~LXXI.~

Lustlos trottete Nocturîan vorwärts, und auch ich hing meinen Gedanken nach. Warum musste gerade Aimée sterben? Sie war immer so lieb gewesen, so brav und so loyal, oh, so jung...

Das Wetter war genauso, wie man es sich an einem Todestag vorstellte: dicke, graue Wolken verhangen den Himmel und ließen keinen Sonnenstrahl hindurch. Wenigstens hielt ein steter Wind die Hoffnung am Leben, dass die Wolken heute noch weggetrieben würden. Ab und an saß ein Rotkehlchen oder eine Meise auf einem Zweig der kahlen Birken und Lärchen und sang ihr Liedchen hell und klar heraus.

Irgendwann sah ich in der Ferne eine Silhouette auf mich zukommen, und Nocturîan hob etwas den Kopf und stellte seine Ohren auf. Nach einiger Zeit dann erkannte ich Morhir und schloss daraus, dass es sich bei der Person auf seinem Rücken um Shay handeln musste. Hatten sie unsere Abwesenheit nun auch bemerkt? Ich trieb Nocturîan an, um die Distanz etwas schneller zu überbrücken. Als wir schließlich in Hörweite waren, begrüßte Shay mich: „Na, wo warst du denn? Und wo ist Aimée?"

~~~

Nach einem gemütlichen Plausch über alle Geschehnisse während des Wegesabschnittes, den wir getrennt bewältigt hatten, wagte sich tatsächlich noch einmal die Sonne hervor. Durch den heftigen Wind waren gleich alle Wolken weggetrieben worden und es würde eine klare und kalte Nacht geben. Weit schon hatte die Sonne den Zenit überschritten und strahlte uns jetzt unweigerlich entgegen. Mein Hengst war wieder etwas mehr er selbst. Er lief nun mit federnderen Tritten über das weiche Waldgras und nahm auch seine Umwelt wahr. Beispielsweise zuckte er zusammen, als unmittelbar neben ihm zwei Kaninchen aus einem Mini-Wäldchen an jungen Fichten, Lärchen und Birken hervorbrachen. Sie waren wohl so in ihr Spiel vertieft gewesen, dass sie nun vollkommen erschrocken von den nahen Huftritten Hals über Kopf davon stürzten. Oder als der Rehbock unweit eines Fels' den Kopf hob und bellte, um seine Ricken zu rufen, die er wohl verloren hatte, ungeachtet der Eindringlinge in seinem lichten Wäldchen, stellte mein Pferd wachsam seine kleinen Ohren auf. Alles in allem war es noch ein recht schöner Tag geworden, immer begleitet von einer steifen Brise, die auch am Abend die Luft mit einem Geruch nach dem kühlen Wasser des Anduin würzte. Zu dem Zeitpunkt konnten wir auch einen ersten Blick auf die weiße Stadt werfen, die zwischen den Bergspitzen zum Vorschein kam. Es war wirklich ein umwerfender Anblick, die Stadt, angestrahlt von der Abendsonne und um sie herum schneebedeckte Gipfel. Auch Shay staunte nicht schlecht und bewunderte diese Sicht, bis sich wieder ein kantiger, felsiger Berg davor schob. Inzwischen hatte sich die Landschaft erneut gewandelt; der lichte Mischwald hatte sich noch mehr ausgedünnt und wir waren dichter an die Schotterhänge der Bergkette gekommen. Am Hang wuchsen nur gedrungene Kiefern und weiter in der Ebene standen mit großen Abständen Lärchen und Birken. Die Sonne war weiter gesunken, sie war kurz davor, den Horizont zu entflammen.

Shay blickte zu mir: „Lass uns das Tempo erhöhen, damit wir in der Dunkelheit nicht auf ein hungriges Wolfsrudel stoßen."

Ich nickte nur und trieb Nocturîan in den Trab. Shay tat es mir gleich.

Wir betrachteten das orange-rote Farbenspiel am Westhimmel, bis die Bergkette endete und schon die furchteinflößenden Silhouetten des Ered Lithui das Gebiet von Mordor ankündigten. Dort wandten wir uns nach rechts.

