~XXVI.~
Nach einiger Zeit kam der Kellner wieder. Er stellte eine Schüssel mit dampfender Suppe vor Aragorn ab. „Danke", sagte dieser und rührte etwas mit dem Löffel in der Schüssel herum. Der Kellner neigte den Kopf und lief zum nächsten Tisch, wo er klappernd die Teller einsammelte. Aragorn schlürfte vorsichtig etwas von der Suppe, dann zuckte er ruckartig zurück und fluchte leise auf Elbisch. „Heiß?", fragte ich mitfühlend, obwohl ich die Antwort längst kannte. Daraufhin verzog er nur mürrisch das Gesicht und schlürfte weiter. Achtsam drehte ich mich wieder zu dem Assassinen um. Seine bernsteinfarbenen Augen blitzten gefährlich auf, als sie durch den Raum schossen.
Ich war sehr froh, dass ich nicht alleine war. Als ich zu Aragorn schaute, merkte ich, dass er mich musterte. „Warum sollte er es auf dich abgesehen haben?" Damit sprach er die Frage aus, die mich schon die ganze Zeit beschäftigte.
„Warum wohl? Ich bin verbannt. Sie brauchen keinen Grund, um mich zu jagen und töten." Fest blickte ich ihm in die Augen, bis er den Blick wandte. „Das ist sicher schlimm", meinte er knapp. Schweigend löffelte er seine restliche Suppe auf. Gleich darauf kam der Kellner und räumte die Schüssel ab.
Sofort gingen wir wieder in unser Zimmer. Im Bad wusch ich mein Gesicht, zog meine schmutzige Oberbekleidung aus und klopfte sie etwas ab. Für Waschen war es bereits zu spät. Sie würde nicht mehr trocken werden.
Nachdem all das erledigt war, ging ich zurück in das Zimmer und legte mich schnell unter meine Decke, vielleicht, weil es relativ kalt war, vielleicht aber auch, weil ich mir die Erniedrigung ersparen wollte, Aragorn in meinem Wollhemd, was sonst immer unter meinem Oberteil verborgen war, gegenüberzustehen. „Bist du müde?", fragte Aragorn in die Stille hinein, die nur durch das leise Rascheln seiner Klamotten gestört wurde.
„Natürlich", antwortete ich, und meine Stimme klang ungewohnt rau, als hätte ich sie lange nicht benutzt. „Nur dass ich mich durch diese Tatsache draußen nie beeinflussen lassen würde." Wie zum Protest schlich sich ein Gähnen in meinen Mund und nahm Besitz von mir. Amüsiert erwiderte Aragorn: „Der Schlaf tut dir bestimmt gut."
„Wollen wir hoffen. Du sollst ja nicht umsonst zehn Silbermünzen bezahlt haben."
Dann rollte ich mich unter der Decke zusammen wie ein Embryo und schloss die Augen, doch ich hörte noch, wie Aragorn mich still musterte, bevor er ebenfalls zu Bett ging.
Am nächsten Morgen war ich schon lange wach, bevor die Sonne durch die milchigen Fensterscheiben schien. Im Halbdunkeln hatte ich mich schnell angezogen und, um Aragorn nicht zu wecken, war ich an seinem Bett vorbei zur Tür und in die Gaststube geschlichen. Dort bestellte ich mir gebratenen Schinken und Spiegeleier mit Brot. Als die Bedienung gegangen war, blickte ich mich aufmerksam in der Gaststube um. Alles war noch leer, wahrscheinlich schliefen die Gäste noch. Der Raum war nicht beleuchtet, vermutlich, weil die Sonne sowieso bald durch die Ostfenster scheinen und den Raum erhellen würde. Ein tiefer Schatten war unter der Treppe und auch hinter der Tür zur Küche lag Dunkelheit. Es wäre für andere nun ein leichtes, sich in den Schatten vor meinen Blicken zu verbergen, denn auch meine Elbenaugen vermochten in der tiefen Finsternis nichts zu erkennen. Mein Frühstück wurde kurz darauf dampfend auf einem Tonteller serviert. Genüsslich verspeiste ich es und brachte mein Geschirr gleich mit nach vorne, weil ich noch etwas hinausgehen wollte. Draußen wehte ein kalter Wind. Ich zog meine Kapuze tiefer ins Gesicht und war ehrlich dankbar dafür, dass ich diese Nacht in den warmen vier Wänden dieses Gasthofes verbringen durfte. Die Luft war klirrend klar und eiskalt, noch von der Nacht. Am heutigen Tag würde es wohl wieder Neuschnee geben, denn der Wind wehte die dicken Schneewolken aus Westen direkt zu den Wetterbergen, an denen sie hängen bleiben und ihre Ballast loswerden würden, damit sie über das Gebirge weiterziehen konnten. Auch nahm mein scharfes Elbengehör die Tiere wahr, die im Schnee nach ihren Vorräten scharrten. Irgendwo kochte jemand einen Eintopf und der Duft zog durch die engen Gassen. Was ich allerdings nicht bemerkte, war, wie der Assassine sich aus den Schatten löste und mir folgte. Ich hatte nicht vor, mich weit von dem Gasthof zu entfernen und meine Beine schlugen den Weg in ein kleines Seitengässchen ein. Dort betrachtete ich die Hauswände. Die Fenster in den meisten Häusern waren noch dunkel, doch vereinzelt drang etwas Kerzenlicht durch die schweren Leinenvorhänge. Gerade wollte ich mich wieder umdrehen und gehen, als sich eine starke Hand über meinen Mund legte und meinen Schrei schon im Keim erstickte. Eine andere Hand packte mich an der Hüfte und trug mich in ein leer stehendes Haus. Er schloss die Tür, ohne mich loszulassen. Im schwachen Dämmerlicht des Morgens erkannte ich die harten Gesichtszüge des Assassinen. Jedoch hatte ich den ersten Schock hinter mir und konnte mich wehren. Gezielt trat ich zu und wand mich schließlich aus seinem Griff. Ich verpasste ihm noch einige Faustschläge in den oberen Bereich, sodass er zurücktaumelte und rannte dann schnell zu einem Fenster. Mit von der Aufregung schwitzigen Fingern gelang es mir erst nicht, das Fenster zu öffnen. Der Assassine bewegte sich auf mich zu. Hektisch zerrte ich an dem Griff und riss es schließlich auf. Er streckte seine Hand nach mir aus und wollte mich wieder packen, doch ich trat ihm ein letztes Mal vor die Brust und kletterte dann aus dem Fenster.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top