~XLVI.~
Mit einem Mal schienen alle Stimmen im und um das Gefängnis zu schweigen, als haben sie alle nur auf diesen Moment gewartet. Vor mir stand Miréla, Haldirs Schwester. Wieso war sie zu mir gekommen? Und woher hatte sie überhaupt gewusst, wo ich war?
„Woher wusstest du...?" Ich deutete mit dem Kopf auf meine Umgebung.
„Ein Vöglein hat es mir ins Ohr gezwitschert", meinte sie verschmitzt und grinste schief. Fragend hob ich die Augenbrauen.
„Okay, Àri ist nicht der Beste im Schweigen."
„Verstehe." Mit gesenktem Kopf nickte ich. „Und was...?"
„Ich habe so einiges erfahren, was du vielleicht wissen willst. Über die Ursache aller deiner gegenwärtigen Probleme." Vieldeutig schaute sie mich an. Etwas irritiert runzelte ich die Stirn.
„Komm, setzen wir uns dazu", schlug sie vor und ließ sich auf der Liege nieder. Dabei blitzte ein bodenlanges, hellblaues Kleid unter ihrem Umhang auf. Wir waren einmal gute Freunde, ja, sogar so etwas wie Schwestern gewesen, da ich damals gute und enge Freundschaft mit Haldir pflegte.
Während unseres Gespräches war mir aufgefallen, wie schnell wir wieder in unsere alte Umgangsweise zurückgefunden hatten.
„Also..." Sie stockte. „Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wo ich anfangen soll..." Ihr Blick schweifte zu der kleinen Luke. „Vor ein paar Tagen habe ich ein Gespräch belauscht", begann sie zögerlich. „Zwischen Haldir und Mutter. Nun ja, es war mehr ein Streit. Ihre Stimmen konnte man sogar im Nachbarzimmer hören."
„Um was ging es?", erkundigte ich mich und schaute ihr eindringlich ins Gesicht.
„Wen, meinst du. Es ging nämlich um dich."
„Mich? Wieso?", fragte ich überrascht.
„Ja, mich hat es auch gewundert. Da habe ich aufgehorcht. Sie redeten über deine Verbannung. Das war schon so lange her und ich wollte wissen, warum und vor allem was sie wieder hervorholten. Diese Diskussion war sehr unübersichtlich und soweit ich es mitbekommen habe, fing es an, als du Magieunterricht beim Hexenkönig von Angmar genommen hast."
„Das war lange bevor der Verbannung", bemerkte ich verwirrt.
„Eben. Das kam mir auch seltsam vor. Also habe ich an der Wand gelauscht, obwohl sich das ja wirklich nicht ziemt, noch dazu für eine Frau. Ich habe gehört, wie sie sagten, dass dein Vater den Assassinen sehr zugeneigt war. Er hat Informationen an sie verkauft."
Ich atmete scharf ein. Miréla blickte besorgt zu mir. „Was für Informationen?"
„Informationen über dich. Er hat den Assassinen verraten, dass du einen wertvollen Abendstern besitzt, ein seltenes Metall; das zu verkaufen hätte viel Geld eingebracht. Aber deine Mutter hat es vorher erfahren. Sie war krank vor Sorge um dich. Also hat sie Haldir überredet, ein Attentat auf Celeborn, Galadriel und Elrond zu inszenieren. Natürlich sollten alle Hinweise zu dir führen. Haldir fiel es schwer, dich zu verraten, ebenso wie deiner Mutter."
„Zu der Zeit waren Haldir und ich verstritten. Ich glaube nicht, dass mich zu verraten ihm so schwer gefallen ist", meinte ich mit gerunzelter Stirn.
„Haldir war zwar wütend auf dich, aber es wäre ihm niemals eingefallen, das Mädchen zu verraten, das wie eine Schwester für ihn war. Glaub mir, es bedurfte aller Überredenskünste meiner Mutter, ihn dazu zu bringen. Sie war auch eingeweiht. Aber sonst wusste kaum jemand um die Wahrheit. Für die Leute warst du nur die aufmüpfige Gesetzesbrecherin, die zurecht verbannt worden war. Genau das hatte auch deine Mutter bezweckt; dass bei deiner Verbannung dein Abendstern genommen und durch einen normalen ersetzt wird. Somit warst du außer Gefahr und für die Assassinen wertlos."
Meine Augen irrten wild durch meine Zelle und Tränen verschleierten meine Sicht. Meine Vergangenheit, meine Trauer, all das, was ich die letzten Jahrhunderte so erfolgreich verdrängt hatte, wurde nun an die Oberfläche meines Bewusstseins gespült. Wie ein Wasserfall stürzte es auf mich ein und ich wurde mit den Fluten mitgerissen.
Nur weit entfernt hörte ich die mitleidige Stimme von Miréla auf mich einreden. „Glaub mir, deine Mutter hat dich immer geliebt. Es hat ihr das Herz gebrochen, das tun zu müssen."
Verzweifelt kämpfte ich gegen weitere Tränen an. Schmerzvoll krümmte ich mich zusammen und drückte mein Gesicht in meinen Umhang, den Mund wie zu einem stummen Schrei geöffnet. Plötzlich verspürte ich statt Trauer nur noch eine unglaubliche Wut in meinem Bauch brodeln. Nur meiner geübten Selbstkontrolle hatte ich es zu verdanken, dass ich meine Zerstörungswut im Griff behalten konnte. „Was ist mit meiner Schwester, Lûthien?" Ich hob den Kopf und blickte die blondhaarige Elbin befremdlich an.