Noch etwa eine Stunde ritten wir, und am klaren Nachthimmel zeigten sich schon tausende von blinkenden Sternen. In den Bibliotheken im Norden hatte ich den Himmel studiert, aber schon lange hatte ich nicht mehr so intensiv den Sternenhimmel beobachten können. Der Sturmregenpfeifer, Sára, deutete mit seinem langen Schnabel direkt Richtung des hellsten Sterns in der Nacht, dem Thollim, der vielen Seefahren das Steuern ihres Schiffes während der dunklen Stunden erleichterte. Ich erkannte auch noch den Haradion, den Pegasus mit glühenden Augen, flammenden Flügeln und dem aufgerissenen Maul, aus dem Flämmchen empor züngelten. Dieses Sternenbild hieß auch der Sohn des Südens, da die Südländer ebenso temperamentvoll sein sollten. In seinem Maul befand sich der Eckstern vom Schwanz des Wolfs, Táralóm, das Zeichen des Nordens, was darauf hindeutete, dass der Süden den Norden zu besiegen suchte. Aber das war nur basiert auf alten Mythen und Legenden, und selbst ich wagte zu bezweifeln, dass sich Táralóm, mein Tierkreiszeichen, von Haradion beißen ließ.

Mein Blick richtete sich wieder nach vorne, als vor mir Berge mitsamt Minas Tirith aufwuchsen. Es war wirklich ein einschüchternder Anblick, die vielen Fackeln und Lichter in der Stadt von Weitem zu erblicken. Neben uns meinte ich schon unheimliche Schatten umher huschen zu sehen, weshalb ich das Tempo beschleunigte, bis wir durch das große Tor galoppierten, welches einige Männer für uns öffneten.

Die Hufe klapperten laut auf dem Pflastersteinboden, als wir weiter hinauf, in Richtung des Truchsess' Palast ritten. Davor auf dem freien Platz hielten wir unsere Pferde an und stiegen langsam ab, während Gandalf und Pippin schon auf uns zueilten.

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Gandalf führte uns einen mit Teppich ausgelegten Gang entlang, der an der Wand zu beiden Seiten mit edlen Kerzenhaltern geschmückt war. Die Türen dazwischen sahen eigentlich alle gleich aus, doch Gandalf ging zielsicher auf zwei davon zu und öffnete sie.

„Das Zimmer ist für dich, Nienná, und das hier ist deins, Shay", meinte der grauhaarige Mann und deutete auf die düsteren Räumlichkeiten. Ich nickte, erleichtert darüber, dass ich mir nicht wieder mit Shay ein Zimmer teilen musste, wünschte ihm eine gute Nacht und betrat den dunklen Raum. Auf einem Schränkchen stand eine Petroleum-Lampe und auf anderen Möbelstücken oder an der Wand waren Kerzenständer angebracht. Auf dem Nachttisch lag eine Zündholzschachtel, die ich sogleich nahm und ein Holz anzündete. Damit entfachte ich die acht Kerzen auf meinem Nachttisch und da ich sowieso gleich schlafen gehen wollte, beließ ich es dabei.

Das Badezimmer war gleich an meinem Zimmer und von ebenso edler Einrichtung. Der Spiegel saß in einem vergoldeten Rahmen und Badewanne und Waschbecken waren aus feinstem Marmor. Zudem hatte die Wanne Füßchen aus goldenem Metall und die Wasserhähne waren ebenso golden. Ich traute mir kaum, mit meinen schmutzigen Händen irgendetwas zu berühren. Vorsichtig drehte ich den Wasserhahn auf und ließ etwas Wasser auf meine Hände tropfen. Es nahm den Dreck mit und verschwand damit im Abfluss. Dann spritzte ich mir noch etwas des kühlen Nass' ins Gesicht, bevor ich wieder in den anderen Raum ging. Zu meiner Linken bemerkte ich ein Fenster, was ich vorher gar nicht wahrgenommen hatte, weil die schweren, roten Vorhänge davor gezogen waren. Ich zog sie auf und blickte genau auf den gepflegten Hof mit dem Weißen Baum, und noch weiter, bis zu der Bergkette, die Mordor begrenzte. Der Schicksalsberg spuckte in dem Moment rote Glut in den dunklen Himmel. Schon allein beim Ansehen lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken und ich riss fast schon die Vorhänge zu. Dann lief ich zum Bett, streifte meine Oberbekleidung ab, legte mich in die weichen Kissen und löschte schließlich die Kerzen auf meinem Nachttisch. In die Dunkelheit starrend lag ich noch eine Weile da und dachte über dies und jenes nach. Ich fragte mich, an was Shay jetzt wohl dachte, und irgendwie vermisste ich seine stille, Sicherheit versprechende Anwesenheit. Aber irgendwann siegte der Schlaf und mir fielen die Augen zu.

