~LXXVIII.~

Es war bereits später Nachmittag, als die große Ost-West-Handelsstraße in Sicht kam. Wir trabten auf sie zu und bemerkten, dass sich selbige auf einer Anhöhe befand, die uns den Blick auf die dahinterliegende Landschaft verwehrte.

Ich deutete in Richtung der Straße. „Lasst uns von da oben schauen, ob wir ein einzelnes Gehöft sehen. Nun müssten wir auf der richtigen Seite sein."

Shay nickte nur und hieß Morhir vorwärts springen, die Böschung hinauf. Nachdem Nocturîan ebenfalls auf der Straße zum Stehen gekommen war, erkannte ich in der Ferne die Silhouette eines Gebäudes. Ich kniff die Augen zusammen, war etwas irritiert, dass so weit abseits der Stadt noch ein Haus zu finden war, zumal keine erkenntliche Straße dorthin führte, doch dann erinnerte ich mich wieder an meinen unfreiwilligen Ausflug mit dem Assassinen. Das müsste der Hof sein. 

Über uns knisterten die Zweige der Alleebäume im kalten Westwind und Lafolîán, Lûthiens Stute, warf nervös den Kopf hoch, als ich unmittelbar neben ihr hinunter auf die staubige Straße sprang. Langsam schritt ich den vielbefahrenen Handelsweg ein Stück auf und ab und fand tatsächlich eine Stelle, wo sich Reifenspuren ins Gras gedrückt hatten, teilweise wuchs aber dort, wo die großen Holzräder immer entlangfuhren, spärlicher oder gar kein Gras, woraus man schließen konnte, dass hier jemand so ziemlich regelmäßig durchkam.

Mit den Augen an den Boden geheftet, verfolgte ich die Spur, bis sie sich im hohen Gras verlor. ‚Jetzt hätte ich Aragorn gebrauchen können.' Shay und Lûthien wechselten einen unschlüssigen Blick, sie schienen nicht recht zu wissen, was sie tun sollten. Mir folgen oder warten, bis ich zurückkam. Ich tat nichts, was sie erwartet hatten. Leise rief ich Nocturîan beim Namen und er kam zu mir getrottet. Ich sprang auf seinen Rücken und ritt zielstrebig auf das Gebäude zu, das sich beim Näherkommen als Drei-Seiten-Hof mit großem Tor entpuppte. Ab und zu konnte ich erkennen, dass die Spur zu dem alten Wohnhaus führte. Schließlich hieß ich Nocturîan angaloppieren, und er fiel in einen ruhigen Kanter. Shay und Lûthien holten mich nach einiger Zeit ein. Der Zugwind spielte mit unseren Haaren und ließ meine Augen tränen.

Bald hatten wir den Hof erreicht und ich sprang hinunter. Vorsichtig ging ich auf das Tor zu, und als ich im Hof Schritte hörte, zog ich meinen Dolch. Shay und Lûthien redeten leise miteinander, also drehte ich mich um und legte meinen Zeigefinger auf die Lippen. Sie verstanden mich und zogen ebenfalls ihre Schwerter. Zuerst war ich etwas überrascht, dass Lûthien ein Langschwert dabei hatte, aus dem leichten Metall der Elben, aber dann wurde mir bewusst, wie gefährlich ihre Reiseroute war.

Ich wandte mich wieder nach vorne und sah noch, wie jemand schnell die Tür zuzog, die vorher offen stand. In das Holz war eine Zeichenfolge eingebrannt, wie sie auf dem Zettel in der Bibliothek Minas Tiriths abgebildet waren. Wir waren hier richtig, da war ich mir hundertprozentig sicher. Ich holte noch einmal tief Luft, bevor ich die Tür aufriss und in den Hof rannte. Shay und Lûthien folgten mir. Hektisch drehte ich mich um die eigene Achse und schaute mich um. Ich bemerkte, wie der Zipfel eines Umhanges in der Scheune verschwand. Sofort sprang ich hinterher, in das Halbdunkel des hölzernen Gebäudes, in dem es immer noch nach Heu und Stroh duftete.

