~LXXIV.~
In der folgenden Nacht schlief ich schlecht. Merkwürdige Träume verfolgten mich. Ich sah Aimée vor mir, ihren toter Körper im vertrockneten Gras. Über sie beugte sich ein Mann. Er malte seltsame Zeichen auf ihr braunes Fell, und als er sich umdrehte, erkannte ich Shays Vater. Ich wollte losschreien, doch in dem Moment lag plötzlich eine meterdicke Decke Schnee über der Landschaft und ein graues Pferd, welches dieselben Zeichen trug wie Aimée, zog einen viel zu schweren Schlitten. Unter den Kufen klemmte ein kleiner Fels, weshalb das Pferd nicht vorwärts kam, doch der Kutscher bemerkte es nicht und hieb mit wütendem Gesicht auf den Hengst ein. Dieser mühte sich sehr ab, doch er schaffte es einfach nicht, die Last zu bewegen. Er zeigte schon das Weiße in seinem Auge und statt Schweiß fiel Blut in den Schnee. Erschrocken riss ich Mund und Augen auf. Die Zeichen waren offensichtlich eingeritzt und wollten nun nicht mehr aufhören zu bluten. Schließlich stand der Kutscher ruckartig auf und sprang hinunter. Er packte den Hengst beim Zaum und zerrte ihn vorwärts, direkt auf eine kleine Felshöhle zu. Es knirschte und klapperte, es pochte und klopfte, doch plötzlich geriet der Schlitten in Fahrt.
Auf einmal schreckte ich auf. Draußen war es noch dunkel. Müde erhob ich mich und ging zum Fenster. Ich zog die Vorhänge auf und sah - nichts. Über dem nicht mehr ganz so fernen Gebirge Ered Lithui hingen wie immer regenschwere, graue Wolken, und wie immer würden sie nicht abregnen über dem Land der verdorrten Hoffnung. Seufzend wandte ich mich vom Fenster ab und schlüpfte in meinen Morgenmantel und in die dünnen Pantoffel und ging zur Tür hinaus. Im Gang begegnete mir zu so früher Stunde glücklicherweise noch niemand, und ich empfand das als sehr angenehm. Frische Nachtluft schlug mir entgegen, als ich die Tür nach draußen aufstieß und durch den gepflegten Palastgarten schlich, vor zu der niedrigen Balustrade, die denselben begrenzte und von der man hinunterblicken konnte auf die Stadt und ihre Tore. Weit vor den Toren meinte ich ein junges Wolfsrudel spielen zu sehen und an einem nahen Berghang scharrte eine Herde von Bergziegen nach trockenen Grashalmen, die der Berg unter Geröll versteckt hatte. Ich hob meinen Blick und wollte die Sterne betrachten, doch ich sah nur vereinzelte, blinkende Punkte, da der Himmel nicht ganz klar war. Also ließ ich meinen Blick wieder über die ruhende Landschaft schweifen. Oder - nein, nicht ganz ruhend, denn weiter draußen lief ein Pferd herum. Vermutlich war es noch jung, dass es sich alleine in Wolfsgebiet wagte, vielleicht ein Jährling. Allmählich passten sich meine Augen an die dunkle Ebene vor mir an und ich bemerkte noch eine Bewegung. Drei, nein, mindestens vier Pferde liefen da draußen herum und senkten ab und zu den Kopf, um von den braunen Gräsern vom Vorjahr zu probieren. Ich erkannte sie nicht genau, doch es machte fast den Eindruck, als seien sie entlaufene und verwilderte Hauspferde. Auf einmal ertönte ein schrilles Wiehern und sie verschwanden hinter einem Berg.
Ich blickte ihnen noch eine Weile hinterher, bis ich mir bewusst wurde, woher das Wiehern gekommen war. Langsam wandte ich mich um und lief zu den nahegelegenen Stallungen. Drinnen war es wie erwartet duster, nur einige wenige Mäuse schienen den Pferden des nachts Gesellschaft zu leisten. Mithilfe des dämmrigen Lichts, das durch das zweiflügelige Tor fiel, entzündete ich eine Petroleum-Lampe und ging mit ihr zu Nocturîans Box. Während ich mit ihr durch die weitestgehend leeren Gang schritt, weckte ich auch das letzte der friedlich schlafenden Tiere. Angesichts des Eindringlings - mir - scharrten sie unruhig, fingen an nervös zu tänzeln und ihre Köpfe auf und ab zu werfen. Ich war überrascht, wo ihre plötzliche Nervosität herrührte, konnte doch nicht so ganz verstehen, warum ich eine Gefahr darzustellen schien, ehe ich den Wind bemerkte, der durch das noch offenstehende Tor Eingang in das Gebäude fand und einige der trockenen Strohhalme mit einem vieldeutigen Knistern mit sich über den Boden schliff. Der Luftzug nahm zu, bis ich glaubte, ein eindringliches Flüstern zu vernehmen. Die Pferde stampften in ihren Boxen herum und erhoben sich leicht auf die Hinterbeine. Ihnen schien das Ganze nicht geheuer zu sein. Auf einmal schlug das Tor zu. Die Spannung zwischen den kalten Mauersteinen des Stalls zerfiel mit einem Mal in sich und wich einer langen Stille. Die Pferde beruhigten sich und auch sonst ertönten keine Geräusche. Ich hielt unbewusst die Luft an, fürchtete, das tiefe Schweigen durch meinen Atem zu stören. Aber nachdem eine Weile nichts geschehen war und die Pferde sich schnaubend ihrem Heu zuwandten oder dem Schlafen widmeten, atmete ich erleichtert aus und schlich weiter zu Nocturîans Box.
