~LXXIII.~

Als ich den Raum betrat, der gut hätte als kleiner Saal durchgehen können, zuckte ich erschrocken zusammen, als ich mich umsah. Shay stand mit lässig verschränkten Armen in einer Ecke und blickte mich herausfordernd an. Sobald ich ihn erkannt hatte, verdrehte ich genervt die Augen.

„Was willst du denn hier? Hast du dich verlaufen?", wollte ich wissen.

„Emewýn, jetzt ist eigentlich keine Zeit zum Spaßen. Ich wollte dir nur mitteilen, dass Pippin sich Denethor verpflichtet hat."

Ich zuckte mit den Schultern. „Und? Das hättest du mir nicht vor der Tür sagen können?"

„Nein." Er stieß sich von der Wand ab und kam auf mich zu. „Gandalf will uns sehen."

„Aha", meinte ich nur und ging auf das polierte Waschbecken zu.

„Jetzt." Shays Miene war unerbittlich.

„Ist es dringend?", erkundigte ich mich unschuldig.

„Hat zumindest Gandalf gesagt", antwortete er nur. „Wir sollen gleich in die Bibliothek kommen."

„Gut." Ich ließ von dem Spiegel ab und folgte Shay wieder hinaus und in die Bibliothek.

Dort stand Gandalf schon bei einem der hohen Regale und hielt ein Buch in seinen Händen. Ich erkannte es. Es war dasselbe, das ich vorhin schon gelesen hatte. Die Geschichte Mittelerdes war es wohl, welche der alte Mann als wichtig genug angesehen hatte, um uns herzubestellen. Shay trat zu ihm, ebenso wie ich, und da blickte der Zauberer auf.

Ich nickte in Richtung des Buches. „Das da habe ich auch schon durchgeblättert. Da steht nichts Besonderes über die Assassinen."

„Mhh", brummte Gandalf. „Das mag ja sein, aber wenn du es gründlich durchgeblättert hättest, wäre dir die Notiz auf dem eingeklebten Zettel auf der letzten Seite aufgefallen."

Erstaunt öffnete ich den Mund. „Ach."

Shay tat mitleidig. „Tja, Emewýn, du musst zugeben, dieses Puzzlestück ist dir einfach durch die Finger geflutscht. Ich wette, Gandalf hat nicht einmal eine halbe Minute gebraucht, um die Notiz zu finden."

Ironisch verzog ich mein Gesicht zu einer Grimasse.

„Mhh, ich wäre auch nur halb so stolz, wenn es so wäre." Er hob die Augenbrauen und zuckte leicht mit den Schultern. „Der Kleber hat aufgrund von Altersschwäche nicht mehr gehalten und der Zettel ist deswegen hinaus gerutscht, als ich das Buch herausnahm."

„Das ist in der Tat sehr... bewundernswert", bemerkte ich und warf Shay ein Grinsen zu.

„Ja, tatsächlich. Und sie war sogar sehr informativ, die Notiz." Licht und Schatten, welche beide vom Fenster kamen, spielten in seltsamer Weise fast eindringlich auf Gandalfs geheimnisvollem Gesicht miteinander.

„Was stand denn darauf?", drängte nun Shay, anscheinend war ich nicht die einzige, die gespannt war.

„Und hier wären wir nun am Ende meines Lateins." Er sah uns vieldeutig an. „Es sieht aus wie ein Schlüssel, doch ich vermag nicht ihn zu deuten. Das ist keine Sprache Mittelerdes." Er reichte uns den Zettel.

Mein Herzschlag verdoppelte sich, als meine Augen über das vergilbte Papier schossen. „Nein, ist es nicht." Ich blickte auf und realisierte, wie die Männer mich schon erwartungsvoll betrachteten. „Es ist die der Assassinen."

„Wieso bist du dir so sicher?", fragte Gandalf ruhig.

„Weil ich..." Mein Blick flog hin und her. „Weil ich diese Zeichen schon einmal gesehen habe."

Der alte Zauberer wechselte das Standbein. „Und wieso kann uns unserer ehemaliger Assassine nichts dazu sagen?"

„Ähm...weil..." Er schien verlegen. „Weil ich nicht wirklich aktiv am Schriftverkehr mit den anderen Assassinen beteiligt war. Das hat immer mein Vater gemacht." Er stockte, öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder, nur um im Endeffekt doch noch einen letzten Satz anzufügen. „Aber ich weiß, dass sie merkwürdige Zeichen benutzten."

