~XXII.~

In weiterer Entfernung meinte ich Thymian zu erkennen. Beim Näherkommen merkte ich, dass mich meine Augen nicht getäuscht hatten. Ein ganzes Büschel wuchs dort, teilweise erfroren, aber im Winter konnte man nichts Besseres erwarten. Schnell griff ich nach meinem Messer und schnitt die Pflanze unten ab. Sie war bekannt für ihre Heilkraft gegen Atemnot, aber auch als Gewürz war sie beliebt. Sie würde also auf jeden Fall Anwendung finden. Auch sie steckte ich in meine Tasche und wollte gerade das Messer zurück an meinem Gürtel befestigen, als ich eine Pfefferminzstaude entdeckte. Jedoch musste ich bald feststellen, dass von ihr nicht mehr viel übrig war außer dem Stängel. Anscheinend war sie nicht nur bei Heilern sehr beliebt, sondern ebenso bei Gämsen und Ziegen. Darum machte ich mir aber jetzt weniger Sorgen. Der Frühling würde kommen, da konnte ich jede Menge Kräuter sammeln, doch erstmal hatte ich das Wichtigste. Einige Wolkenfetzen waren über den Himmel gezogen, und der Wind trieb mir eiskalte, winzige Eiskristalle ins Gesicht. Eilig suchte ich wieder die Hütte auf und ging gleich zu Aragorns Liege. Dort stellte ich meine Tasche ab und holte die Knolle des Eisenhuts heraus. Der alte Greis war inzwischen wieder draußen bei seinen Ziegen, wie ich durch die fast blinden Scheiben erkennen konnte. Mit geübten Schnitten zerkleinerte ich die Wurzel und schmiss sie in eine Schüssel. Eilig ging ich hinaus, um Wasser von dem Brunnen zu holen. Als ich gerade so viel hatte, dass die Eisenhutstücke vom Wasser bedeckt waren, ging ich wieder hinein und stellte die Schüssel auf den Boden. Ich setzte mich im Schneidersitz davor und versuchte mich an jene Zeit zu entsinnen, da ich vom Hexenkönig unterwiesen wurde. Wir befanden uns an einem kleinen Bach auf einer Waldlichtung, und ich war noch jung, im Verhältnis jedenfalls. Dort saßen wir und er sagte die Worte, etwas, das ich nie vergessen sollte. Fast wie in Trance murmelte ich ebendiese Worte und ließ meine Hand über der Schüssel kreisen, während die Erinnerungen an mir vorbeischossen. So saß ich noch lange, auch, wenn ich den Zauber schon längst vollbracht hatte. Plötzlich tauchte vor meinem inneren Auge der Eine Ring auf, in dem sich Saurons Auge spiegelte. Der Ring fiel auf staubigen Boden, und ich sah, wie der Hexenkönig begierig die Hand nach ihm ausstreckte. Dann, auf einmal, ertönte eine riesige, laute Trommel, von einem großen Höhlentroll gespielt. Saurons Armee marschierte aus dem Schwarzen Tor direkt Richtung Osgiliath. Der Lärm wurde lauter, stieg mir zu Kopf.

Erschrocken riss ich die Augen auf, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Der Greis stand in der Tür und musterte mich besorgt.

„Alles in Ordnung?", fragte er.

„Ja, ja... natürlich..." Ich musste schlucken, um weiterreden zu können. „Ich habe mich nur an etwas erinnert, das lieber vergessen bleiben sollte." Damit stand ich auf, um den Trank zu Aragorn zu bringen. Neben ihm blieb ich stehen und betrachtete ihn eine Weile. Ich flüsterte wieder und wieder einige Worte, elbische Worte. Dann zeichnete ich ihm mit meinem Finger das Symbol für Heil auf die Stirn und hieß ihn, die Schüssel in einem Zug zu leeren. Er tat es. Ich sprach noch einmal die Worte, zum letzten Mal. Dann ließ ich ihn allein.

