17. Kapitel - Der Marsch auf der Nord-Süd-Straße

17. Kapitel – Der Marsch auf der Nord-Süd-Straße

Beravor ritt den morgenüber schweigend am Ende des Zuges; sie hatte kein Bedürfnis, mit anderen sich zu unterhalten, zu sehr beherrschte die Erinnerung an ihr Streitgespräch mit Istavor ihre Gedanken. Sie wusste, sie hatte zu aufbrausend gehandelt, ihre Meinung jedoch war gewesen, was sie gesagt hatte. Sie fürchtete den Tod, sie fürchtete die große Leere und Dunkelheit, die sie einst erwarten würde, bald oder in vielen Jahren, doch sicher und unvermeidbar wie der Aufgang der Sonne im Osten. Falls die Sonne weiterhin aufgehen würde.

Beravor hatte Istavor schon seit dem Abend nicht mehr gesehen, diese ritt nun wieder auf ihrem Pferd, sie hatte genug Kraft gesammelt; Elladan hatte ihren Gesundheitszustand für ausreichend erklärt, um wieder selbst reiten zu können; so war Istavor, vermutete Beravor, wohl an die Spitze des Zuges geritten, um ein Gespräch zu vermeiden. Beravor bewunderte Istavor für ihre Ruhe und Gelassenheit angesichts dem, was ihnen bevorstand; und sie hasste sich selbst dafür, dass sie von solch gewaltiger Furcht im Griff gehalten wurde, obwohl sie zweifellos schon öfter Kämpfe gefochten hatte, in denen ein Überleben beinahe unmöglich gewesen war. Istavor hatte von Bruchtal aus zwar, so hatte sie es erzählt, einige Streifzüge unternommen, doch hatte sie nie längere Zeit die Nächte ohne die Aussicht auf ein sicheres Heim verbringen müssen.

Beravor horchte tief in sich hinein und merkte schließlich, dass sie neidisch war auf Istavor. Sie beneidete die Waldläuferin darum, sicher aufgewachsen zu sein, sie beneidete sie darum, ein Heim gehabt zu haben, sie beneidete sie darum, ihre Eltern gekannt zu haben. Vielleicht, so dachte Beravor, erkennt sie auch nicht, was sie erwartete. Istavor hatte noch nie, so vermutete Beravor, einem Kampf auf Leben und Tod teilgenommen. Sie wusste vielleicht nicht, oder vermochte nicht richtig zu erahnen, welch Schrecken sie erwartete. Sie schien keine Vorstellung von den lodernden Feuern Barad-dûrs zu haben, von den Heerscharen der Orks und dunklen Wesen, die im Namen des Herrn der Ringe die Lande um Mordor verheerten, die Grenzen Gondors überschritten und Rohan verwüsteten. Istavor schien unwissend zu sein, dass die Aufgabe vor ihnen ihr Leben fordern würde.

Doch wusste Beravor, was vor ihr lag? In der Tat, so schien es, wusste sie sehr wenig. Sie wusste weder etwas über Aragorn, noch wusste sie, was er zu dieser Zeit in den Ländern um Rohan mit den Pferdemenschen zu schaffen hatte. Sie wusste auch nicht, was in dem geheimnisvollen Bündel eingewickelt war, das Halbarad so sorgsam mit sich trug. Fast meinte sie, man habe sie absichtlich im Dunkeln gelassen. Es schien ihr, als wäre sie von einem Boten in den Tod geschickt worden, als Werkzeug, und nicht als gleichberechtigtes Mitglied in einer Gruppe. Sie wurde in den Tod geschickt, nicht einmal genau wissend, für wen oder wofür. Sie beschloss jedoch, dies wenigstens nicht auf sich beruhen zu lassen; Halbarad ritt zwar am Anfang des Zuges, wo Beravor auch Istavor vermutete, mit welcher sie ein Gespräch zu vermeiden suchte, doch ihre Begierde, etwas über den wahren Grund ihrer Reise zu erfahren, die sich, obwohl gerade erst in ihr aufgekommen, schon gefestigt hatte und nun vor ihr stand, als könne sie durch nichts anderes wieder ans Licht gelangen denn durch die Kenntnis jener Dinge, welche sie nicht erfahren hatte und welche sie genauer zu forschen suchte, erwies sich größer als die Furcht vor einer allzu frühen Unterredung mit ihrer Freundin, der sie noch ein wenig Zeit geben wollte, sich zu beruhigen, wie sie sich auch selbst diese Zeit noch gewähren wollte, denn die Meinungsverschiedenheit sollte sie nicht trennen, sondern sie hoffte, dass sie bald einander wieder in die Augen würden sehen können und verzeihen können; und so ritt sie also nach vorne zu Halbarad, der an der Spitze des Zuges ritt, denn sie vermutete, dass, wenn überhaupt einer der Waldläufer etwas wusste, was ihre Reise in höchstem Maße betraf, dieser Waldläufer Halbarad war.

