~LXXXI.~

Vier Wochen später

Nocturîan war tot. Diese Tatsache geisterte in den nächsten Wochen ruhelos durch meinen Kopf. Noch immer schmerzte die Erinnerung, wenn ich mich zurückentsann.

Die Tage danach waren viel zu feierlich und prunkvoll gewesen, fand ich, und ich war angewidert, zog mich so oft zurück, wie ich nur konnte. Natürlich war der Anlass Grund genug, diese Feierlichkeit zu veranstalten, immerhin wurde nicht jeder König und Ehemann an einem Tag. Arwen war mit einem herausgeputzten Festzug von elbischen Edelleuten zu Aragorn gekommen, gerade, als Gandalf ihm die Krone aufs Haupt gesetzt hatte. Dann erhob Herr Aragorn seine Stimme und alle hielten inne und lauschten. Zuletzt ehrte er noch die Heldentaten der tapferen Hobbits - die zweifellosen Stars dieser Geschichte -, und alle knieten sich vor ihnen nieder.

Das alles wirkte so fern, als hätte ich es gar nicht erlebt. Sowieso waren alle Erinnerungen hinter einer dicken Glaswand verborgen. Bei den Festen hatte ich mich genauso gefühlt. Das Reden und Lachen der Menschen drang nicht zu mir durch. Ich war allein, nur Shay konnte mich trösten, wenn ich seine starken Arme um mich spürte.

Als die feierlichen Trompeten- und Posaunenklänge nach ein paar Tagen verklungen waren, war meine Schulterwunde wieder aufgebrochen. Es sah nicht sehr gut aus, die anderen machten sich große Sorgen um mich. Man sprach von einer Blutvergiftung, doch ich hielt das für unwahrscheinlich. Trotzdem hatten sie darauf bestanden, mich zu Elrond zu bringen.

Am nächsten Morgen also befand ich mich auf dem Weg nach Bruchtal, ich hatte nicht kundtun können, wie sehr mir diese Idee zuwider war oder sie davon abhalten können, diesen irrsinnigen Plan in die Tat umzusetzen. Legolas und Gimli begleiteten den Krankentransport, der nicht schnell vorankam. Aragorn war mit Arwen in Minas Tirith geblieben, was ich ihnen auch ganz und gar nicht übel nahm. Die Hobbits waren anwesend, ebenso wie Gandalf, der sich dann mit den restlichen Elben auf den Weg in den Westen machen wollte.

Nach einer Woche und vier Tagen hatten wir Bruchtal erreicht und Elrond heilte meine Wunde weitestgehend, und er zeigte sich nicht so abgeneigt mir gegenüber, wie ich gedacht hatte. ‚Vielleicht habe ich mir die ganzen Jahre etwas vorgemacht', dachte ich, bevor er mit Gandalf, Bilbo, den Hobbits und den restlichen Elben zum Hafen im Westen aufmachte.

Nun lag ich auf einer Bank im Garten und hoffte auf eine baldige Genesung. Ich beobachtete, wie Legolas im schwindenden Licht das Kämpfen mit Bogen und Dolchen übte. Ihn hatte ich zu überreden versucht, hier zu bleiben, als er nach ein paar Tagen zurück in den Düsterwald wollte. „Du hast jetzt doch jemanden, der auf dich aufpasst", hatte er gemurmelt und in die Richtung von Shay genickt, der sich an die Balustrade lehnte und über die Felder voll Blumen blickte.

Der Mond lugte zwischen den Bäumen hervor, und zahlreiche Pflanzen fingen erst jetzt an richtig zu duften, beispielsweise viele Büsche Sommerflieder, die Nachtkerzen und die Mondviolen, die versteckt unter den Buchen in Pastellfarben aufblitzten.

