~LXV.: Shays Vergangenheit~
Ich zog leise die Tür hinter mir zu. Dann lief ich ruhigen Schrittes den mit rotem Teppich ausgelegten und mit vergoldeten Kerzenhaltern gesäumten Gang entlang, wobei ich versuchte, mich zu entspannen. Innerer Friede konnte auch äußeren Frieden erzeugen, wie Lazuriel und Nathan immer zu sagen pflegten. Schnell hatte ich die Treppe mit dem sehr polierten Geländer erreicht und widerstand dem Drang, zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Stattdessen schritt ich kontrolliert hinunter. Eine uniformierte Person kreuzte meinen Weg, und ich nickte nur grüßend. Der Mann mittleren Alters erwiderte meinen Gruß und passierte kommentarlos. Ich lief durch die blank geschrubbte, marmorne Eingangshalle, bevor ich die große Holztür erreichte und aufstieß. Draußen atmete ich erleichtert auf und bog die Gasse zu dem belebten Marktplatz ein. Derselbe war von Ständen überfüllt, und das typische Geschrei lag in der Luft. Erschrocken zuckte ich zusammen, als neben mir aus einer Gruppe mit mehreren Leuten eine füllige Frau auftauchte und eine andere Frau, allem Anschein nach eine Bäuerin Mitte 50, anfauchte, wegen der Eier, so viel ich mitbekam. Ihre gereizten Stimmen gingen im Marktplatzlärm unter und stattdessen pries nun ein Metzger seine hochwertige Waren an. Auf dem Kopfsteinpflasterplatz zwischen den Ständen drängten die Leute nur so und ich musste mich so dünn wie möglich machen, um unbeschadet durch den Ansturm zu kommen. Aber irgendwann ließ ich den Marktplatz hinter mir und ging durch einige Gassen weiter. Es wurde stiller und nicht mehr so viele Menschen liefen mir über den Weg. Ein Hund jaulte irgendwo in einem Hof auf und Hühner gackerten verängstigt. Am Ende des Städteleins hatte ich meine Kutsche abgestellt und mein Tinker scharrte schon unruhig mit den Hufen. Ein Lächeln legte sich über meine Züge, als ich zu ihr ging und sie kraulte. „Alles gut, Tiptoe, ruhig, wir fahren ja jetzt nach Hause." Damit sprang ich auf den Kutschbock meines Einspänners, nahm die Zügel in die Hand und trieb meine Stute an.
Die Ansammlung der Häuser war nicht weit weg von der Stadt. Nach nur zehn Minuten hatte sich der Wald gelichtet und gab das Land frei, welches meine Eltern bewirtschafteten. Nach weiteren zehn Minuten kamen die Gehöfte in Sicht und ich konnte die Koppel hinter unserem Haus erkennen, wo ein einzelnes Pferd graste. Wir fuhren weiter den holprigen Feldweg entlang und sobald wir das winzige Örtchen erreicht hatten, erkannte ich die alte Frau Groller, die gerade die Hühner fütterte. In dem Moment, als ich grüßend die Hand hob, heulte im Hof ein Hund auf. Doch die Frau ließ dies unbeachtet und grüßte freundlich zurück. Auf der anderen Straßenseite kehrte gerade ein junges Mädchen die Erde aus dem Hofeingang. Sie blickte hoch, als ich vorbeifuhr, zeigte aber keine Regung. Ihre Mutter kam vom Hof auf sie zu, einen Korb voll nasser Wäsche unter dem Arm, und auch sie bedachte mich mit einem seltsamen Augenmerk, ehe sie ihrer Tochter an den Arm tippte. Kurz konnte ich auch das Feld links von mir sehen, auf welchem sich die Feldhasen bei ihrem berühmten Boxkampf auf den im März noch brach liegenden Äckern herumjagten. Bald schloss ein weiteres Gut an. Im Hof sah ich beim Vorbeifahren die Bäuerin mit einem metallenen Eimer und einem Melkschemel im Kuhstall verschwinden. Bauer Jochen kam mir mit seiner kleinen Schafherde und seinen drei Hütehunden entgegen und hob zum Gruß seinen knochigen Wanderstock in die Höhe. Das nächste Haus war auch schon das unsere und ich lenkte die Kutsche in den zu einer Seite offenen Hof.