Und als sie also nach vorne ritt, da sah sie Istavor nicht, doch sie wusste nicht, ob diese sie hatte kommen sehen und sich entfernt hatte, oder ob sie zufällig an anderer Stelle ritt. Halbarad hingegen war tief in ein Gespräch vertieft mit Elladan, und es schien Beravor, als läge ein Schatten auf den schönen Zügen des Elben, wie eine große Sorge, die sein Herz bedrückte. Als Beravor näher heranritt, hörte sie die leisen Stimmen, die tiefe, etwas raue Stimme ihres Ziehvaters und die klare, wohlklingende Stimme des Elben:
„Wenn wir zu spät kommen", sagte Elladan, und er klang besorgt, „so fürchte ich, dass wir Aragorn nicht finden werden. Wir wissen, dass er zurzeit mit Théoden, dem König von Rohan, in der Nähe der Hornburg von Helms Klamm weilt, doch mit jedem Tag, der verstreicht, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er das Land verlässt, oder dorthin in Rohan reitet, wo wir ihn nicht mehr zu finden vermögen werden." Beravor wollte das Gespräch der beiden Männer nicht stören noch belauschen, doch ihre Neugierde und ihr Recht darauf, zu erfahren, was vor ihr lag, ließen sie ihre Zurückhaltung überwinden und nach längerem Schweigen der Männer vor ihr wagte sie schließlich, das Wort an Halbarad zu richten.
„Halbarad, gestatte mir eine Frage. Verzeiht, Herr Elladan, dass ich Euer Gespräch unterbreche." Elladan lächelte leicht und trieb sein Pferd ein wenig an, während Halbarad und Beravor die ihren zurückfallen ließen.
„Was begehrst du zu erfahren, Beravor?", fragte Halbarad nach einer kleinen Weile des Schweigens. Sein Gesicht war ernst, wie von Sorge zerrüttet; und obwohl in seinen Augen der wache Glanz der edlen Númenórer stetig schien, so erkannte Beravor doch, welch ungleich größere Trauer sich dahinter verbarg. Auch wenn dieser Mann standhaft, treu und weitaus mächtiger und stärker war als beinahe alle Waldläufer, so schien er doch in diesem einen Moment, in dem Beravor ihm tief in die Augen sehen konnte, doch nicht anders zu sein als ein einfacher Waldläufer; voll von Schrecken und Sorge, wissend, dass dies seine letzte Reise werden würde; und doch zugleich willensstark, tapfer und treu seinem Herrn und König ergeben. Es schien, als würde er Antworten kennen, die ihn zutiefst betrübten; doch Beravor konnte nicht länger mit ihren Fragen warten.
„Nun...", Beravor fand kaum die richtigen Worte für ihr Anliegen. Sie zögerte, Halbarad, der sie mit forschendem Blick musterte, direkt zu fragen, was sie zu wissen begehrte; und doch schien es ihr nicht der geeignete Zeitpunkt, um lange um das eigentliche Problem herumzureden; und so sprach sie schließlich mit fester Stimme, den durchdringenden Blicken ihres Ziehvaters tapfer standhaltend: „Was treibt den Herrn Aragorn in den Süden Mittelerdes, wo er doch wie wir stets die Menschen nahe Bree und die Hobbits im Auenland schützte?"
Halbarad hüllte sich lange in Schweigen. Er schien um eine Antwort zu ringen und Beravor konnte nicht erahnen, warum es dem Dúnadan so schwerfiel, ihr zu antworten. „Aragorn brach von Bruchtal aus auf, mit acht Gefährten. Boromir, der älteste Sohn des Truchsessen von Gondor, gehörte dazu, ebenso wie Gandalf, vier Hobbits, der Zwerg Gimli von Erebor und der des des Waldlandreiches Fürsten Sohn Legolas Grünblatt. Der Grund ihrer Reise ist..." Halbarad stockte, schien wieder Worte zu suchen. „Der Grund ihrer Reise... Beravor, schwöre mir, dass du den anderen Waldläufern nichts von dem sagst, was ich nun dir verraten werde, denn bereits dies widerstrebt mir." Beravor sah Halbarad an, dann hob sie die rechte Hand zum Schwur. So fuhr Halbarad fort. „Der Eine Ring wurde gefunden."

