~LXXVI.~

Wir sangen noch ein paar Lieder zusammen, so wie wir es früher immer getan hatten. Der Klang unserer Stimmen und der Instrumente lockte schließlich Herrn Denethor an. Die Dielen ächzten, als er den Raum betrat.

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass eine weitere elbische Schönheit meinen Palast betreten hat. Um ehrlich zu sein habe ich aber nicht damit gerechnet, eine solche Schönheit hier im Doppelpack vorzufinden", meinte er etwas zu freundlich.

Lûthien runzelte irritiert die Stirn und blickte zu mir. Ich erwiderte ihr Augenmerk, dann aber neigte ich mit einem übertriebenen Lächeln den Kopf und erwiderte gekünstelt: „Es freut uns, dass wir Euch überraschen konnten."

Denethor fing an zu lachen. „Ja, ja, das glaube ich euch gerne." Er räusperte sich und wurde plötzlich ernst. „Wo wir gerade einmal beisammen sind... liege ich richtig in der Annahme, dass ihr mit Boromir gewandert seid?"

Unsicher warfen Lûthien und ich uns Blicke zu, ehe ich kurz hustete und dann meine Stimme erhob: „Nur ich war es, die Eurem Sohn begegnet ist. Ich kannte ihn nicht gut und nicht lange, als sich dann unsere Wege auf bedauerliche Weise trennten."

Denethor senkte betrübt den Kopf. „Sagt, wie habt Ihr ihn kenngelernt?"

Nun war es an mir, überrascht zu sein, und ich spürte Lûthiens Blick auf mir. Sollte ich die Wahrheit sagen? „Ich habe, wie eben erwähnt, Euren Sohn nicht gut gekannt, doch mir ist er immer tapfer und mutig erschienen." Ich senkte den Kopf und spielte mit meinen Fingern. „Ja, ein tapferer Kämpfer, ein guter Krieger. Allerdings war er zu leicht zu verführen."

Ruckartig hob der Mann seinen erzürnten Blick. „Wollt Ihr damit sagen, mein Sohn war schwach?"

Zuerst war ich unsicher, ob ich die Wut Denethors auf mich nehmen wollte, nach einigem Überlegen jedoch nickte ich fest und blickte ihn direkt an. „Ja, ganz richtig. Er war schwach. Nicht physisch, aber psychisch."

Der Truchsess verzog vor Zorn sein Gesicht zu einer Grimasse und ballte seine Hände zu Fäusten. Doch bevor er etwas sagen konnte, fielen mehrere Bücher aus einem nahen Regal. Keiner von uns hatte damit gerechnet und wir schauten erschrocken hinter uns.

Plötzlich tauchte Shays Kopf auf. „Entschuldigung!", rief er nur und sammelte die Bücher wieder auf. Leicht verwirrt legte ich den Kopf schief. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er den Raum nicht verlassen hatte.

Ich wandte mich wieder nach vorn und bemerkte, dass mich der ältliche Mann bereits anblickte.

„Ihr kanntet ihn kaum, und verurteilt ihn schon", fauchte er mich an.

„Ich habe ihn nie verurteilt oder Unwahrheit gesprochen", verteidigte ich mich mit hochgezogenen Augenbrauen und hob abwehrend die Hände.