„Hoola!", rief ich und zog an den Zügeln. Dann stieg ich von dem Gefährt und spannte Tiptoe aus. Hufe folgten mir klappernd in das kühle Stallgebäude, wo ich Tiptoe in ihre frisch ausgemistete, mit Stroh ausgelegte Box stellte. In einer Ecke hing ein pralles Heunetz, an welchem sich die Stute sogleich gütlich tat. „Hey, nicht so eilig", meinte ich schmunzelnd, holte ihren Kopf an den Zügeln wieder zu mir und nahm ihr die Trense ab. Danach befreite ich sie von ihrem restlichen Geschirr und liebkoste sie noch ein bisschen, bis meine jüngere Schwester Nathalia, genannt Thalia, in den Gang trat und in die Richtung von Tiptoes Box rannte. „Tipsi! Du bist wieder da! Sham war ganz traurig ohne dich!", kreischte sie in bester Kleinkindmanier. Sie schob die Tür auf und umarmte die Tinkerstute stürmisch, die sie mit einem leisen Schnauben begrüßte. Sie reichte dem großen Tier gerade einmal bis zum Bauch, was das Ganze ein bisschen lustig aussehen ließ. Tipsi war ihr Spitzname für das Pferd, da sie den Namen Tiptoe früher nicht aussprechen konnte, und nun behielt sie es bei.
„Nicht so wild", lachte ich und strich Thalia über das rote Haar. „Wir stellen sie gleich wieder zu Shamrock auf die Weide, sie muss nur erst gestriegelt werden."
Shamrock war eine palominofarbene Bretonenstute, die schon ein beträchtliches Alter hatte und sehr lieb ihre Arbeit verrichtete. Wir hatten sie von Großvaters Pferdezucht, doch als unsere Mittel, um Pferde, gerade über den Winter, zu halten, knapp wurden, hatten wir eines nach dem anderen verkauft, bis wir nur noch Shamrock hatten. Aber bald wurde uns klar, dass wir die alte Stute nicht alleine halten konnten, und hatten Tiptoe gekauft. Bei ihrer Ankunft hatten sie und Shamrock sich überhaupt nicht verstanden, die junge Tinkerstute, die erst fünf Jahre alt war, war übermütig und verspielt, was Shamrock nicht wirklich gefiel. Außerdem tobte Tiptoe ausgesprochen gerne auf der Weide herum, wobei sie Shamrock eine ernste Verletzung an der Kruppe zugefügt hatte, als sie in ihrem Übermut wieder einmal ausschlug. Danach trennten wir die beiden erstmal, damit Shamrocks Wunde gut verheilen und mein Vater sie wieder auf dem Feld einsetzen konnte. Mit der Zeit haben sie sich angefreundet und Tiptoe schien nun auf Shamrock lebensverlängernd zu wirken. Seit sie da war, buckelte manchmal auch Shamrock freudig und beschnüffelte neugierig des Nachbars ausgebüxte Hühner, die unter dem Zaun durchgeschlüpft und somit auf die Koppel gelangt waren.
„Oh, darf ich sie striegeln?", rief meine Schwester aufgeregt und sprang umher. „BITTEE!!"
Erneut musste ich lachen. „Ja, wenn du magst. Du weißt ja, wo das Putzzeug ist. Und danach kannst du sie ja zu Sham auf die Weide stellen."
Sie nickte heftig und rannte sogleich an mir vorbei zu der Kammer, in der wir alle Arten von Geschirren für die Pferde aufbewahrten, genau wie für die Ochsen, die am anderen Ende des Stalles untergebracht waren. Bald kam sie mit zwei schon etwas altersschwachen Bürsten wieder und drängelte sich mit einem Hocker, den wir immer vor Tiptoes Box platzierten, an mir vorbei zu dem Tinker.