~~~

Am nächsten Morgen erwachte ich von dem ungewöhnlich roten Licht im Zimmer. Die Sonne schien wohl zum Fenster herein, doch durch die Vorhänge wurde sie daran etwas gehindert und tauchte dafür den Raum in ein schwaches, rotes Licht. Mein Verstand sagte mir, dass ich aufstehen müsse, doch mein Körper war träge. So blieb ich noch eine Weile liegen und hing meinen Gedanken nach. Mir fiel ein passender Spruch ein, der mich schmunzeln ließ. ‚Der Geist war willig, das Fleisch aber war träge.'

Irgendwann, als ich erste Fußtritte im Gang vor meiner Tür hörte, erhob ich mich und lief sofort zu den schweren Vorhängen, um sie zu öffnen. Dann schritt ich ins Bad, mir den Schlaf aus den Augen reibend, um mich frisch zu machen und meiner Körperpflege nachzukommen.

Schließlich trat ich gut gelaunt durch meine Tür in den Gang. Ich fühlte mich sauber und ordentlich und hatte frische Klamotten aus dem Eichenholzschrank mit den filigranen Verzierungen an. Meine dunklen Haare hingen mir offen - glatt und glänzend und noch etwas nass - über der Schulter und ich hatte mich für ein rein weißes Gewand entschieden, das viel Bewegungsfreiheit bot. So machte ich mich auf, den Frühstückssaal zu suchen. Auf dem Weg kamen mir recht viele Bedienstete entgegen, doch nur manche lächelten mir freundlich zu. Der Gang hatte zu beiden Seiten breite Nischen mit Sitzgelegenheiten und viele Fackeln leuchteten den auch tags düsteren Korridor aus. Schließlich bog der Gang nach rechts ab. Mannshohe Fenster bündelten die Sonnenstrahlen und ließen die Steinstatuen im Gang erstrahlen im Licht. Zu meiner Linken hörte ich Geschirr klappern und spähte auf gut Glück durch die nur angelehnte Tür. Dort saßen schon Shay und Gandalf und ich öffnete die Tür ein Stück weiter, um ganz einzutreten. Beide blickten auf, als sie meine Schritte auf den blanken Fliesen hörten.

„Guten Morgen", tönte Gandalfs Stimme zu mir. Shay nickte nur, weil er gerade den Mund voll hatte.

„Guten Morgen", antwortete ich und zog einen Stuhl vor, auf den ich mich setzte. „Es ist doch ein guter Morgen, oder?" Und ohne eine Antwort abzuwarten, redete ich gleich weiter. „Die Sonne scheint fröhlich von einem wolkenlosen, babyblauen Himmel. Was könnte jetzt schöner sein als ein Ausflug in die Bibliothek?"

Gandalf schluckte den Bissen, den er im Mund hatte, hinunter und meinte: „Zur Bibliothek musst du eine Etage hinauf, und die Büchersammlung befindet sich in einem sehr großen Saal mit einer sehr großen, reich verzierten Tür. Die kannst du gar nicht verfehlen. Falls es das war, was du wissen wolltest."

„Ja, das war es, danke." Ich nahm mir eine Traube der roten Weinbeeren, die auf dem Tisch standen und aß die kernigen Früchte, während alle am Tisch schwiegen.

Im Laufe des Frühstücks nahm ich noch ein Brötchen zu mir, welches ich in Scheiben schnitt und die Stücke dünn mit Fruchtmarmelade bestrich. Als die Bediensteten schon die silbernen Tabletts wegräumten, klaute ich mir noch eine Traube der Beeren und machte mich auf, die Bibliothek zu finden.

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