In dem Moment der Stille hörte und sah ich nichts mehr und machte langsame und bedachte Schritte in die Scheune hinein. Die beiden hinter mir handelten wie kampferfahrene Krieger (wobei nur Shay einer war, Lûthien hatte wohl Kämpfen geübt) und nahmen weiter hinten, aber prinzipiell in einer Reihe mit mir Position. Nun hatten wir also drei Seiten abgedeckt. Mit aufmerksamen Blicken versuchten wir, die Dunkelheit zu durchschauen.

Plötzlich krachte es hinter uns. Ich zuckte zusammen und drehte mich rasch um. Eine Gestalt ließ das Seil vom Flaschenzug los und sprintete aus der Scheune.

Sofort hetzte ich der dunkel gekleideten Person hinterher über den Hof und sah, wie sie das Wohnhaus betrat. Eilig trat ich ebenfalls in den Flur und hörte die Treppe über mir knarren. Flink sprang ich die Stufen hinauf und schaute oben ratlos auf die Türen, die alle so ziemlich gleich aussahen. Dann fiel mein Blick auf den Teppich, von dem eine Ecke umgeknickt war, wie wenn jemand in aller Eile darüber gerannt und gestolpert war. Die Tür, die sich am nächsten an jener Ecke befand, öffnete ich behutsam einen Spalt und schob mich hindurch. Das Zimmer war sonnendurchflutet durch die Fenster zur Süd-West-Seite, doch nirgendwo verbarg sich ein Zeichen auf eine weitere Person. Als ich mich wieder zur Tür drehte, bemerkte ich, dass sich weitere der Assassinenzeichen an der Wand und an der Kommode befanden.

Ich trat wieder in den schmalen Flur und stand Shay und meiner Schwester gegenüber. Erschrocken zuckte ich vor ihnen zurück und schnell schlug ich mir die Hand vor den Mund, ehe ich aufjapsen konnte. Ich legte meinen Zeigefinger auf die Lippen, dass sie ruhig waren. In dem Moment vernahm ich ein sanftes Stolpern und ich drängte mich an ihnen vorbei, um in das gegenüberliegende Zimmer zu gehen. Dort versteckte ein hoher Schrank den Großteil des Raumes vor mir und ich schlich geduckt vorbei. Wieder sah ich überall die Zeichen der Assassinen. Auf einmal spürte ich einen Windhauch und bemerkte, dass das Fenster am Ende des Raumes geöffnet war. Augenblicklich rannte ich dorthin und sah noch einen breitschultrigen, muskulösen Mann, der gerade die Hauswand hinunterkletterte. Und - was mich am meisten verwirrte - an seinem Bein baumelte ein Breitschwert in einer ledernen Scheide. Mir war es ein Rätsel, warum er wegrannte und sich nicht umdrehte und kämpfte. Er hätte gute Chancen gehabt. Aber mir sollte es recht sein. Flink steckte ich meinen Dolch weg, schwang mich aus dem Fenster und machte mich ebenso an den Abstieg. Ich landete im Gras, was inzwischen wieder ein bisschen höher und grüner war, und blickte mich nach dem Mann um. Zu meinem Bedauern rannte er los und über die Wiese - direkt auf die Stadt zu. So schnell ich konnte folgte ich ihm, doch ich holte ihn nicht ein. Shay war so schlau gewesen, auf Morhir zu steigen und kam mir im Galopp immer näher. Lûthien war ihm dicht auf den Fersen. Plötzlich stoppte der Mann. Er stieß einen kurzen und lauten Pfiff aus, dann stand er still. Verwirrt drosselte ich mein Tempo und joggte nur noch. Anscheinend wartete er auf etwas. Sein Brustkorb hob und senkte sich schwer unter seinem keuchenden Atem. Dann zog er langsam sein Schwert, das in der späten Abendsonne gefährlich aufflammte.

