~LXXXII.~

Einige Tage später war meine Schulter soweit verheilt, dass ich mich fast schmerzfrei bewegen konnte. Also verließ ich die Tore Bruchtals und wanderte ziellos durch die Wälder. Es war früh am Morgen, und der Nebel hing noch weiß in den Niederungen. Durch die kühle Luft, die sich dick und feucht auf meiner Haut anfühlte, klangen dumpfe Huftritte. Bald sah ich dunkle Silhouetten am Waldrand, doch durch den Nebel konnte ich nicht wirklich etwas erkennen. Die Art, wie sie die Köpfe zum Grasen gesenkt hatten, ließ aber vermuten, dass es sich hier um eine wilde Ponyherde handelte. Ich kniff die Augen zusammen, um etwas deutlicher zu sehen. Die Herde bestand aus nur vier Tieren, wahrscheinlich der Leithengst, die Leitstute und zwei Jungtiere. Als ich näher schlich, entdeckte ich ein kleines, braunes Pferd, eine junge Stute, mit schwarzer Mähne und Schweif. Ihr dichtes Fell war zerwühlt, als hätte sie sich kurz vorher gewälzt. Sie war das fünfte Pferd, welches ich vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Bald bemerkte sie mich, stellte ihre kleinen Ohren wachsam auf, witterte und kam dann freudig schweifschlagend zu mir getrottet. Ich wunderte mich etwas, denn Wildpferde, selbst wenn es nur entlaufene Hauspferde waren, begaben sich meist nicht freiwillig in die Nähe von Menschen beziehungsweise anderen Rassen (wie zum Beispiel Elben). Überraschung, ja, gar Verwunderung machte sich in mir breit, als ich Aimée erkannte. Warum stand sie hier vor mir, wenn ich auf dem Weg nach Minas Tirith ihren Kadaver hinter einigen Ginsterbüschen hatte verschwinden sehen? Sie war tot, eindeutig, und doch konnten diese großen treuen, dunklen und herzlichen Augen nur die ihren sein. Ich schrieb diese Einbildung meinem verwirrten Gemütszustand zu, tat es mit einer wegwerfenden Handbewegung ab und verscheuchte so die junge Ponystute.

Daraufhin lief ich durch den Wald zurück, wieder durch die Tore Bruchtals und in Richtung meines Zimmers.

Auf dem Gang traf ich Shay. Mein Geist war von dem vorigen Ereignis noch so vernebelt, dass ich fast in ihn hineinlief. Kurzerhand hielt er mich am Arm fest.

„Was ist los?", wollte er wissen. „Fühlst du dich schwach? Soll ich den Heiler holen? Leg dich am besten erstmal hin."

Ich schüttelte demonstrativ und energisch den Kopf. „Nichts ist los. Ich war nur etwas verwirrt", meinte ich bloß und versuchte, mich an ihm vorbei zu drängeln. Shay jedoch hielt mich weiterhin fest.

„Tu' nicht so. Ich glaub' dir kein Wort", knurrte er, doch ich hörte Sorge heraus.

„Ich habe mir eingebildet, ich hätte Aimée gesehen", sagte ich laut und schaute ihm in die Augen, damit er wusste, dass ich bei klarem Verstand war, und ich fügte noch einen vielleicht etwas zu schnell und zu leise genuschelten Satz an. „Aber das ist nicht möglich. Sie ist tot."

Shay wandte seinen Blick zum Fenster und wiegte seinen Kopf. „Ich weiß nicht, was du gesehen hast, aber es ist durchaus möglich, dass sie nicht tot ist. Es war mir schon die ganze Zeit unverständlich, wie ein so junges Pferd einfach sterben kann. Sie war untrainiert, keine Frage, aber so eine Belastung hätte sie ohne weiteres überlebt. Vielleicht hast du dich damals getäuscht."

„Ich habe ihren Kadaver gesehen. Ich glaube nicht, dass ich mich getäuscht habe", brauste ich auf.

„Es könnte der Kadaver von einem ähnlich aussehenden Pferd gewesen sein", argumentierte er hartnäckig.

„Dann hätte nicht nur ich mich, sondern auch Nocturîan sich getäuscht", erwiderte ich bissig.

Nun verlor Shay die Nerven. „Vielleicht war es so! Vielleicht auch nicht! Wer weiß schon, ob das im Endeffekt überhaupt wichtig ist für uns", schrie er und wurde gegen Ende seines Ausrufes leiser.

Langsam nickte ich, doch ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass das hieß, ich könnte heute wirklich Aimée gesehen haben. Ich blieb stumm, neigte nur den Kopf und ging auf mein Zimmer.

In der Nacht träumte ich allerlei wirres Zeug. Wie schon in der Nacht zuvor sah ich Nocturîan, doch diesmal tauchte er aus dem dichten Nebel aus und gesellte sich mit zu der kleinen Herde, die in der grünen Hügellandschaft graste. Nach einer Weile bemerkte er mich und kam zu mir getrottet, doch je näher er kam, desto deutlicher erkannte ich ein sehr männliches Gesicht, das zu mir sagte, ich solle es ruhen lassen. Und ich atmete tief ein und aus, und schlief danach ruhig bis zum Morgen.

Sonnenstrahlen und Vogelgezwitscher weckten mich am nächsten Tag. Die Bettfedern quietschten, als ich mich streckte und erhob, um mich anzukleiden. Ich entschied mich für ein luftiges weißes Kleid mit einem geflochtenen, braunen Gürtel um die Taille. Damit trat ich auf die Terrasse und ließ den Blick über die Stadt unter mir schweifen, die wie leergefegt war. Die Trauer über Nocturîans Tod summte nach wie vor in meinem Kopf, doch heute war da noch eine unbekannte Vorfreude. Ich ging wieder zu der Stelle, wo ich am vorigen Tag die kleine Herde angetroffen hatte. Dort wartete ich eine Weile, setzte mich auf die frische Wiese und zupfte an den Gänseblümchen. Nach einer Weile kam Aimée mit ihren neuen Freunden angetrabt. Sie begrüßte mich, zuerst etwas zurückhaltend, dann zutraulicher. Ich liebkoste sie, bis es fast Mittag war und mein Magen knurrte. Gemächlich schritt ich wieder zurück zu den Toren Bruchtals und die Stute begleitete mich und folgte mir wie ein Hund.

Shay stand auf der Terrasse und deckte den Tisch, mit der Hilfe von einigen Küchenmädchen. Als er mich sah, grinste er, stellte die Teller ab und sprang die Treppe hinunter zu uns. Wortlos strahlte ich ihn an und er freute sich mit mir. Der hochgewachsene Mann umarmte das kleine Pferd und kraulte es lange, bevor er sich zu mir drehte.

„Siehst du, dein neuer Wohnort hält einige Überraschungen für dich bereit."

Ich lachte nur leise in mich hinein, und ich strich über Aimées braunen Hals. „Hoffentlich bleibt das auch so."

Shay lächelte mich an. „Gewiss." Und dann nahm mich der ehemalige Assassine in den Arm.

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