~LXXIX.~
Die folgende war eine dieser schlaflosen Nächte, die einen immer dann heimsuchten, wenn man es am wenigsten gebrauchen konnte. Der Tag war ein anstrengender gewesen, und ich hatte viel Stoff zum Nachdenken bekommen.
Punkt Nummer eins: Meine Schwester war fort. Ich würde sie vermutlich nicht noch einmal wiedersehen, genau wie meine Mutter, wobei sich mein Bedürfnis mit ihr zu reden über die letzten Jahre etwas reduziert hatte. Natürlich würde ich sie gerne noch einmal sehen, doch mir war bewusst, dass ich nicht nach Bruchtal konnte.
Punkt Nummer zwei: Ich hatte nicht genau mitbekommen, wann es passiert ist, wann genau ich von einer Jägerin zu einer kaltblütigen Mörderin mutiert war - und diese Tatsache ist durchaus nicht zu leugnen - , die an der Seite eines ehemaligen Assassinen versucht, etwas aufzuhalten, was nicht mehr aufzuhalten ist.
Punkt Nummer drei: Nun, da wir im Besitz besagter Liste waren, hätte ich gern unser weiteres Vorgehen gewusst, denn ich war mir sicher, dass einige gewisse Leute nichts gegen die Assassinen unternehmen konnten oder wollten.
Punkt Nummer vier: Die nahende Zukunft bereitete mir Kopfzerbrechen. Was, wenn Gondor die Schlacht nicht gewann? Würden wir dann alle zu Sklaven des Dunkeln? Und selbst wenn wir sie bezwingen konnten, Saurons Truppen... Was würde dann aus mir werden? Fragen über Fragen, auf die ich zumindest jetzt noch keine Antwort geben konnte.
Heute waren wir schnell geritten, um so viele Meilen wie möglich zwischen uns und Tharbad zu bringen. Und wirklich, wir waren gut vorangekommen, hatten schon beinah die Hälfte der Strecke von Isengard nach Tharbad hinter uns gebracht. Nun lag ich auf meiner bunten Flickendecke und starrte nach oben zum Himmel, und durch das halbzerfallene Dach der kleinen Hütte, die wir noch gefunden hatten, blinkten einige wenige Sterne. Trotz der Tatsache, dass alles trocken war, hatten wir weder gejagt noch ein Feuer entfacht, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Dafür hatten wir die letzten Reste des Dörrfleisches aufgebraucht und würden am nächsten Tag wohl oder übel jagen müssen. Wir hatten vor, abseits der Wege zu reiten, obwohl wir zumindest in den letzten Stunden keine Verfolger ausmachen konnten. Dadurch waren wir ziemlich nah an die Berge gekommen. Die Landschaft wurde hügeliger und hier wuchsen zunehmend mehr Kiefern und Birken und ein dichter Bodenbewuchs von Heide und Gräsern trat auf. In diesem bergigen, aber fruchtbaren Land hatte sich wohl einst ein Landwirt niedergelassen, bis ihn dann irgendwann ein Feuer wieder vertrieben hatte. Die Felder waren nun überwuchert von Brennnesseln, Gräsern und anderen Kräutern, die Obstbaumplantagen standen verlassen und verwildert da, und auch die offene Tür des Hauses bei unserer Ankunft ließ vermuten, dass dieses Stückchen Land auf irgendetwas wartete.
Wir waren unseren Weg entlang getrabt, bis der kalte, weiße Nebel über die Wiesen gekrochen kam und unsere Kleider mit Tautropfen benetzte. Über uns war es ein sternenklarer Himmel gewesen, mit einer schmalen, aber messerscharfen Mondsichel. Außerdem machte sich der Frühling bemerkbar, der Einzug hielt, durch die vielen Vöglein, die schon in den dunklen und kalten Morgenstunden die Luft mit ihren entzückenden Liedlein füllten.
Die Dämmerung stellte sich ein und ich hatte immer nur ein paar Sekunden Schlaf erhaschen können, bevor ich durch die nächtlichen Geräusche wieder aufwachte.
Als eine übereifrige Amsel in unserer Nähe anfing, ihr Liedchen zu trällern, blinzelte Shay und streckte sich schließlich.
„Na, gut geschlafen?", fragte ich freundlich. Doch ich erwartete keine Antwort, sondern sprach gleich weiter. „Dann lass' uns aufbrechen."
Shay bedachte mich mit einem etwas befremdeten Blick, doch er erhob sich rasch. Schnell saßen wir auf dem Pferderücken und ritten gen Süden, noch ehe die Sonne gestiegen war.
Unterwegs aßen wir noch einige Happen, der letzte Rest vom Schützenfest. Ich bemerkte, wie das Gras wieder anfing zu wachsen und die Knospen der Bäume und Büsche zu platzen drohten. Vor uns kletterte ein roter Feuerball mühsam über den Horizont und ein warmer und sanfter Wind strich über die Wiesen. Heute würde bestimmt ein guter Tag werden.