Gandalf wandte sich wieder mir zu. „Wo hast du diese Zeichen gesehen?"

„In dem Raum im leeren Gehöft." Er schüttelte kurz den Kopf, als Signal, dass ihm das nichts sagte. „Als ich von dem Assassinen entführt worden bin, haben wir in einem leer stehenden Gehöft übernachtet. Dort an einer Wand und an den Felsen ringsum habe ich vereinzelt solche Zeichen gesehen."

„Und woher willst du dann wissen, dass diese Zeichen wirklich von den Assassinen sind, Nienná?"

Etwas verunsichert erwiderte ich sein Augenmerk. „Weil sie die einzigen sind, die dieses Gebäude nutzen, um mitsamt ihrer Reittiere dort ungesehen zu nächtigen."

„Bist du dir da vollkommen sicher?"

Ernst nickte ich.

Shay ließ in dem Moment den Notizzettel sinken, den er bis eben beschaut hatte. „Ich kann auch noch etwas beisteuern. Falls das nützlich ist, ich weiß, wer der Schreiber war."

„War?", fragte Gandalf verwirrt.

Shay schluckte und neigte den Kopf. „Ja, denn ich glaube, diese Notiz hat mein Vater verfasst. Und sie konnte irgendwie hierher gelangen, er jedoch nicht."

Zwar hatte ich die Geschichte schon einmal gehört, jedoch gab mir seine Wortwahl zu denken. Der Zauberer war geschockt und man sah es ihm auch an.

Nachdem ich mich versichert hatte, dass die beiden wieder ansprechbar waren, fing ich vorsichtig an: „Ich... ähh... ich denke, ich weiß, wie das Buch hierhergekommen ist." Gandalf hob seinen Blick. „Ich hatte schon die ganze Zeit so ein Gefühl, dass ich dieses Buch schon einmal irgendwo gesehen habe, um genau zu sein in einer Hafenstadt im Norden. Und in dem Buch ist diese Stadt beschrieben. Es stellt sich heraus, dass die Assassinen wesentliche Teile der Stadtverwaltung und der Schifffahrt kontrollierten. Möglicherweise befand sich dieses Buch in der dortigen Bibliothek, und Shays Vater hat uns irgendeine Mitteilung hinterlassen, ehe er abreiste. Die Bücher wurden irgendwie hierher gebracht."

Der bärtige Mann gab sich gleichgültig. „Klingt auf jeden Fall plausibel." Er wollte gehen, als ihm noch etwas einzufallen schien. „Haben wir eine Möglichkeit, die Nachricht zu entschlüsseln?"

Shay wiegte den Kopf, auch ich war unschlüssig. „Wir können ja morgen auf jeden Fall noch einmal zusammen suchen. Vielleicht gibt es einen Code zum Dechiffrieren der Nachricht."

Ich nickte zustimmend.

Auch Gandalf zeigte sich einverstanden. „Nun gut. Und wenn ihr die Bedeutung wisst, sagt mir Bescheid."

Wir neigten den Kopf und sahen zu, wie Gandalf den Raum verließ.

~~~

Langsam gingen Shay und ich durch den langen, mit Kerzen gesäumten Flur zu unseren Zimmern, die meiste Zeit redeten wir kein Wort, doch auf einmal fing Shay an zu erzählen, und ich verstand erst nicht, worum es ging.

„Weißt du, vielleicht hätte ich mutiger sein sollen, mehr riskieren sollen. Ich meine, ich habe versagt, ich hätte meinen Vater retten können, möglicherweise hätte ich es geschafft. Ich hätte die Liste in mein Gewahrsam nehmen und dann untertauchen sollen. Dann wäre das meiste jetzt noch in seiner Ordnung. So viele haben an mir gezweifelt, dass ich jetzt schon selbst damit beginne."

Leise seufzte ich. „Ja, vielleicht hättest du mutiger sein sollen. Und vielleicht hättest du auch deinen Vater retten können. Aber soll ich dir etwas sagen? Wir alle haben unsere eigenen Dämonen, die wir mit uns herumschleppen. Sie kommen und gehen. Und du musst lernen, sie zu bekämpfen." Wir standen vor Shays Zimmertür, und Shay wollte gerade sein Zimmer betreten, als ich ihn noch einmal leise beim Name rief und er sich herumdrehte. „Ich habe nie an dir gezweifelt." Ermutigend lächelte ich und er erwiderte dies.

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