~LXI.~

Weiter weg, direkt neben dem rauschenden Bach in der nassen Erde beim Ufer, stand das besagte hilfreiche Kraut Bachminze und sofort machte ich mich über die noch vorhandenen Blätter her, die nichts von ihrer Heilkraft verloren haben dürften, wie ich gleichermaßen vermutete wie hoffte. Eilig ging ich wieder zurück, zerkleinerte sowohl die Wurzeln als auch die Blätter in meiner hölzernen Schüssel, übergoss sie mit ein bisschen Wasser und sprach mit geschlossenen Augen heilende Worte vor mich hin – Zauberformeln, wenn man es so wollte, die ich bei dem Hexenkönig gelernt hatte – während meine Hände in kreisenden Bewegungen über sie flogen. Als ich damit fertig war und ich die Hände wegnahm, war eine stark nach Minze riechende, grün-bräunliche Paste entstanden. Eilig erhob ich mich und lief zu Aimée, um sie auf ihrer Wunde zu verteilen. Ich erkannte, dass diese schon etwas geheilt war, und hoffte, mein Heilzauber würde trotzdem seine Wirkung entfalten. Je mehr eine Wunde verheilt war, desto schlechter wirkte meine Heilkraft. Außerdem war dieselbe sowieso nicht sonderlich ausgeprägt, der Zauber deckte die Wunde nur wie ein Pflaster ab, damit kein Schmutz hinein kam. Um genau zu sein bräuchte ich dafür nicht einmal Heilkräuter, doch ohne sie war die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Wunde entzündete, recht hoch. Als ich fertig war, wandte ich mich ab. Aimée würde eine Narbe davon tragen und zudem würde eine Verletzung dieses Ausmaßes lange brauchen, um zu heilen, denn, wie schon erwähnt, ich heilte nicht wirklich, sondern schirmte das rohe Fleisch von der Umwelt ab. Darunter musste selbstverständlich alles von selbst heilen.

Nocturîan wandte sich mit einem protestierenden Schnauben von mir ab, weil ihm der Geruch der Paste anscheinend zu sehr in die Nase stach. Ich schmunzelte etwas. Das war ein gutes Zeichen.

Ich ging zum Bach, um die Schüssel auszuwaschen, und blickte danach zu Shay. Er hatte den Wallach angebunden und ihm Sattel und Trense zurechtgerückt. Er erwiderte mein Augenmerk. Er war bereit, weiter zu ziehen.

Nocturîan und der Graue, den ich passend zu seinem Aussehen Morhir getauft hatte, verstanden sich nicht wirklich gut, aber es wurde mit der Zeit erträglicher, je länger wir durch die Landschaft trabten. Aimée humpelte hinterher und die Sonne in unserem Rücken rückte immer mehr dem Zenit entgegen.

Nachdem wir die letzten Nächte so schlechte Erfahrung mit Ortschaften gemacht hatten, hätte ich mich am liebsten von ihnen ferngehalten, doch leider traf man außerhalb von Dörfern nicht so viele Wanderer, die einem etwas zu Gandalfs Aufenthaltsort sagen konnten. Somit ritten wir noch vor der Mittagsstunde in eine Siedlung ein, in der die Häuser alle sehr gepflegt schienen. Außerdem erkannten wir viele Gasthäuser, in denen wir uns umhören wollten.

So stiegen wir von unseren Pferden und banden sie an einem alten, hölzernen Weidezaun an. Aimée hatte zum Glück nichts dagegen, zwischen den beiden zickigen Herren zu stehen, die sich wohl ohne sie umgebracht hätten.

Unsere Schritte klangen gedämpft auf dem erdigen Boden, als wir auf das Gasthaus „Zum Weißen Ross" zuliefen. Drinnen fiel das Licht nur schwach durch die dreckigen und dazu noch rar vorhandenen Scheiben und ich griff unwillkürlich nach dem Türrahmen, bis ich mich einigermaßen orientieren konnte. Shay war schon zur Theke gelaufen, hinter der gerade ein junger Mann und ein Mädchen mit den Gläsern klapperten. Shay fragte sie irgendetwas und daraufhin ließ das Mädchen alles stehen und liegen, um wahrscheinlich den Wirt, ihren Vater, wie ich vermutete, zu holen.

Schließlich war ich bei Shay angekommen und stützte mich mit den Ellenbogen neben ihm auf die blankgeputzte Eichenholztheke. Der junge, schwarzhaarige Mann hatte sich schon abgewandt, warf mir nur einen flüchtigen, prüfenden Blick zu, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmete. Shay blickte mich kurz an. „Alles okay?" „Klar", antwortete ich und erwiderte kurz sein Augenmerk.