An derselben angekommen, öffnete ich die Halbtür und trat in das leise knackende Stroh. Ich legte eine Hand auf seinen Widerrist, streichelte seinen Rücken, lehnte meinen Kopf an seine Seite und träumte von längst vergangenen Zeiten.
~~~
Erst, als frühe Sonnenstrahlen meine Nase kitzelten, erwachte ich mit dem Kopf auf Stroh gebettet. Schläfrig gähnend hob ich denselben, und als ich mir des Umstands vollends bewusst wurde, sprang ich schnell auf, wobei Nocturîan erschrocken zusammenzuckte. Eilig lief ich aus der Box hinaus und ließ schließlich auch die Stallungen hinter mir, als ich in Richtung meines Zimmers hastete, immer in der Hoffnung, niemandem zu begegnen. Als ich endlich die Tür meines Zimmers betreten und wieder herangezogen hatte, seufzte ich laut auf und betrachtete das sonnendurchflutete Zimmer. Gestern Abend hatte ich versäumt, die schweren Vorhänge vor die großen Fenster zu ziehen. Noch ein Tag, den ich in der Bibliothek verbringen würde. Nicht, dass ich nicht gern meine Zeit dort vergehen ließ, ganz im Gegenteil, die Welt der Worte war bunt und vermochte, mich in eine andere Zeit zu versetzen, doch hätte ich meinen Tag lieber draußen in der Wildnis verbracht, wo mir keiner begegnete und ich ziehen konnte, wohin ich wollte. Also machte ich mich frisch, zog mir dasselbe Kleid wie am Tage zuvor an und fand letztendlich meinen Weg in den Frühstückssaal. Dort ließ mir mein Lembasbrot und andere Köstlichkeiten schmecken, schummelte auch noch einige Stücke Brot mit, als ich die Bibliothek aufsuchte und gleich anfing, das Bücherregal zu durchforsten, in dem Gandalf am vergangenen Tag das Buch mit der Notiz gefunden hatte. Mir fielen so manche interessante Bücher in die Hände, mal von einem Assassinen selbst geschrieben, mal von jemandem, der nur von Stadt zu Stadt reiste, um dort bestimmte Gebäude zu bewundern. Doch in keinem einzige fand ich irgendeine, als solche zu erkennende Notiz.
Nach einiger Zeit schließlich hörte ich, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Ohne aufzublicken ahnte ich, dass es wahrscheinlich Shay war, der mir freundlicherweise Gesellschaft leisten wollte. Und wirklich, die Schritte klangen erst langsam und unsicher durch den hohen Raum, dann aber kamen sie zielstrebig auf mich zu.
„Wo warst du, Emewýn? Ich habe dich überall gesucht."
„Ich konnte nicht schlafen", meinte ich nur, kurz angebunden. Als er nicht antwortete, blickte ich auf. Erwartungsvoll bohrten sich seine Augen in meine. „Ich bin nach draußen gegangen und zu Nocturîan. Aber seit dem Morgengrauen bin ich schon wieder hier. Ich war sogar im Frühstückssaal, aber wahrscheinlich hast du lange geschlafen." Ich seufzte. „Vermutlich sind wir nur aneinander vorbeigelaufen. Kein Grund zur Beunruhigung."
„Erstens schlafe ich nie lange und zweitens kannst du mir nicht verbieten, beunruhigt zu sein", erwiderte er knurrig, beließ es aber dabei und schaute mir über die Schulter. Ich kommentierte seine Aussage nicht und auch er ging nicht weiter darauf ein. „Was hast du da?", erkundigte er sich und deutete auf das Buch in meinen Händen.
„>>Angmar - Das Königreich des Nordens und die großen Städte<<", nannte ich ihm den Titel, ohne nachzusehen, und fügte gleich noch einen Satz an: „Hier sind die Assassinen sehr gut beschrieben, doch leider keine Spur von einem Code oder so ähnlich."
„Mhh", machte er nur. „Bedauerlich. Wenn wir keinen Hinweis finden, müssen wir uns so aufmachen, fürchte ich. Die Zeit drängt. Es wird immer wahrscheinlicher, dass jemand vor uns die Dokumente findet."
Ich nickte bloß, war mir sehr wohl bewusst, dass das die Suche erheblich erschwerte. „Aber eins verstehe ich nicht so ganz: Warum sollte jemand anderes das... das Zeug finden? Wir haben doch den Zettel gefunden."
Shay drehte sich zum Fenster und durchmaß langsam den Raum mit langen Schritten. „Naja, wenn Vater klug war - und das war er zweifellos - und er wollte, dass ich seine Arbeit zu Ende führe, musste er ganz sicher gehen, dass wir einen Hinweis finden, und da versteckt man natürlich mehr als einen. Außerdem habe ich Angst, denn es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis jemand zufällig darüber stolpert."
Verstehend nickte ich wieder.
Shay warf mir einen letzten Blick zu und wandte sich zur Tür. „Ich gehe jetzt erst einmal frühstücken."
„Eine gute Idee. Wir treffen uns dann wieder hier, okay? Ach, und übrigens..."
Er drehte sich nochmal um. „Ja?"
„Nenn' mich doch einfach Nienná." Jetzt machte es auch keinen Unterschied mehr, wer mich bei meinem richtigen Namen nannte und wer nicht.
Shay neigte den Kopf und verschwand durch die Tür.
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