Grimmig sah er mich an. „Mein Sohn... war ein guter Junge!", keifte er wütend, drehte sich um und verließ das Zimmer.

~~~

An diesem Tag war Shay es, der noch lange die Reihen der hohen Regale nach einem Hinweis absuchte. Lûthien und ich saßen währenddessen an dem langen Tisch im Speisesaal, aßen eine Kleinigkeit und erzählten. Und wir hatten viele Geschichten zu erzählen.

Shays point of view:

Ich hörte sie lachen, vom Gang aus, als ich vorbeiging. Zuerst dachte ich darüber nach, hineinzugehen, doch als ich den fröhlich plätschernden Fluss aus Stimmen vernahm, entschied ich mich dagegen. Heute wäre ich einfach fehl am Platze.

Stattdessen lief ich durch den Flur in mein Zimmer. Die Stille, die mich empfing, drückte mir auf die Schultern, doch die Dunkelheit wog weitaus schwerer.

Ich schritt an meinen Nachtisch und entzündete die Petroleumlampe. Auf einem edlen Teller, den mir wohl jemand ins Zimmer gestellt hatte, lagen zwei Scheiben Brot, ein Eckchen Butter, etwas Wurst und Käse und einige wenige, verschrumpelte Gurkenscheiben. Ich aß alles leer und als ich fertig war, stellte ich den Teller auf das Schränkchen neben der Tür und ging ins Bad. Dort wusch ich mich und betrachtete lange mein Spiegelbild. Schade, dass wir diesen Luxus jetzt schon aufgeben sollten. Aber es musste sein.

Wie aufs Kommando klopfte es an der Tür, als ich mich mit triefend nassem Gesicht über das polierte, marmorne Waschbecken beugte, und es nur notdürftig mit einem alten Handtuch trocken rieb. Es klopfte erneut, doch es war keineswegs laut, nein, eher sanft, aber eindringlich. Als ich die hölzerne Tür öffnete, blickte mich eine vergnügte Nienná an. (Wie komisch es doch war, sie bei diesem Namen zu nennen, hatte ich sie doch Wochen und Monate anders angesprochen.) Ihre Wangen waren gerötet - von einem angeregten Gespräch vielleicht, oder möglicherweise von einem schnellen Lauf (von Alkohol schloss ich aus - ich hatte sie noch nie eine Weinflasche anrühren sehen) - oder zumindest war sie nicht so blass wie sonst. Ihre eisblauen Augen strahlten mich an, wie seltene Kristalle sahen sie aus.

„Und, wann brechen wir morgen auf?" Sie hatte also gemerkt, dass ich nichts gefunden hatte.

„Ich würde sagen wir machen uns nach dem Frühstück auf den Weg", meinte ich mit rauer Stimme.

Sie strahlte immer noch. „Nun denn, bis morgen." Hinter ihr stand ihre Schwester. Nienná schenkte mir ein Lächeln, und jetzt erst erkannte ich die Ähnlichkeit in den Gesichtern der beiden Schwestern.

Ich neigte nur den Kopf sah zu, wie Nienná die Tür ihres eigenen Zimmers öffnete. Ich schloss die Tür. Dunkelheit umfing mich.

~~~


Der nächste Tag war trüb, und als ich die Vorhänge aufzog, sah ich den Nebel wabern, über der Stadt, auf dem Palasthof, in den Ebenen, überall. Zu allem Überfluss nieselte es auch noch leicht und stetig.

Seufzend wandte ich mich vom Fenster ab und ging ins Bad. Eine Weile später verließ ich mein Zimmer und machte mich Richtung Speisesaal auf. Gandalf saß schon am Tisch und führte Selbstgespräche, doch als ich eintrat, ward er schnell still und hob den Blick, um mich zu begrüßen.

„Guten Morgen, Shay", wünschte er mir mit freundlichen Augen.

„Eher schlechter Morgen", erwiderte ich mürrisch und ließ mich auf einen Stuhl fallen.

Gandalf schmunzelte. „Höre ich da schlechte Laune heraus?" Dann wurde sein Gesicht schnell wieder ernst. „Ihr habt nichts gefunden, oder?"

Mit vollem Mund nickte ich. „Heute werden wir aufbrechen zu dem Gehöft in der Näh von Tharbad, welches Nienná erwähnt hat."

Der Zauberer verschluckte sich beinah an seinem Tee und hustete. „Das ist aber weit von hier. Welchen Weg gedenkt ihr zu nehmen?"

„Ich hatte geplant, immer nach Westen am weißen Gebirge entlang zu reiten durch die Pforte von Rohan und schließlich Richtung Norden."

Er nickte. „Das ist ein guter Weg", sagte er nur und fügte einen schnell und leise genuschelten Satz an: „Jedenfalls besser als durch die Minen Morias."

In mir keimte das Gefühl auf, etwas erwidern zu müssen, doch in dem Moment traten Nienná und ihre Schwester ein.

„Guten Morgen", begrüßte Gandalf sie und er schien schlagartig das Thema, über das wir gerade geredet hatten, vergessen zu haben. „Na, gut geschlafen?" Aber er wollte keine ausführliche Antwort, das strahlende Lächeln der Schwestern reichte ihm. „Wie schön, Euch endlich einmal persönlich zu treffen, Lûthien."

Etwas erstaunt blickte die Angesprochene auf. „Die Freude ist ganz meinerseits, ähh..." Mit fragender Miene schaute sie zu ihrer Schwester.

„Darf ich vorstellen? Das ist Gandalf, ein weiser Zauberer", meinte Nienná und nickte in die Richtung des graubärtigen Mannes.