Einige Minuten vergingen, in denen ich den jungen Kellner von der Seite musterte. Bisher hatte ich mir so etwas nie erlaubt, aber ich brauchte Ablenkung, bis der Wirt kam. Also ließ ich meine Augen über ihn schweifen. Er hatte buschige, ebenfalls schwarze Augenbrauen, die über, ich erkannte es nicht genau, aber ich ging davon aus, dunkelbraunen Augen saßen. Während der Arbeit hatte er auf der Stirn eine kleine Konzentrationsfalte und er war gut trainiert. Unter dem langärmeligen, für Kellner üblichen Pullover konnte ich das Spiel seiner Oberarmmuskulatur erahnen.

Nach einer Weile hörten wir Schritte auf einer steinernen Treppe irgendwo hinter der Theke und bald darauf erschien das zierliche Mädchen mit einem schwarzhaarigen, bulligen Mann. Ich schreckte etwas aus meinen Gedanken und stellte mich ordentlich hin. Shay ließ sich allerdings nicht von ihm beirren und lehnte weiterhin auf derselben.

„Was wollt ihr?" Mein Gott, war der vielleicht freundlich. Bestimmt hatten wir ihn bei seinem Mittagsnickerchen gestört.

„Wir wollten fragen, ob Ihr zufällig wisst, wo sich Gandalf der Weiße zurzeit aufhält." Zum ersten Mal erhob ich meine Stimme und der Junge schien kaum merklich aufzuhorchen.

Der schwarzhaarige Riese legte seinen Kopf schief. „Ihr kennt Gandalf den Zauberer?" Dabei schaute er mir bedrohlich in die Augen.

„Flüchtig", antwortete Shay schnell und kam damit mir zuvor. Er warf mir einen kurzen, vieldeutigen Blick zu.

„Warum also sucht ihr ihn dann?"

„Wir haben unsere Gründe", meinte ich finster, langsam wurde es mir zu bunt. Warum konnte er nicht einfach auf unser Hilfegesuch eingehen? „Aber wie ich merke, habt Ihr meine Frage nicht beantwortet."

Er starrte ebenso finster zurück. „Was macht Euch so sicher, ich wüsste, wo er ist?"

Ich hob abwehrend beide Hände hoch. „Ich habe mich nur danach erkundigt." Verbissen versuchte ich, seinen eindringlichen, braun-gelben Augen standzuhalten.

Als er merkte, dass ich den Blickkontakt nicht unterbrechen würde, wandte er sich Shay zu. „Gandalf der Graue ist hier mal vorbei gekommen. Vor etwa einem Jahr. Ich glaube aber nicht, dass euch diese Informationen von Nutzen sein werden." Angriffslustig blitzten seine Augen auf.

„Besser als nichts", erwiderte Shay düster.

Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und verließ den Gasthof, ohne mich überhaupt zu versichern, dass Shay dasselbe tat. Draußen schritt ich mit wehendem Umhang zu den Pferden, band Aimée und Nocturîan los und sprang auf den Rücken meines Schimmelhengstes. Shay eilte mir nach.

„Warte, Emewýn."

Ich drehte mich auf dem Pferderücken um.

Er war geschwind bei mir, hatte Morhir losgebunden und stieg auf, während sein Wallach schon loslief. „Du darfst das alles nicht so persönlich nehmen, der hatte nur 'nen schlechten Tag."

„Mhh", brummelte ich wenig versöhnlich und richtete meinen Blick starr nach vorne. Damit war für mich das Gespräch beendet.

Ich verzichtete darauf, in diesem Ort in mehr Gasthäusern zu gehen, da bestimmt auch niemand sonst etwas von Gandalf wusste.

Das Dorf war nicht groß und innerhalb weniger Minuten hatten wir es verlassen. Ich blickte nachdenklich auf die weiten Wiesen und Äcker. Wäre die Sicht heute nicht so schlecht, könnte man sogar das Weiße Gebirge sehen. Doch es waren Wolken vor die Sonne von heute Vormittag gezogen und ließen sie nur noch ab und zu einen Blick auf den Boden erhaschen.

