~XXX.~

Tatsächlich machte er am nächsten Morgen wirklich keine Anstalten, vor Mittag das Gehöft zu verlassen. Zum Thema Verkleiden reichte er mir kommentarlos einen weinroten Mantel mit dazu passender Tasche, Hut und Schuhen. Mürrisch zog ich ebendiese Kleidung an, verstaute aber meinen Umhang unter den Decken neben mir in der Kutsche. Er machte sich sogar die Mühe, sein Kaltblut zu striegeln. Danach stand das Apfelschimmelfell nicht mehr nach allen Seiten ab und wir sahen noch mehr wie Leute aus gehobener Gesellschaft aus. Was mir allerdings Sorgen machte, waren die anderen Frauen aus der gehobenen Gesellschaft. Möglicherweise luden sie mich zu irgendeiner Feier ein und wenn sie mich erstmal unter ihre Fittiche genommen hatten, gab es so schnell kein Entrinnen mehr. Aber da hatte ich mir ganz umsonst Gedanken gemacht. Wieder einmal machte sich bemerkbar, dass ich seit Ewigkeiten nicht mehr in dieser Stadt gewesen war. Keiner beachtete uns so recht, als wir des Weges fuhren. Eigentlich schaute uns sogar niemand an, und das, obwohl wir das Stadtzentrum noch nicht einmal erreicht hatten. Dort stellte ich mir das ganze Spektakel noch schlimmer vor. Doch wir fuhren in ein Seitengässchen, welches anfangs noch von Stadthäusern, nach einer Weile jedoch von kleinen Häusern gesäumt war, an deren Fassade sich der Efeu und der wilde Wein empor rankten. Immer wieder gab es kleine Sträßchen an den Seiten, doch der Assassine fuhr stumm geradeaus, einen Umweg zum Zentrum, wie ich später bemerkte. Es war ein klarer Tag, und mein Atem wurde in der Luft als weißes Wölkchen sichtbar. Die Kälte machte den Leuten, die aufgeregt zwischen den Häusern herum zogen, sichtlich zu schaffen. An der Hauptstraße fanden sich viele kleine Läden, wie auf der Perlenschnur aneinandergereiht. Ich fand diese Atmosphäre entzückend. Ein Spielwarenladen mit Holzspielzeug befand sich neben einem Bäcker, der einen Fleischer zum Nachbarn hatte. Noch immer lag hier zermatschter Schnee und irgendwo klang ein einsames Weihnachtslied. Bald hatten wir den Marktplatz erreicht und stellten unsere Kutsche ab. Viele Stände waren hier aufgebaut, und deren Inhaber schrien um die Wette, um ihre Ware zu verkaufen. Der Assassine zog mich am Ärmel aus der Kutsche und durch die Menge hinter sich her. Er selber hatte einen schwarzen Mantel und Lackschuhe an und einen Zylinder auf. Tja, was macht man nicht alles für sein Geld. Er führte mich in ein Haus, das allem Anschein nach der Besitz eines Wohlhabenden war. Satinblaue Teppiche empfingen uns in der Eingangshalle und auf der Treppe. Es gab Marmorsockel mit goldenen Statuen darauf. Die Vorhänge waren aus schwerem Stoff und hatten die gleiche Farbe wie die Teppiche. „Willkommen", begrüßte uns ein gut gekleideter Mann und lächelte zynisch, als er uns die Hand gab. Er führte uns durch einige Flure in einen Saal. Auf dem Weg dahin beugte ich mich zu dem Assassinen und flüsterte: „Wartet hier vielleicht das Begrüßungskomitee zu unserem Aufstieg in die gehobene Gesellschaft?" Er verdrehte die Augen. „Natürlich nicht. Wenn ich Euch erinnern darf, Ihr seid noch immer meine Gefangene." Nun war es an mir, die Augen zu verdrehen. „Ich dachte, Ihr mögt mich." „Ich erfülle hier nur meinen Auftrag. Ab da seid Ihr nicht mehr meine Gefangene." Eindringlich sah er mich an, wobei dieser Augenblick schon nach ein paar Sekunden wieder vorbei war, weil wir einen großen Raum betreten hatten. Ich hatte ihn fälschlicherweise für einen Saal gehalten. Er hatte jedoch nichts Feierliches an sich. Das einzige Möbelstück in diesem Raum war ein blank polierter Schreibtisch aus Eichenholz am Ende des Raumes. Ich wunderte mich etwas ob dieser sparsamen Möbelierung angesichts der Eingangshalle. Ein sehr aufrecht sitzender Mann mit hart blickenden Augen begrüßte uns wortlos. Diese Kälte kroch mir meinen Nacken hinauf in Form von Gänsehaut. Unter seinem wachsam-kritischen Blick wäre ich am liebsten im Boden versunken. Ich widerstand dem Drang, mich an den Arm des Assassinen zu klammern. ‚Nur keine Schwäche zeigen, nur keine Schwäche zeigen...' Eigentlich absurd, meine Gedanken. Ich kannte den Namen dieses Mannes ja noch nicht einmal. Wieder einmal wünschte ich mir, es wäre Aragorn, der hier neben mir stände. Doch mit ihm wäre ich ja nicht in diesem Schlamassel.