Als ich fast bei ihm angekommen war, traten aus dem Schatten der Häuser auf einmal weitere Männer an seine Seite. Mindestens fünf, nein, sechs Männer in Assassinenmontur standen mir gegenüber. Inzwischen war ich zum Stehen gekommen und lief eingeschüchtert einige Schritte zurück. Dabei stolperte ich über einen herausstehenden Erdbrocken und fiel nach hinten auf meinen Rücken. Panik ergriff mich, als die Assassinen nun mit schnellen Schritten auf mich zukamen. Glücklicherweise kam in dem Moment Shay mit Morhir und schrie mir etwas zu. Gehorsam streckte ich meinen Arm in die Luft und er zog mich daran auf die Beine. Die Männer waren fast bei uns angekommen, also sprang ich hinter ihm auf, weil sich Nocturîan bei dem Hof noch immer das Gras gut schmecken ließ. Im Jagdgalopp preschten wir zurück (wir konnten von Glück sagen, dass keiner der Assassinen ein Fernkämpfer war), wobei das im Endeffekt doch keine so gute Idee gewesen war, denn hier würde uns niemand zu Hilfe eilen, was in der Nähe der Stadt wahrscheinlicher war. Sobald wir abgesprungen waren, ließ ich einen Pfeilhagel auf die Männer erschauern und setzte so drei von ihnen außer Gefecht. Shay sprintete los, in einem großen Bogen um die anderen Kämpfer, um ihnen den Abschied zu erleichtern. Lûthien und ich beschäftigten unterdes die anderen drei und meine Schwester stellte sich mit dem Schwert äußert geschickt an. Sie verletzte einen der Männer am Arm, während ich mit Müh und Not die Schläge meiner Gegner parieren konnte. Schließlich brach ihr Gegenüber aus vielen Wunden blutend zusammen und war tot, ehe Shay wieder zu uns traf. Zu dritt erledigten wir die letzten zwei recht schnell.

Als wir unsere Waffen säuberten, fragte ich laut: „Was die hier wohl gemacht haben?"

Shay zuckte mit den Schultern. „Das waren Assassinen aus Tharbad", meinte er und wurde gleich darauf von mir unterbrochen.

„Danke, da wäre ich auch von alleine drauf gekommen", konterte ich.

Er ignorierte meinen Einwurf und fuhr fort: „Die sind sofort zur Stelle, wenn sie gerufen werden. Keine Ahnung, wie sie das machen. Bestimmt dürfen sie nicht über einen gewissen Radius hinaus in die Stadt, um rechtzeitig da zu sein."

Kopfschüttelnd reinigte ich meinen Dolch weiter mit einem nassen Lappen und hob meinen Blick nicht, als ich erwiderte: „Ich meinte eigentlich, was der Mann hier zu suchen hatte." Mit der Waffe deutete ich auf den einen Leichnam.

Shay sah nicht auf, als er antwortete: „Vielleicht hat er hier nur gerastet und wir haben ihn gestört."

Skeptisch musterte ich ihn. „Warum ist er dann weggerannt?"

Er hob die Schultern. „Woher soll ich das wissen?"

Lûthien hob unvermittelt den Blick. „Oder sie haben gewusst, dass ihr wasauchimmer zuerst an diesem Ort suchen werdet und haben euch aufgelauert."

„Warum auch immer sie da waren", fing ich an und beendete mit einer Handbewegung die Debatte, „ich bin froh, dass wir sie ohne weitere Verletzungen erledigen konnten. Kommt, lasst uns die Liste suchen."

„Was wahrscheinlich nicht so einfach sein wird, wenn wir nicht genau wissen, nach was wir Ausschau halten müssen", meinte Shay. Wir ließen dies unkommentiert im Raum stehen.

Ein leiser, metallischer Ton erklang, als Shay sein Schwert zurück in Scheide steckte. Dann blickte er zu mir, zog die Augenbrauen hoch und ging an mir vorbei. Mit gerunzelter Stirn warf ich Lûthien ein Augenmerk zu, während ich meine Dolche verstaute, und folgte schließlich Shay ins Haus.

Dort lief ich natürlich erst zu den Zimmern, in denen ich die Zeichen gesehen hatte. Doch egal wie viel ich suchte, ich blieb erfolglos.

Ich sprang die knarrende Holztreppe hinunter und ging in die Küche, wo ich Shay und Lûthien vermutete. Mein Blick fiel zuerst auf die halbleeren Regale über dem Herd. Nur noch drei Gewürzgläser standen dort, den Rest hatten wahrscheinlich arme Leute geplündert. ‚Beziehungsweise Assassinen.' Auch das Geschirr war verschmutzt, teilweise zerbrochen und das Teeservice nicht mehr vollständig. Töpfe und Pfannen stapelten sich am Waschbecken, jemand hatte sie wohl benutzt und versäumt zu säubern. Nun war der Schmutz hart geworden und nicht mehr zu lösen, aber niemand fühlte sich anscheinend dafür verantwortlich, den Ramsch zu entsorgen. Die Asche in dem kleinen Ofen jedoch zeugte davon, dass sich ab und zu jemand in den Schutz dieses Hauses begab.