Schon nach anderthalb Stunden erreichten wir eine neue Siedlung. Sie erinnerte mich ein wenig an die Ortschaft, in der Shay gefangen genommen wurde und sofort stellte ein ungutes Gefühl meine Nackenhärchen auf. Auch hier gab es zwei gute Gasthäuser, und in den schmutzigen Gassen davor banden wir unsere Pferde an. Leider gab es nur einen einsamen Metallpflock an einer Straßenecke, an die gedrängt wir sie anbinden mussten. Schnell liefen wir auf das erste Gasthaus zu, „Zur schönen Aussicht". Der Innenraum war heimelig, in den kleinen Räumen standen viele Eckbänke mit grün-gestreiften Sitzpolstern und die Sitzkissen der Stühle hatten dieselbe Farbe. In der Ecke stand ein großer, grüner Kachelofen, der die Stube beheizte.

Ich stand etwas abseits, als ein junges Mädchen, sie hatte strahlend blaue Augen und die blonden Haare in einem Pferdeschwanz zusammengenommen, auf uns, oder besser auf Shay zukam. „Kann ich Euch helfen? Etwas zu trinken oder zu Essen anbieten? Oder ein Zimmer?"

Mit einer dankend-ablehnenden Handbewegung stoppte Shay sie in ihrem Redeschwall. „Danke, aber ich möchten nichts. Wir wollten eigentlich nur fragen, ob man etwas von Gandalf dem Weißen gehört hat."

„Oh, das ist mir jetzt aber peinlich", fing sie an und lächelte den Mann vor ihr an. „Ich weiß nicht, wen Ihr meint. Aber meine Tante kann helfen! Ihr gehört der Laden hier." Mit einem verliebten Wimpernaufschlag zu Shay lief sie vor zu einer dicklichen, dunkelhaarigen Frau, die hinter der Theke Geschirr in einen Schrank sortierte.

Shay folgte ihr und ich schloss im Nu zu ihm auf. „Na, da hat sich aber jemand verguckt." Ich biss mir auf die Lippe, um das Grinsen von meinem Gesicht zu scheuchen, doch es blieb hartnäckig.

Er sah mich etwas gekränkt an. „Die hat ja keine Ahnung", meinte er mürrisch, anscheinend gab er nicht gerne zu, dass er sie ebenfalls toll fand. Sie war schlank, hatte aber durchaus Kurven, war hübsch und hatte eine gesunde Gesichtsfarbe. Also sozusagen das komplette Gegenteil von mir. Ich sah ihm an, dass er dieser Art von Aufmerksamkeit nicht abgelehnt war.

Mit knarrenden Schritten trat die Frau auf uns zu. „Ihr seid also der Wanderer, der etwas über Gandalf den Weißen wissen will."

Ich unterbrach sie mit einer Handbewegung. „Wir wandern gemeinsam."

„Oh achso, entschuldigt. Mhh, mal überlegen... eigentlich ist mir nichts untergekommen. Wisst ihr, das hier ist ein sehr ruhiges Plätzchen." Ich sah mich in der Gaststube um. Ja, das konnte ich mir durchaus vorstellen. „Aber vor ein paar Tagen kam einer vorbei. Er sah aus wie ein Zauberer: lange Haare und Bart, spitzer Hut und Stab und geistig etwas verwirrt. Er hat nach Èomer und seinen Leuten gefragt. Als ob ich sowas wüsste. Naja, jedenfalls hat er noch eine Suppe gegessen, bevor er ging."

Ich nickte Shay zu, bevor ich mich an die Frau wandte. „Danke vielmals. Wisst Ihr zufällig, welche Richtung er eingeschlagen hat?"

„Nein, tut mir leid. So neugierig bin ich dann doch wieder nicht." Sie unterdrückte ein leises Lachen und strahlte mich und Shay an. Der Blick des Mädchen jedoch, sobald sie bemerkte, dass ich mit Shay wanderte, verfinsterte sich und ich fühlte mich, als hätte ich etwas Schlimmes verbrochen.

„Das ist okay, danke", sagte Shay schnell, als er mein Unwohlsein bemerkte. „Jetzt wissen wir schon mehr als vorher." Ein nicht ganz weißes, aber ansteckendes Lächeln riss die Aufmerksamkeit der Blondine von mir weg auf den Mann neben mir.

„Wir müssen jetzt aber auch wieder gehen", meinte ich lächelnd und versuchte nicht unfreundlich oder hämisch zu wirken, weil ich die beiden bei ihrem romantischen Blickaustausch störte. Die blonde Kellnerin warf mir ein böses Augenmerk zu und winkte Shay noch einmal kurz zu, bevor sie in der Küche verschwand.

Er jedoch schien sich nicht darum zu scheren und verabschiedete sich von der Wirtin.

Ich tat es ihm gleich und wir verließen den gemütlichen Gasthof durch die dicke, hölzerne Tür.


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