Bevor ich die Box verließ, schaute ich kurz zu, wie Thalia den Hocker abstellte, darauf stieg und leise auf die Stute einredete, während sie ihr Fell mit gleichmäßigen Bürstenbewegungen säuberte, wie sie es von mir gelernt hatte. ‚Niemals zu schnell bürsten!', hatte ich ihr damals gepredigt und als Beweis, dass ihre ‚Tipsi' das nicht mochte, einmal vorgeführt. Sie hatte angefangen zu tänzeln und leicht zu steigen, während sie unwohl wieherte. Ich erinnerte mich daran, wie das Mädchen losgequietscht hatte, vor Freude und vor Schreck gleichermaßen, und mein Vater zur Stalltür herein gerannt kam, weil er dachte, Tiptoe habe sie getreten. Wie hatten wir damals gelacht! Als mein Vater mich und Thalia in der Box sah, musste er ebenfalls lachen. Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich den Stall hinter mir ließ und über den knirschenden Schotter zum Wohnhaus lief. Thalia war eine Pferdenärrin. Sobald sie laufen konnte, stolperte sie auch schon in Tiptoes Box und auf der Weide herum. Als sie schließlich sprechen konnte, bettelte sie solange, bis ich ihr zeigte, wie man ein Pferd putzte und versorgte und alles, was dazu gehörte. Tiptoe war eigentlich meine Stute und Shamrock die von meinem Vater, doch seit meine Schwester den Hof unsicher machte, hatte sie auch schon einen Platz im Herzen der großen, sanften Tiere erobert. Irgendwann würde sie sicher ihr eigenes Pferd verlangen, doch bis dahin waren es noch ein paar Jahre.
Die Tür zum Haus war nur angelehnt und drinnen hörte ich Mutter weinen. Ich schob sie leise auf und wieder zu, und ging zum Wohnzimmer. Vater schritt anscheinend erbost auf und ab und zerknitterte wütend ein mit der Hand beschriebenes Papier. Seine Augenbrauen hatte er zusammengezogen, und nun sahen sie aus wie ein Adler, der zum Flug ansetzte. Er erspähte mich hinter meiner Ecke und mit einem etwas schuldbewussten Gesichtsausdruck kam ich ins Wohnzimmer.
„Es ist soweit", tat er mit grimmiger Miene kund und wedelte mit dem zerknüllten Stück Papier.
„Wa-", fing ich an und unterbrach mich gleich wieder. War es die Sache, über die wir ein paar Tage zuvor gesprochen hatten? Wahrscheinlich. Oder? Hoffentlich nicht. Aber warum sonst-. Ich wurde in meinen Gedanken unterbrochen, als mein Vater auf mich zukam und mir den Zettel unter die Nase hielt.
„Weißt du, was das ist? Nein? Das ist ein Brief von Lazuriel, wie er uns mitteilt, dass unsere Beiträge pro Monat sich nun verdoppeln sollen. Das heißt, wir müssen doppelt so viel Arbeit leisten. Und wenn wir das nicht schaffen, muss ich den ganzen Hof, Mutter und Nathalia verpfänden."
Von diesen Worten war ich erstmal baff. Dass Lazuriel so weit gehen würde, hätte ich ernsthaft nicht gedacht. „Kann er nicht jemand anderen bitten, die zusätzlichen Beiträge zu leisten? Jemanden, mit mehr Land und Vieh und Geld und..."
„Lazuriel will das von mir! Er will sich dafür rächen, dass ich ihn vor Nathan und den anderen bloßgestellt habe." Verzweifelt raufte er sich die Haare. „Und deine Mutter heult die ganze Zeit herum, seit sie es erfahren hat."