***

Merendús Kleidung war schwer. Seine Glieder waren kraftlos geworden, seine Füße nicht mehr bewegungsfähig, zu lange hatten sie erfolglos Halt suchen und krampfhaft strampeln müssen wie die Beine eines kleinen Kindes, oder die eines Käfers, der auf den Rücken gedreht worden war. Azar stand einige Schritte von ihm entfernt und wieherte schrill, immer und immer wieder. Die Geräusche schwanden; kein Widerhall war zu hören, dumpf verklangen sie im Nirgendwo. Merendú atmete schwer, seine Arme zitterten, seine Hosen würden sich wahrscheinlich nie mehr säubern lassen, diese waren wie alle seine Kleidungsstücke auch völlig durchnässt von dem dreckigen und brackigen Wasser des verfluchten Moores; dennoch hatte er den Kampf gegen den Sumpf noch nicht aufgegeben. Doch er musste wieder zu Kräften kommen; und so versuchte er nicht weiter, aus dem Sumpf zu entkommen, sondern nur, nicht weiter zu versinken. Der Umhang der Elben, der ihm in Bruchtal geschenkt worden war, damit er ihn schütze und warmhalte, zog an seinen Schultern, so öffnete Merendú den Verschluss und ließ den schweren Umhang von seinen Schultern gleiten, zäh wurde das gute Stück nach unten gezogen, Merendú jammerte der Verlust dieses einzigartigen Umhangs, der ihm so vortrefflich gedient hatte auf dem Hohen Pass in der schneidenden Kälte des dort immer herrschenden Winters und auch im Moor, als die Winde ihn und seine Gefährten angegriffen hatten, noch bevor die Orks es getan hatten. Die nächsten Sträucher waren zu weit entfernt, als dass er sie hätte ergreifen und sich daran hochziehen können. Azar hingegen stand nahe einem Baume, dessen Äste Merendú sicher aus dem Sumpf hätten ziehen können.
Azar schnaubte und sah Merendú an. Merendú wünschte sich verzweifelt, dass Azar verstehen könnte, was er sagte, doch Azar war nur ein Pferd. Ein Tier, zwar auf irgendeine wundersame Weise mit ihm verbunden, doch nach wie vor ein Tier ohne die Gabe, zusprechen oder der Menschen Worte in ihrem ganzen Sinne zu begreifen. Dennoch versuchte er es.
„Azar, du musst einen Ast dieses Baumes herunterbrechen und mich hier herausziehen!" Merendú zeigte auf den Baum, indem er eine Hand mühsam aus dem Schlamm zog, auf einen Ast, auf sich. Doch Azar verstand nicht. Natürlich nicht. Die Verzweiflung packte den jungen Waldläufer, doch er war noch nicht gewillt, sich dem Sumpf zu übergeben. Nochmals stemmte er seine Handflächen auf den Boden neben sich und wieder versanken sie, ohne seinen Körper ein Stück hinauszubringen. Stattdessen sank er noch ein Stück weiter ein. Ein leiser Schrei entrang sich Merendús Kehle. Wasser mit üblem Geschmacke rann in seinen Mund, er verschluckte sich und hustete, sein ganzer Körper verkrampfte sich dabei wie bei einem starken Fieber. Das kalte Wasser um ihn herum ließ ihn müde werden, er fühlte, wie sein Bewusstsein schwand und nur noch danach verlangte, leise in den Tod zu gleiten und all die Sorgen und Schrecken, die auf ihn warten würden, zu vergessen. Er war kurz davor, sich endlich dem Untergang hinzugeben und aus der Welt zu verschwinden, für immer dieses Leid zu verlassen, für immer alle Sorgen zurückzulassen hier in diesem grauen Sumpf, wo sie versinken mochten und ersticken, erdrückt unter der Last des Wassers.