Wir überquerten zumeist offene Flächen, bis wir zur Pforte von Rohan kamen. Wir konnten schon den Engpass zwischen dem Nebelgebirge und dem Weißen Gebirge sehen, als wir einen Verfolger bemerkten. Wir hieben unseren Reittieren die Fersen in die Seiten und sie sprangen wie aufs Kommando im Jagdgalopp los. Nach der nächsten Kurve bogen wir in den Wald ab. Er war recht licht, und bald dünnte er sich aus und ging in eine weite Wiese über. Wir bremsten unsere Pferde und ritten gemächlich im Schritt weiter. Bis jetzt lagen wir gut in der Zeit, hatten eine kritische Strecke hinter uns gebracht. Noch aber war die Sonne nicht gesunken und wir trabten über Wiesen und Felder, bis wir zu einem kleinen Hain kamen. Wir entschieden uns, in seinem Schutz zu nächtigen. Zuerst jedoch hielten wir an einem Bachlauf, der unseren Weg kreuzte, damit unsere Pferde ihren Durst stillen und wir unsere Vorräte auffüllen konnten. Das kalte Wasser war etwas getrübt von dem erdigen Bachbett, welches Nocturîan und Morhir aufwirbelten. Schnell war eine klare Stelle gefunden und das Wasser fühlte sich kalt und frisch an, als es meine Kehle hinab lief.
Als mein Durst gestillt und meine Flaschen gefüllt waren, beobachtete ich Nocturîan, seine zuckenden Tasthaare, an denen winzig kleine Wassertröpfchen herunter perlten, wie sich sein Maul zu verändern schien, wenn es unter Wasser getaucht war, wie kleine Luftbläschen beim Trinken an die Wasseroberfläche schossen, wie sein weiches Maul troff vor Wasser und wie sich sein Kehlkopf bewegte, wenn er schluckte. Bald hatte auch er genug und Shay und ich führten unsere Pferde weg von dem Bächlein und hin zu dem Hain, der größtenteils aus Espen, Pappeln und Fichten bestand. Wir banden unsere Reittiere an einen starken Ast und entfachten ein Feuer. Ich ließ Shay bei unserem Lager zurück und machte mich mitsamt meines Bogens und den Pfeilen auf, etwas Essbares zu erlegen.
Auf der Pirsch wurde mir erst bewusst, wie sehr mir das Allein-Sein gefehlt, und wie sich der Wald schon verändert hatte. Von den warmen Temperaturen waren viele Pflanzen und Blätter hinaus gelockt worden und langsam wuchs das Unterholz im Wald wieder. Auf der Wiese schon sah ich ein paar Hasen, denen ich in das Wäldchen hinterher schlich, und ich bemerkte, dass ich lange nicht mehr Jagen gewesen war, denn in meinem Staunen trat ich mehr als einmal beinah auf einen Zweig. Mich wunderte es also nicht, dass die Hasen mit ihren großen Löffeln meine trampelige Anwesenheit erkannten und panisch die Flucht ergriffen. Ich seufzte in mich hinein. ‚Schade. Zwei Hasen hätten ein prachtvolles Mahl abgegeben und sogar noch für einen weiteren Tag gereicht.'
Alles stille Klagen änderte nichts, also ging ich weiter. Es wurde schon etwas dämmrig, als ich auf einer kleinen Lichtung ein paar Auerhühner erspähte. Sie pickten auf dem Boden, doch ich wusste aus Erfahrung, dass sie ihre Umgebung immer ganz genau im Auge behielten. Langsam näherte mich und hob den Bogen. Die Hennen sollten meinem Pfeil nicht entkommen. Lautlos zog ich die Sehne zurück. Ich wartete. Nur kurz. Der Wind spielte mit den Ästen der Bäume und ich vernahm ein Knirschen über mir.
‚Jetzt!' Ich ließ die Sehne los und der Pfeil flog in die Hühnerschar. Er durchbohrte die Kehle eines Hühnchens und scheuchte die anderen auf. Flugs legte ich einen neuen Pfeil ein und sprang zur Seite. Im nächsten Augenblick geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Ein morscher Ast krachte neben mir ins Gebüsch, da, wo ich nur einen Wimpernschlag zuvor gestanden hatte. Während des Sprungs schoss ich einen weiteren Pfeil auf die Auerhühner und ein Blätterregen ergoss sich auf das Todgeweihte. Es stolperte, fiel und blieb reglos liegen. Die restlichen Hühner verschwanden im Unterholz. Es kehrte wieder Ruhe ein.
Die Abenddämmerung war schon vorangeschritten, als ich meine durchbohrte Beute aufsammelte und zu Shay zurückkehrte. Er saß auf einem Holzklotz, den er wohl irgendwo aufgelesen hatte, und starrte apathisch in die Flammen, während er auf einem Stück trockenen, harten Brot herum kaute. Sein Blick hellte sich auf, als er mich und die leblosen Hennen sah, die in meinem Arm baumelten.
Gut gelaunt setzte ich mich zu ihm und gab ihm eins der Tiere zum Rupfen. „Endlich mal wieder etwas Gutes zum Abendessen!", meinte ich und er stimmte mir mit leuchtenden Augen und knurrendem Magen zu.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top