Ich bemerkte, wie Shay zu mir kam und sich neben mich auf die Bank setzte. Er holte tief Luft, und ich dachte, er wolle zu einer Frage ansetzen, doch er blieb still und genoss den Duft der Nacht.

~~~

Bewundernd lief ich durch den blühenden Garten und ließ meinen Blick über die Stadt wandern. Alles sah so fein, so grazil aus (das komplette Gegenteil von Minas Tirith und der Hornburg, dafür so ähnlich wie unsere Dörfer in Lothlorién), dass ich staunend die Luft einsog. Seltsamerweise konnte ich mich noch recht gut erinnern, als ich vor vielen Jahren einmal hier gewesen war, aber trotzdem fand ich diese Baukunst immer wieder überwältigend. Zurzeit waren die liebevoll angelegten Straßen und Wege gut gefüllt, da sich nun die Elben versammelten, um in den Westen zu segeln. Unter den elbischen Gesichtern hatte ich außer Shays auch noch ein menschliches gesehen. Mich reizte es zu erfahren, wer das Mädchen war und was sie hier machte, doch ich traute mich nicht recht, sie danach zu fragen.

Plötzlich ertönten Schritte hinter mir. Ich drehte mich um und erkannte Legolas, der seinen Blick in die Ferne gerichtet hatte, als er neben mich an die niedrige Balustrade trat.

„Der Ausblick ist atemberaubend, nicht wahr?", raunte der blonde Elb neben mir, als wäre die mit Vogelgezwitscher gefüllte Luft aus zerbrechlichem Glas und seine Stimme ein Hammer.

„Ja. Die Bäume und die Blumen sind so wunderschön, wie ich es lang nicht mehr gesehen habe", meinte ich sacht.

„Die Gärten von Lothlorién sind noch unendlich viel schöner", erwiderte er und schaute mich von der Seite an.

„Das ist allerdings wahr." Die Nachmittagsluft fühlte sich angenehm warm an auf meinen nackten Armen und eine laue Brise hielt die Blätter in Bewegung. Die Vögel wurden ihrer immer gleichen, aber wunderschönen Melodien nicht müde.

Nach einer kleinen Ewigkeit von Schweigen zwischen uns schritt ich durch einen mit zauberhaften Wildrosen überwachsenen Torbogen in einen kleinen, lieblichen und gepflegten Garten. Die leisen Tritte auf dem knirschenden Kies verrieten mir, dass Legolas mir folgte. Jetzt gegen Abend verströmte die Mondviole einen wundervollen Duft und ihre reinweißen Blüten leuchteten geradezu.

„Es duftet", sagte ich entzückt und atmete tief ein.

Legolas brummte nur ein „Wunderbar" in sich hinein.

Eine Stille erfüllt von den Gesängen der Vögel und dem zauberhaften Duft der Blüten legte sich auf unsere Schultern.

Auf einmal trat der Elb wortlos vor mich, hob die Hand und fuhr meinen Hals hinunter, bis sie schließlich auf meinem Schlüsselbein zu ruhen kam. Kurz schloss ich die Augen, als ich mein Gesicht zu ihm wandte und meine Hand auf seine legte. Sanft drückte ich sie. „Die Versuchung ist unser Feind", fing ich ernst an und meine Stimme klang härter als gewollt. „Ihr zu widerstehen sollte unser oberstes Gebot sein." Ich blickte ihm intensiv in die eisblauen Augen und entfernte seine Hand sacht. Eine Weile schaute ich ihn noch an, wollte seine Reaktion wissen, doch in seinem Blick spiegelte sich nur seine Verwunderung, also ließ ich ihn bald stehen in dem wunderschönen Garten.

~~~

Am nächsten Tag versammelten sich die Elben auf einem Platz in der Mitte der Stadt, um gemeinsam in den Westen aufzubrechen. Es war auch der Tag, an dem Legolas und sein Zwergenfreund sich in den Düsterwald aufmachen wollten. Ich verdrückte mich in mein Zimmer und hatte eigentlich vor, dort bis zum Nachmittag zu bleiben, doch kurz nach dem Frühstück klopfte es an der Tür. Shay stand im Türrahmen und lächelte mich an.

„Na, was ist? Kommst du mit raus?", fragte er mich.

Ich zögerte. „Eigentlich wollte ich nicht unbedingt den Tumult erleben", gab ich zu.

„Komm' bitte mit, ich möchte dir jemanden vorstellen", versuchte er es wieder.

Ein leichtes Grinsen zierte meine Lippen und immer noch unschlüssig wiegte ich den Kopf, aber diesmal nur, um ihn aufzuziehen. „Ich weiß ja nicht..."

Er trat ganz in mein Zimmer, packte meinen Arm und zog mich hoch. „Komm' schon!"

Brav tat ich, wie mir geheißen und ich folgte ihm durch die Gänge.