Ich war erstaunt, und erst nach ein paar Minuten realisierte ich das riesige Zeichen, das über der Eckbank prangte, genau das, welches auf der Notiz ebenfalls dicker geschrieben war, wie ich mich zu erinnern meinte. Überall verteilt in der Küche und im anschließenden Wohnzimmer fanden sich diese Zeichen. Was die Assassinen nicht alles taten, um das gemeine Volk von ihrem Quartier fernzuhalten.

Die anderen beiden durchsuchten gerade die Schränke. Ich jedoch ging zu der getäfelten Wand, auf der die Zeichen gemalt waren, und tastete sie ab. Nichts, die Täfelchen waren echt, beziehungsweise die Wand dahinter. Doch ich gab nicht so leicht auf, und irgendwann tat sich etwas, als ich ein Täfelchen recht in der Mitte der Wand berührte. Es schob sich zurück und offenbarte eine kleine Kammer, in der sich eine Kiste aus hellem Holz befand. Unbemerkt hatte Shay sich mir genähert und nahm sie aus ihrem Versteck. Er stellte sie auf den Küchentisch und machte sich an dem Schloss zu schaffen. Aus einer Tasche holte er zwei gebogene Drähte heraus und kurze Zeit später war die Kiste offen.

Drinnen waren allerhand Papiere, viele Briefe und so manche Notiz. Und wie versprochen fand sich darin eine Liste mit den Namen der Anhänger der Assassinen. Ich überflog sie kurz. Ich fand Shays Namen und auch nicht wenige Mitglieder aus elbischem Hause. Nachdenklich stöberte ich weiter in dem Zettel-Chaos. Shay tat es mir gleich. Lûthien beobachtete uns mit einigem Abstand.

Plötzlich durchfuhr es mich und ich machte eine ruckartige Handbewegung, bei der sowohl meine Schwester als auch der furchtlose Krieger zusammenzuckte. „Wir müssen gehen", meinte ich unvermittelt und starrte apathisch die Kiste an, als würde ich erwarten, dass sie sich jeden Augenblick in eine ungeheuerliche Kreatur verwandelte.

Shay blickte auf.

„Möglicherweise hat uns irgendjemand gesehen oder gehört oder... ach, am besten, wir verschwinden hier einfach." Ich hob meinen Blick, um die Reaktion von Shay und Lûthien zu sehen.

Der hochgewachsene Mann nickte. „In Ordnung. Lass' uns aber noch die Papiere mitnehmen."

Lûthien blieb still. Sie war sich bewusst, dass das der Abschied war. Und ich hatte ihn ohne Schwermut ausgesprochen.

Schweigend sammelten wir die Papiere zusammen und steckten sie ein. Dann verließen wir Haus und Hof und gingen zu unseren Pferden. Lûthien hantierte eine Weile stumm am Sattel ihrer Stute herum, doch dann drehte sie sich zu mir und erhob sie ihre Stimme: „Es war schön, dich noch einmal zu sehen, bevor ich gehe. Auch...", und die nächsten Worte sprach sie schnell und leise aus, „... auch wenn es viel zu kurz war."

Wir schauten einander einige Augenblicke reglos an. Dann fielen wir uns um den Hals.

„Ich werde dich vermissen, Schwesterherz", wisperte ich ihr ins Ohr. „Doch in meinem Herzen wirst du stets bei mir bleiben. Das warst du übrigens die ganze Zeit."

„Oh Nienná. Ich werde dich auch vermissen", meinte sie leise und weinerlich, und auch mir schossen die Tränen in die Augen. Starr blickte ich die Bäume am fernen Horizont an. „In Gedanken werde ich bei dir sein."

Sie antwortete nicht, doch sie drückte mich etwas fester an sich.

Irgendwann machte ich mich los, und wieder hatte ich das Gefühl, eine böse, gefühllose Schwester zu sein. Dieser Abschied war wie ein Pflaster, er musste schnell von statten gehen, damit er so schmerzlos wie möglich war.

Eilig sprang ich auf Nocturîan. Shay saß schon auf dem Rücken seines stämmigen, grauen Wallachs und wir galoppierten los. Oft noch blickte ich zurück und sah, wie meine Schwester immer kleiner wurde.

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