Der glatzköpfige Mann vor uns räusperte sich vernehmlich, und die Beine des Stuhls scharrten über den Steinboden, als er sich erhob. „Hat sie sich sehr widersetzt?", fragte er.

Der Assassine trat einen Schritt zur Seite. Unwohl wippte ich auf und ab, als mich der kaltherzige Mann wie einen Gaul auf dem Markt umrundete und genauestens unter die Lupe nahm.

„Nein, Herr, ich knebelte sie zuvor", meinte der Assassine unterwürfig. Der Glatzkopf quittierte die Aussage mit einem kurzen Nicken.

„Hatte sie ihn bei sich?", bohrte er weiter.

„Nein, Herr, ich konnte ihn nicht finden." Sichtlich nervös stierte er zu Boden, als ob er „ihn", wer oder was das auch immer sein sollte, dort finden könne.

Abrupt hielt er in der Bewegung inne. „Sie hatte die Kette nicht bei sich? Nicht den Abendstern, der den Elben Unsterblichkeit zusichert?", brauste der Mann auf.

„N... nein, sie hatte ihn nicht um den Hals..."

„Und dann hast du es auf sich belassen?" Mit unverhohlenem Zorn starrte er dem Assassinen in die Augen.

„Natürlich nicht, Herr, sie hatte ihn nicht bei sich." Ruhig blickte er zurück in die dunklen Augen des Mannes.

„Und, hast du ihn bei dir?" Mit einer energischen Bewegung drehte er sich zu mir um und beobachtete erwartungsvoll meine Lippen, dass sie endlich die Antwort sagten.

„Ja." Trotzig hob ich den Kopf und erwiderte seinen kalten Blick. Der Assassine sah mich fragend an.

„Wo?"

Ich öffnete meinen Mantel, griff unter den ledernen Wams in eine Tasche und holte den Abendstern hinaus.

„Ahh." Freudig streckte er seine Hände danach aus und betrachtete ihn eingehend. Dann stutzte er. „Das ist nicht der Abendstern, den ich suche. Das ist nicht die Elbin, die ich suche!" Erzürnt deutete er zur Tür. "Geht mir aus den Augen, ehe ich mich vergesse! Und lass dich nicht blicken, ehe du das richtige Mädchen in deiner Gewalt hast!"

„Wenn ich noch bitten darf...?" Fordernd hielt ich meine Hand auf und schaute ihm in die funkelnden Augen.

Verärgert warf er mir den Abendstern zu und drehte sich dann energisch um. „Geht!"

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