Schweigend gingen wir die Treppen hinunter und in Richtung des überfüllten Platzes. Wir wollten uns durch die sich wiegende Menge schieben, da wurden wir bald von einer Frau angesprochen. Eine, die sehr menschlich aussah.

„Guten Tag, schön, dass ich Euch treffe. Elrond sagte mir, dass Ihr seinen Platz einnehmen werdet, wenn er in den Westen segelt", fing sie an und ich unterbrach sie sogleich.

„Moment, Moment." Abwehrend und irritiert hob ich die Hände. „Es ist zwar richtig, dass ich nicht mit in den Westen komme, aber dass ich Elronds Platz übernehme, davon weiß ich nichts." Ich musterte Shay kurz von der Seite, der schmunzeln musste und schnell zu Boden blickte.

„Wie auch immer, ich bin Katharina", antwortete sie rasch und hielt mir die Hand hin. Verwirrt ergriff ich sie. Sollte ich wissen, wer das war?

„Und das ist meine Tochter, Nathalia...", sie zog ein etwa zehnjähriges Mädchen hinter ihrem Rücken hervor, die scheu lächelte und dann schnell wieder den Boden beäugte. „Und?" Fragend hob ich die Augenbrauen.

„Darf ich vorstellen?", mischte sich jetzt Shay ein und legte einen Arm um die Frau. „Meine Mutter und meine Schwester."

Vor Überraschung fiel mir fast die Kinnlade herunter.

„Ich wusste ja gar nicht, dass sie hier sind, Shay, sonst hätten wir früher zu ihnen gehen können." Katharina schien, als wolle sie etwas erwidern, doch ihr Sohn, der sie um zwei Köpfe überragte, kam ihr zuvor.

„Nachdem sie kein Zuhause mehr hatten und auch das Haus in der Stadt nicht als Endlösung in Frage kam, sind sie hierher zu Elrond gekommen und haben um Asyl gebeten."

„Danke, aber ich kann für mich selber sprechen", lachte die braunhaarige Frau. Freundlich wandte sie sich dann an mich. "Ihr hört, so ist es. Und wir wollten fragen, ob Ihr uns auch weiterhin ein Dach über dem Kopf gewähren könntet." Bittend sahen mich zwei große, braune Augenpaare an.

Noch immer etwas verdattert stotterte ich: „Ähh... ja ja..., natürlich..."

„Ihr seid so gut, danke vielmals", strahlte mich die Frau an.

„Keine Ursache", meinte ich etwas verlegen und betrachtete meine Fußspitzen. „Einen wunderschönen Tag noch", wünschte sie mir, schob ihre Tochter vor sich her und verschwand in der Menge.

Noch bevor wir dem Gedränge entkamen, erkannte ich eine alte Freundin unter dem Zug derer, die gen Westen aufbrechen wollten. Sie saß auf einem Pferd, dass schon seit Kindertagen an ihrer Seite war, ein wunderschöner Palominohengst. Seine weiße Mähne wallte fast bis auf den Boden, was sein ansehnliches Alter zur Schau stellte. Schüchtern lief ich auf sie zu und tippte sie zögerlich an. Sie drehte sich um und blickte erst über mich hinweg. „Ja?" Dann sah sie mich und ihre Augen weiteten sich vor Freude. „Nienná! Was für eine Überraschung! Wie geht es dir?", fragte sie überschwänglich.

„Tári, ich freue mich, dich zu sehen. Mir geht es gut. Und dir?", antwortete ich erfreut.

„Ich kann nicht klagen", meinte Tári wohlgelaunt.

Ihr Palominohengst scharrte unruhig mit dem Vorderbein und warf seinen Kopf auf und ab. „Hoola", sagte ein junger Elbenmann gedehnt, der am Kopf des Tieres stand.

Tári Elénsar räusperte sich. „Nun denn, wir wollten gerade aufbrechen. Hätte ich gewusst, dass du vor Ort bist, hätte ich..."

Ich winkte ab. „Schon gut. Geh nur."

„Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Irgendwann." Tári Elénsar neigte den Kopf und in dem Moment zuckelten die Elben mit ihren Pferden los.

Lange sahen wir ihnen nach, bis sie weit von Bruchtal entfernt waren und nichts blieb außer den Spuren in der feuchten Erde und Erinnerungen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top