Es war schon lange dunkel, als der Greis und ich noch in der Küche saßen. Ich hatte etwas Dörrfleisch gegessen, Aragorn jedoch schlief noch. Gerade blickte ich zum schwarzen Himmel aus dem getrübten Fenster, als ich einen dumpfen Aufprall eines etwa erbsengroßen Gegenstands hörte. „Der Sturm fängt an", meinte ich nur und lief eilig nach draußen. Der Greis folgte mir so schnell es ging und zeigte mir seine kleine Scheune für die Ziegen. Da konnte sich Nocturîan noch mit hineinstellen. Ich rief ihn und er kam sofort. Die Herde folgte ihm zögernd, dann rochen sie ihren Besitzer und liefen beruhigt in den Stall. Bald schon wurde der Hagel schlimmer und wir schlossen schnell das Tor zum Stall, um wieder ins Haus gehen zu können. In der Hütte lauschten wir, ja, fast andächtig dem regelmäßigen ‚Plopp', das die Hagelkörner bei ihrem Aufprall auf das Dach verursachten. Nach einiger Zeit fing der Greis zu reden an. „Jene Zeit, da der eine Ring verschwand, war eine heilbringende Zeit. Saurons Gewaltherrschaft endete und sein Schlachtruf verstummte. Es war, als wäre er vernichtet. Doch sagt, wer seid Ihr, dass ihr so gut über die Geschehnisse draußen in der Welt Bescheid wisst?" Neugierig glänzten seine Augen im dämmrigen Licht der Öllampe.

Ich blickte ihn an. „Ich bin nur eine Waldläuferin. Auf seinen Reisen erfährt man so dies und das. Auf den Märkten wird gemunkelt, dass Sauron auch elbische und menschliche Späher hat. Und dass sie in Form von Vögeln am Himmel erscheinen."

„Ihr seid noch jung." Als er lächelte, fiel mir auf, dass ihm beide vorderen Schneidezähne fehlten. „Wie lange seid Ihr denn schon eine Waldläuferin?"

„Glaubt mir, dass ist ein Trugschluss. Schon lange wandere ich umher, Jahrzehnt um Jahrzehnt erneut, und schon so lange, dass ich es gar nicht mehr genau weiß."

Der alte Einsiedler zog eine Augenbraue hoch. „Wie viele Sommer habt Ihr denn schon gesehen? Ihr sagtet, Ihr seid nicht jung, und doch strahlt Ihr eine solche jugendliche Schönheit aus. Wer seid Ihr?"

Mein Blick wurde hart. Das Gespräch schwenkte nun langsam eine Richtung ein, die es meiden sollte. Zwar glaubte ich nicht, dass der alte Mann über elbische Kontakte verfügte und mich verraten würde, aber trotzdem war Vorsicht geboten. Wobei, er war nur ein alter, verrückter Einsiedler. Also was würde er denn für einen Schaden anrichten können? „Ich bin eine Elbin, Emewýn Palantîr."

Seine Augen wurden groß. „Eine Elbin... Sagt, seit wann zieht Ihr durch die Landen? Oder besser, seit welchem Ereignis?"

Ich zögerte. Wenn ich ihm nun die Wahrheit sagte und danach, wie geplant, schlafen ging, würde er alles vergessen, doch er würde sich die Zeit merken, seit der ich in Mittelerde umherzog. Er würde es dann möglicherweise anderen Elben erzählen, die hier vorbeikamen oder anderen Menschen, ungebunden und ahnungslos. Wenn das Elben zu hören bekämen, wüssten sie vermutlich recht schnell, wer dort war. Wenn ich log, trüge ich für alle Zeit die Last der Lüge auf mir. Doch es war sicherer, zumindest für vorerst. „Seit dem Ende des Ringkriegs."

„Doch sagt, wo habt Ihr gelernt, die Magie zu beherrschen?", fragte er.

Leise lachte ich auf. „Die Magie beherrsche ich nicht, nur auf dem Bereich des Heilens. Früher, noch bei meiner Mutter und vor dem Ringkrieg nahm ich, weil ich wissen wollte, wie Magie funktionierte, Unterricht bei dem Hexenkönig von Angmar. Natürlich bevor er sich abwandte und Sauron folgte. Er unterwies mich im Heilen, jedoch zog unsere Familie von Bruchtal nach Düsterwald, da mein Vater im Krieg gestorben war. Wir alle wollten um ihn trauern. Einige Tage waren wir dort, vielleicht auch Wochen, ich weiß es nicht mehr. Doch der Hexenkönig forderte mein tägliches Erscheinen. Da dies aber nicht machbar war, sah ich mich gezwungen, meine Ausbildung abzubrechen. Ich aber nahm mir vor, sie wieder aufzunehmen, wenn wir zurückkamen. Doch bevor wir das taten, stellte sich heraus, dass der Hexenkönig nun Sauron folgte und seine Marionette war. Der Ringkrieg brach aus und wir versteckten uns mit den anderen Frauen und Kindern im geheimsten Winkel Düsterwalds."

Dass die Wirklichkeit ganz anders aussah, konnte er ja nicht ahnen. ‚Leichtgläubiger Narr.' Nachdenklich nickte er. „Das war sicher keine schöne Kindheit."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top