„Gandalf, ja. Ich habe schon einmal von Euch gehört, glaube ich. Wie schön, Eure Bekanntschaft zu machen", ergänzte Lûthien hastig und etwas verlegen ihren angefangenen Satz. Sie schien heilfroh zu sein, dass Gandalf nichts weiter darauf erwiderte und die schwarzhaarige Elbin neben ihr gleich mit der Vorstellung meiner Wenigkeit fortfuhr.

„Und das ist Shay, ein ehemaliger Assassine, doch er hat sich als sehr loyal und hilfreich bei meiner Wanderung erwiesen", stellte sie mich vor, bevor sie sich setzten. Mir persönlich gefiel diese Rede in der dritten Person nicht sonderlich, zumal ich anwesend war und diese Aussage sehr... nun ja, sehr an jene von Pferdehändlern angelehnt war. Lûthien warf mir ein freundliches Lächeln zu und erinnerte mich wieder sehr an ihre Schwester.

Ein Seufzer ließ sich am Tisch vernehmen. „Und ihr werdet euch heute auf den Weg in den Norden machen?", erkundigte sich Lûthien und steckte sich eine Gabel voll Rührei in den Mund.

„Oh, nein, nein, nein", meinte der Zauberer schnell mit hochgezogenen Augenbrauen und einem frechen Schmunzeln auf den Lippen. „Die beiden werden sich aufmachen. Ich bleibe hier." Er untermalte sein Gesagtes mit Armbewegungen zu mir und zu Nienná.

Ich nickte bekräftigend. „So ist es. Wir wollen nach Tharbad."

Nienná neigte nur den Kopf und trank weiter ihren Tee. Kurze Zeit beobachtete ich, wie sie die Lippen an den Rand des Gefäßes legte und die Flüssigkeit schlürfte.

„Ich hoffe, wir werden die Pforte von Rohan in vier Tagen durchqueren und dann die Stadt in nochmals vier Tagen erreichen", meinte ich in Gedanken.

Die dunkelhaarige Waldläuferin nickte wieder. „Wenn das Wetter gut ist und wir schnell vorankommen, sind wir möglicherweise schon einige Tage eher in der Stadt."

Gandalf stimmte zu. „Hoffen wir, es klart im Laufe des Tages noch einmal auf. Aber trotzdem müsst ihr vorsichtig sein, überall könntet ihr Gefahren begegnen."

Klammheimlich verdrehte ich die Augen und blickte zu Nienná, der es ähnlich zu ergehen schien, aber sie hielt sich zurück und sagte nichts.

Alle Beteiligten kauten teilnahmslos auf ihrem Frühstück herum und waren in ihre eigenen Gedanken versunken, bis dann Lûthien auf einmal ihre Stimme erhob: „Wie der Zufall es so will, muss ich in dieselbe Richtung und begleite euch bis nach Tharbad."

Überrascht schaute ihre Schwester auf. „Wohin willst du? Nach Bruchtal? Warum das denn?"

Warmes Silber erwiderte Niennás Augenmerk. "Dort werde ich ein paar Tage oder noch länger mit Mutter verweilen, ehe wir in den Westen aufbrechen." Nienná sah etwas betroffen aus ob dieser Auskunft. „Wann segelst du in den Westen, Nienná?" Lûthien beugte sich zu ihrer Schwester herüber und senkte ihre Stimme. „Weißt du, sogar die Zeit der Elben hat irgendwann ein Ende."

Nienná schluckte langsam, bevor sie ihre Stimme erhob, und sie zitterte nur ein kleines bisschen dabei: „Ich weiß, Lûthien, und das betrübt mich zutiefst. Doch ich werde nicht nach Valinor segeln, wie du dir vielleicht schon denken konntest. Ich werde bleiben, ob nun ein dunkles Zeitalter anbricht oder nicht. Ich werde nicht kuschen wie die anderen Elben, sobald die Zukunft ungewiss scheint. Außerdem würde ich es nicht aushalten, unter den ganzen anderen Elben zu sein, die mich hassen."

Eine Decke aus Schweigen legte sich über den Tisch.

Dann antwortete Lûthien: „Nicht alle hassen dich, Schwesterherz."

Gandalf nickte. „Ganz recht, Nienná. Du solltest dich nicht selbst so verurteilen."

Die Waldläuferin blieb still, und diese Stille sprach Bände.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top