Gerade, als er diesen Gedanken in seinem Kopf vernahm, der ihm leise Versprechungen zurief von Erlösung und Freiheit, da griff seine eine Hand, ohne dass er es wirklich zu steuern vermochte, nach einem Büschel Gras, das nicht weit entfernt von ihm aus der schwammigen und plötzlich weggleitenden Fläche an Moos und Erde spross. In der Erwartung, dass auch dieses Büschel sogleich ausreißen würde, suchte Merendú bereits nach dem nächsten, was ihm Halt geben konnte, als er bemerkte, dass gerade diese Grashalme sich fest verwurzelt zu haben schienen. Sie waren so nahe gelegen, doch aus Zufall hatte Merendú sie wohl nie ergriffen. Doch das war ihm nun herzlich egal, er konnte später auch noch den Zufall verfluchen, wenn er erst einmal aus diesem verdammten Loch gekommen war. Mit aller Kraft, die er dem Gras auszuhalten zutraute, zog er seinen Körper nach oben, und obwohl er einige Grashalme herausriss, so schaffte er es doch, seinen Oberkörper auf eine etwas festere Oberfläche zu hieven; er versank nicht unmittelbar wieder im Moor, auch wenn er spürte, dass der Grund unter ihm sofort nachgab; denn im Liegen war sein Gewicht besser verteilt, und das hielt ihn davon ab, gleich wieder alle Versuche aufgeben zu müssen und sich dem Sumpf zu übergeben.

Langsam robbte Merendú vorwärts, immer darauf bedacht, an keine Stelle zu gelangen, welche ihn nicht zu tragen vermochte; und so gelangte er schließlich immer näher zu Azar. Dieser wieherte, doch ob aus Verzweiflung oder aus Freude, vermochte Merendú nicht zu sagen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, oder so zumindest erschien es Merendú, als er so auf dem Bauch lag und mühsam versuchte, bis zu Azar zu kriechen, der auf sicherem Boden stand. Als er es endlich geschafft hatte, überkam ihn eine Müdigkeit, wie er sie seit Langem nicht mehr verspürt hatte, so allumfassend war sie; hervorgerufen durch die Kälte seiner Kleidung, die Erschöpfung in Beinen, Armen, im Geiste wie im Körper. Sie alle waren beinahe besiegt worden durch den verräterischen Sumpf, der mit allen Mitteln danach getrachtet hatte, ihn zu vernichten.

Azar stupste seinen Herrn sanft mit der Schnauze an, er schien zu spüren, wie erschöpft Merendú war, schien zu wissen, dass er seinen Herrn beinahe verloren hätte.
„Danke, Azar, mein einziger noch verbliebener und damit einziger treuer Freund", sagte Merendú leicht lächelnd, dann drehte er seinen durch die vielen nassen Kleidungsstücke schweren Oberkörper langsam auf den Rücken. Obwohl er wusste, dass er erkranken könnte, ließ er die nassen Kleidungsstücke an, schon deshalb, weil ihm nichts anderes geblieben war, das ihn wärmen könnte. Doch Merendú gelang es nicht, seinen ausgezehrten Körper aufzurichten. Kraftlos sank er darum wieder zu Boden. Ein Schauder fuhr durch seinen Körper und der junge Dúnadan schlang in dem aussichtslosen Versuch, sich selbst ein wenig Wärme zu spenden, die Arme soweit es ging um seinen Körper. Doch wie er schon vermutet hatte half dies nicht gegen die beißende Kälte, die wie Nadelstiche in seinen unterkühlten Leib stachen. Da spürte er Azars warmen Körper an seinem Rücken. Dem jungen Mann gelang es, sich auf die andere Seite zu drehen. Azar hatte sich direkt neben ihn gelegt. Merendú rückte so nah es irgend möglich war an seinen Freund heran und der warme Körper des Pferdes wärmte den kalten des Menschen.

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