~XIX.~

Die nächsten Stunden beobachtete ich Aragorn heimlich von einem hohen, aber verborgenen Felsen. Er saß nur da wie traumatisiert und hob Steine auf, um sie dann wieder wegzuwerfen. Es machte mich noch viel trauriger, jemand anderen leiden zu sehen als selbst zu leiden. Vielleicht war das der Grund, warum ich die Gesellschaft mied. Ich fühlte mich schuldig, oh, wie gerne wäre ich gestorben! Frei zu sein musste sich unglaublich gut anfühlen. Irgendwann konnte ich mich nicht mehr halten und eine eiskalte, einsame Träne rollte über meine Wange. Ich wischte sie mit der Hand weg und betrachtete sie. Wunderschön, solange sie ganz war. Mit meinen Gedanken versuchte ich sie zu beeinflussen. Ich träumte davon, Wasser und Eis zu beherrschen, den Schnee zu steuern und den Sturm zu lenken. Doch das waren wohl diese Träume, die niemals in Erfüllung gehen. Mit einem dumpfen Pochen traf sie auf den staubigen Boden. Wie ein Kristall zersprang sie und würde niemals mehr ganz sein. Oh, was für eine Trauer. Tränen fingen in großer Zahl an aus meinen Augen zu laufen und ich rollte mich zusammen, den Mund schon aufgerissen für einen Schrei, doch ich blieb still. Stille ist der lauteste Schrei.

