ortes von den Gespenstern der alten Zeit heimgesucht wurden; doch es war ihr seltsam gleich, was diese niederen Menschen fürchteten, denn ihre eigene Furcht war zu groß, und so ritten sie durchs Tal hindurch, ohne dass Beravor auf einen Menschen achtete oder auf das Geläut hörte, denn sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt; und sie war der Meinung, dass diese Leute um des Erfolgs des Kriegs willen auch etwas Schrecken erleiden konnten.
Beravor wusste nicht, wohin ihr Weg führen sollte, und sie hatte keine Lust, irgendjemanden zu fragen, und so ritt sie noch lange stumm auf Gwaelim, und es verging Stunde um Stunde, und die Nacht wurde immer dunkler, und kein Licht außer das von Sternen und Mond erhellte die Straße vor ihnen. Doch obwohl Beravor vor Müdigkeit beinahe vom Pferd fiel und auch Gwaelim von den Anstrengungen des Tages erschöpft schien und immer öfter stolperte, so dachten sie doch nie daran, aufzugeben, und sie wurden immer weiter vorwärts getrieben, am Morthond entlang, bis sie irgendwann in tiefster Nacht einen Berg sahen, zwar nicht sehr hoch und mehr ein hoher Hügel denn ein richtiger Berg, doch es war anstrengend genug für die Pferde, in ihrem Zustand auf ihn zu steigen; sie ritten an Feldern, die am Hang gelegen waren, vorbei, doch sie waren verlassen, und es schien, als habe dort schon lange niemand mehr gearbeitet; doch nach einiger Zeit war der Aufstieg geschafft, und es war ein seltsamer Anblick, der sich Beravor da bot: Denn auf dem nackten Gipfel des Berges stand ein einzelner schwarzer Stein, rund wie eine große Kugel; er war mannshoch, und es zeigte sich, dass er noch viel größer sein musste, denn er war im Boden eingegraben; es schien, als sei er vom Himmel gestürzt und in den Berg eingeschlagen und habe sich tief in diesen hineingebohrt. Davor standen nun die Dúnedain des Nordens und Legolas der Elb und Gimli der Zwerg und Elladan und Elrohir; und dann ritt Elrohir zu Aragorn, der dort in der Nacht auf Roheryn saß wie ein mächtiger Schatten, und reichte ihm ein silbernes Horn, das das Sternenlicht spiegelte und in dieser düsteren Nacht glänzte. Und als Aragorn hineinblies, da hallte es wieder von allen Flanken der Berge ringsumher; und plötzlich war da ein weiteres Echo wie der Klang vieler Hörner; aber es war entfernt und seltsam anzuhören. Beravor spürte, dass der Schrecken näher kam und sie umringte wie ein Heer aus vielen hundert Mann, und die Furcht, die sie auf den Pfaden der Toten empfunden hatte, kehrte nun zurück, und sie erwartete, dass nun alle die Flucht ergreifen würden, so groß war die Angst, die sie verspürte und die auch die anderen fühlten. Doch in Aragorns Gesicht war keine Furcht, und er stieg von Roheryn und stellte sich neben den schwarzen Stein von Erech und rief mit lauter Stimme:
„Eidbrecher, warum seid ihr gekommen?"
Beravor kannte die Geschichte dieser seltsamen Geister nicht, und darum wusste sie nicht, was Aragorn meinte. Doch sie hatte nicht viel Lust, darüber nachzudenken; die Furcht war noch immer zu groß. Nun hörte sie eine Stimme, die wie aus weiter Ferne zu ihr drang; und bei ihrem Klang lief ihr ein Schauer über den Rücken, denn sie war kalt wie der Tod:
„Um unseren Eid zu erfüllen und Frieden zu haben."
„Die Stunde ist endlich gekommen", rief nun Aragorn, und seine Stimme war gebieterisch; „Ich gehe jetzt nach Pelargir am Anduin, und ihr sollt mir nachkommen. Und wenn dieses ganze Land befreit ist von Saurons Dienern, dann werde ich den Eid als erfüllt ansehen, und ihr sollt Frieden haben und auf immer dahingehen. Denn ich bin Elessar, Isildurs Erbe von Gondor." Und damit gab er Halbarad ein Zeichen; und dieser nickte und nahm das lange Bündel, das an der Seite seines Pferdes hing; und er löste die Riemen, die es zusammenhielten, und entrollte es; und nichts geschah, denn es war ein schwarzes Banner, und Beravor konnte in der Dunkelheit nichts darauf erkennen, kein Zeichen war zu sehen. Und dennoch wurde es plötzlich still, und es schien, als hielte die Welt den Atem an; und von da an war nichts mehr zu hören von den flüsternden Stimmen des Schattenheeres die ganze Nacht lang.
Aragorn wandte sich kurz zu Halbarad um und schein etwas zu flüstern, und dann verkündete er, dass die Graue Schar die Nacht am Stein verbringen würde, doch sie schlugen kein Lager auf und entzündeten keine Feuer, denn die Angst war groß in dieser Nacht unter den Dúnedain. Auch Beravor stieg von Gwaelim, und sie sah, das Istavor sich ebenfalls niederließ, und sie gesellte sich zu ihr; doch sie sprachen kein Wort, und auch die Zweisamkeit mochte den Schrecken, der um sie war, zu vertreiben. Obwohl Beravor sich hinlegte und dankbar um die Erholung für ihren Körper war, konnte sie nicht schlafen; und wenn sie doch kurz einnickte, dann hatte sie Alpträume, die schlimmer waren als die Angst, die sie wachend empfand; und so schlief sie wenig, bis die Dämmerung kam. Bald nachdem die ersten Strahlen der Sonne sich durch die kalte Luft getastet hatten, musste die Graue Schar weiterreiten; doch Beravor hatte sich in der Nacht kaum erholt; ihre Beine schmerzten und ihr Kopf war leer und voller Furcht, denn der Schrecken war immer noch nicht vergangen und weilte direkt neben ihr; und als sie aufsaß, wusste sie nicht, wie sie oder Gwaelim diesen Tag überstehen sollten.
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