„Sie hat es nicht gewusst."
Ein Knurren grollte leise in meiner Kehle. „Mutter hat es ihr nicht gesagt."
Miréla legte mir eine Hand aufs Bein. „Du kannst nicht ewig auf sie wütend sein. Das hat sie nicht verdient."
„Doch. Ich bekomme die Verbannung und die Abweisung jeden Tag aufs Neue zu spüren."
Sie seufzte. „Wenn ich doch nur etwas wüsste, womit ich dich trösten könnte..."
„Ich brauche keinen Trost." Meine Stimme hörte sich kalt und rau an. Fremd, als ob sich eine andere Person in mir verstecke. Ich erinnerte mich an ein Sprichwort. Jede Person hat zwei Seiten.
Die hübsche Frau betrachtete eingehend den Pflastersteinboden. Dann schaute sie zwischen mir und dem Eisengitter hin und her.
„Dein Vater wurde kurz nach deiner Verbannung verhaftet."
„Richtig so. Ist die Todesstrafe schon vollstreckt worden?"
„Dein Vater wurde nur für die Zusammenarbeit mit Assassinen verhaftet. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er getötet wird." Miréla blickte mich bedeutungsvoll an.
„Aber er hätte beinah seine Tochter umgebracht!", protestierte ich und meine Stimme schwoll an, sodass die benachbarten Gefangenen neugierig den Kopf hoben. Sofort senkte ich meine Stimme. „Das weiß Elrond doch. Oder?"
Sie schüttelte ihren Kopf, und ihre goldenen Haare, die viel zu sehr leuchteten für diesen Ort, hüpften auf ihrem Rücken. „Wie gesagt, niemand weiß um die Wahrheit. Das war ja auch der Anlass für dieses Gespräch. Haldir findet, es sei endlich die Zeit gekommen, es allen zu verkünden, damit du wieder glücklich in deiner Heimat leben kannst."
„Das kann ich nicht mehr. Nicht, nachdem ich so viele Jahre glaubte, man hätte mich verraten. Außerdem wäre es nur eine neue Zugehörigkeit, die ausgesprochen in der Luft liegen und keinen Platz im Herzen der Elben finden würde. Dafür ist zu viel Zeit vergangen. Ich habe zu viele Winter allein verbracht. Ich würde mich nicht mehr anpassen können."
„Ich verstehe das. Auch meine Mutter hat gemeint, dass es keine gute Idee wäre, weil dann nämlich deine Mutter und Haldir eine Gefängnisstrafe erhalten würden. Auch wenn es nur ein Handeln aus Not war. Und dein Vater würde getötet werden." Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr, die ihr ins Gesicht gefallen war.
„Verstehe." Müde seufzte ich. Ich bemerkte die Ungeduld in Mirélas Blick, als sie sich in meiner Zelle umsah und unruhig an das hölzerne Bein der Liege trommelte.
„Du kannst ruhig gehen, wenn dir danach ist. Ich halte dich nicht fest."
Dankbar flog ihr Augenmerk zu mir. „Ich muss Irene in der Küche helfen und darauf achten, dort aufzutauchen, bevor meine Mutter mein Fehlen bemerkt."
Respektvoll neigte ich den Kopf. „Danke, Miréla. Lebe wohl."
Sie erwiderte diese Geste und erhob sich. Klappernd fiel die Gittertür ins Schloss. Gleich darauf kam der mürrische Wärter und verschloss sie.
Nun war ich wieder allein.
Inzwischen war die Sonne dem Horizont schon gefährlich nah und ich rollte mich unter der kratzigen Decke zusammen. Doch trotz der übermächtigen Müdigkeit konnte ich nicht einschlafen. Dazu hatte ich zu viel Stoff zum Nachdenken. Und Zeit.
Letzten Endes schlummerte ich erst ein, als Sterne durch die Luke blitzten und mich schlafen hießen.
Es dämmerte schon, als ich wieder die Augen öffnete. Ein seltsames Geräusch ließ mich aufstehen und zum Fenster gehen. Es klang fast wie... Huftritte. Aber wo sollten die herkommen? Neugierig reckte ich mich und blickte über den dunklen Marktplatz. Nichts, nur Dunkelheit. Ich wollte mich gerade abwenden, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Ich sah genauer hin. Ein Schweif, ein Kopf, lange Beine... es musste sich um ein Pferd handeln. Sollte eines von einem Bauern entlaufen sein? Womöglich. Doch...
Vorsichtig betrat es den Marktplatz. Drehte seine zierlichen Ohren in alle Richtungen. Als der Mondenschein sein reines, weißes Fell berührte, erkannte ich Nocturîan. War er mir gefolgt? Zielstrebig lief er auf mich zu. An meiner Luke angekommen, senkte er den Kopf und prustete mich an. Ich berührte seine Nüstern mit der Hand, die ich durch die verrosteten Gitterstäbe steckte. Er schien mich etwas fragen zu wollen.
„Noch musst du Geduld haben, mein Junge. Bald komme ich wieder. Warte auf mich."
Der Hengst wieherte leise und drehte sich wieder um. So geheimnisvoll, wie er aufgetaucht war, verschwand er auch wieder. Meine Worte echoten in meinem Kopf, als ich ihm nachblickte. Bald komme ich wieder. Aber wie lang ist bald?
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