Am nächsten Morgen wachte ich zeitig, jedoch unausgeschlafen und traurig auf. Doch meine Traurigkeit schob ich beiseite, jetzt ging es ums Überleben. Ich rieb mir über die Augen und stand auf. In einer nahen Pfütze Tauwassers betrachtete ich mein Spiegelbild. Rote Augen, die hatte ich zum Glück nicht. Nichts deutete darauf hin, dass ich am Abend zuvor so schwach reagiert hatte. Nur meine Haare waren das reinste Durcheinander. Ich würde sie wohl kämmen und waschen müssen, wenn wir die nächste Ortschaft erreichten. Erschöpft, aber sehr wohl aufbruchsbereit ging ich in die Höhle. Nocturîan stand an einem Felsen und rieb sich das Fell. Als ich kam, wieherte er leise zur Begrüßung und tastete mich mit den Nüstern überall ab, ob es mir auch ja gut ging. Aragorn machte ich als zusammengekauertes Bündel an der Felswand aus. Er schlief noch. Vorsichtig, weil ich ihn nicht wecken wollte, schlich ich zum Ausgang, um mich über die derzeitige Wetterlage zu informieren. Der Schneesturm hatte sich gelegt, nur ein energischer Wind war geblieben, der den Schnee von den großen Schneewehen verwehte, die der Sturm aufgetürmt hatte. Die Sonne schickte ihre wärmenden Strahlen zum Boden. Der Schnee funkelte entzückend in dem goldenen Licht. Trotz des Wetters ging ich wieder in die dunkle Höhle, um nach Aragorn zu sehen. Noch immer hörte man seine gleichmäßigen, tiefen Atemzüge, die den Raum füllten. Behutsam kniete ich mich nieder und beugte mich über ihn, damit ich sein Gesicht sehen konnte. In dem Moment öffnete er die Augen. „Du lebst ja noch, Nienná", flüsterte er mit einer rauen Stimme. „Natürlich. Warum sollte ich tot sein?" Er wand sich unter den Decken, es schien ihm erst zu warm und dann zu kalt zu sein. „Gestern bist du doch erfroren. Weißt du noch? Draußen, im Schnee." „Pff." Mit einer wegwerfenden Handbewegung schob ich es beiseite. „Ich glaube, du bist nicht ganz bei Sinnen. Ich werde dir jetzt jedenfalls erst einmal eine Suppe machen." Ich drehte mich um und lief zur Feuerstelle, die jetzt fast erloschen war. Schnell holte ich etwas Holz von einem aufgestapelten Haufen in der Ecke und legte es daneben. Dann kniete ich mich nieder und pustete in die Asche. Sie wirbelte mir ins Gesicht. Doch bald erkannte ich Glut, die ich durch die Sauerstoffzufuhr anfachte. Funken stoben, als ich ein letztes Mal pustete. Ich richtete mich wieder auf. Noch konnte man keine Flammen sehen. Tastend suchte ich die Holzstücke, fand sie auch und legte sie auf die Glut. Dann pustete ich nochmals. ‚Geh an, na los!' Plötzlich knisterte es und ich sah kleine Flammen an dem trockenen Holz emporklettern. Nun stand ich wieder auf, um Zutaten für die Suppe zusammen zu suchen. Ein Stöhnen kam aus der Ecke, in der Aragorn lag. Besorgt blickte ich zu ihm, doch es gab nichts, was ich für ihn hätte tun können. Ich hatte ja noch nicht einmal Heilkräuter und im Winter in den Bergen fand man mit Sicherheit auch nicht mehr. ‚Nächsten Sommer werde ich welche trocknen und immer mitnehmen.' Nach einigem Wühlen und Überlegen tat ich das schon gebratene Fleisch und etwas Salz, das ich immer bei mir hatte, in die alte, metallene Schüssel. Eine Zeit lang ließ ich es vor sich hin köcheln, dann holte ich Aragorn. Er sah schlimmer aus als vorhin. Halb trug, halb schleifte ich ihn zur Feuerstelle und ein Stückchen humpelte er auch selbst. Dort fasste ich ihm an die Stirn. Er hatte eindeutig Fieber. Schnell füllte ich ein bisschen Suppe in eine kleine Holzschale um, aus der er auch ohne Probleme trinken konnte. Allerdings traute ich ihm nicht das nötige Bewusstsein zu, also reichte ich noch einen schrägen Holzlöffel mit hinzu. Ich hatte ihn vor langer Zeit einmal selbst geschnitzt, doch mein Geschick dabei hielt sich in Grenzen. Deshalb war er krumm. Während er brav aß, trat ich hinaus und suchte die Gegend ab, ob hier irgendein fester Unterschlupf zu finden war, damit ich ihn nicht am Berg zu behandeln brauchte. Natürlich konnte ich ihn heilen, doch die Sache hatte einen Haken: Ich hatte keine Kräuter und wusste erstens nicht mit Bergkräutern umzugehen und zweitens bezweifelte ich, dass um die Jahreszeit noch irgendetwas wuchs. Das Wetter war so günstig zum Wandern. Warum musste Aragorn gerade jetzt krank werden? Die Frage konnte ich mir jedoch selbst beantworten. Trotz allem beschloss ich weiter zu ziehen und ging wieder in die Höhle, um alles zusammenzupacken. Aragorn hatte schon fertig gegessen, als ich kam und die Schale kullerte nun über den Steinboden. Ärgerlich hob ich sie auf, dann besann ich mich jedoch wieder und packte alles ordentlich ein. Meine kleine Ledertasche, meinen Köcher und meinen Bogen trug ich selbst, während ich Aragorn auf Nocturîan setzen wollte. Jedoch konnte er, wie mir bald klar wurde, sich nicht alleine festhalten, sodass wir fast alle zwei Meter anhalten mussten, um ihn wieder richtig hinzusetzen. Nocturîan geriet durch die Last und den steinigen Berghang ins Schwitzen. Immer wieder rutschte er aus oder stolperte, und jedes Mal hielt ich dagegen. Zwar konnte ich das große Gewicht nicht ganz in der Bewegung aufhalten, doch die Zeit reichte, dass er sich wieder aufraffte. Eigentlich war er recht trittsicher. Nach fünf Stunden legte ich eine Pause ein, da Nocturîan der Schweiß in Strömen den Körper hinunterlief. Ich packte die Flickendecke aus und rieb ihn halbwegs trocken. Der Gefahr, dass er sich auch noch erkältete, wollte ich aus dem Weg gehen.


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