Mit wässrigen Augen schaute die Angesprochene auf. „Aber das sind doch wirklich schreckliche Neuigkeiten. Thalia wird am Boden zerstört sein", murmelte sie leise und unterwürfig und kleine Schluchzer schüttelten ab und zu ihre Stimme.
Durch Nicken bekannte ich meine Zustimmung und sah wieder zu meinem Vater. „Wir hatten vor zu verschwinden, doch wir waren uns noch nicht sicher wegen Nathalia."
Gedankenverloren starrte ich aus dem Fenster, vor dem gerade Thalia mit Tiptoe am Führstrick breit grinsend vorbeilief und mir zuwinkte. Ich hob ebenfalls die Hand und zwang mich zum Lächeln. Ihre Kindheit würde noch früh genug zerstört werden.
~~~
Am nächsten Morgen wurde ich von meiner Mutter geweckt, die achtlos die Scheunentür aufriss und den Namen meines Vaters brüllte. Auch meine Schwester war davon wach geworden und rannte, noch ihrem dünnen Nachthemdchen, als erstes zum Stall. Plötzlich heulte sie wie eine Sirene auf und ihre Mutter kam angerannt, um nach ihr zu sehen. Ich stand ebenfalls blitzschnell auf, schlüpfte eilig in meine Hose und mein Oberteil und sprang im nächsten Moment schon die Treppe runter. Die Wohnungstür stand verlassen offen und aus dem Stall drang ein herzzerreißendes Schluchzen. Ich joggte über den Schotter und durch das zweiflüglige Holztor und sah sogleich Thalia vor Tiptoes leerer Box, den Kopf auf dem Schoß ihrer Mutter gebettet, die auf dem Hocker saß.
„Oh nein!", entfuhr es mir, denn allem Anschein nach war Vater mit Tiptoe und meinem Einspänner abgehauen, der nicht mehr in der Scheune stand. Hilflos drehte ich mich um meine eigene Achse, doch alles schien plötzlich keinen Sinn mehr zu machen. Ich wollte schreien, doch ich wusste, ich durfte vor Thalia nicht schwach wirken.
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So lebten wir nun ein halbes Jahr noch auf dem Hof, und mit der Sonne jeden neuen Morgens stieg die Hoffnung, dass Vater noch einmal wiederkommen würde, und an jedem Abend sank sie auch wieder. Shamrock war traurig und lustlos gewesen, nachdem Tiptoe weg war. Sie wollte nichts mehr fressen und war schließlich krank geworden. Am vergangenen Tag war sie gestorben und, da wir nicht die Zeit und die Kraft hatten, sie zu beerdigen, schleppten wir ihren leblosen Körper mit der Hilfe einiger netter Nachbarn aufs Feld und verbrannten ihn. Thalia weinte die ganze Zeit und Mutter verflucht meinen Vater dafür, dass er uns verlassen hatte. Nun waren wir mittellos und konnten den Hof nicht mehr bewirtschaften. Am nächsten Tag sollte eine Kutsche kommen, die uns in die Stadt brachte, wo wir in eine kleine und hoffentlich billige Wohnung ziehen würden. Lazuriel hat wieder einen Brief geschrieben, und meine Mutter hat geantwortet, dass sie den Hof freiwillig verpfände. So, wie es jetzt aussah, würden wir im Armenhaus enden. Aber ich wollte nicht so einfach aufgeben, nicht in so einer Gosse untergehen. Nicht verschwinden, wie es die ganzen Armen taten. Ich wollte jemand sein, an den man sich erinnerte, gerne erinnerte. Mit diesem Gedanken in meinem Kopf packte ich alle meine Sachen zusammen, alle meine Waffen und Klamotten und schnürte einen Beutel mit Proviant. Aus meinem kleinen Fenster sah ich, dass die Sonne schon fast untergegangen war. Bei Einbruch der Nacht würde ich verschwinden, und ich würde großes vollbringen, oh ja. Noch lange wollte ich in aller Leute Munde bleiben.
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