~LVII.~


„... siehst du, das hast du jetzt davon", schimpfte ein ungeduldiger, junger Vater seinen Sohn aus, dessen Haupt voll Spinnweben war. Der Anblick, wie der leicht säuerlich guckende Vater dem Sohnemann, der nicht gerade begeistert war, dieselben aus dem Haar zupfte, brachte mich zum Lächeln.

Ein kleines Mädchen rannte über den Platz. „Gerda! Komm wieder her!" Die genervte Mutter rannte ihrem Kinde hinterher. Das lachte und verschwand unter einem Stand, der Stoff und Kleider verkaufte. Zwischen den langen, herunterbaumelnden Stoffbahnen lugte es breit grinsend hervor, während die verzweifelte Mutter ihren Blick über die vielen Leute schweifen ließ.

Ein Mann in einem ordentlichen Anzug mit einem dunkelgrauen Umhang schaute sich um, bevor er in eine Seitenstraße trat. Er wirkte nervös. Aus dem Schatten schritt ein junger Mann, das zerzauste Haar stand in alle Richtungen und der Schlammrand an seinem Umhang ließ darauf schließen, dass er seit längerer Zeit unterwegs war, zu Fuß oder zu Pferd. Er überreichte seinem Gegenüber ein kleines Bündel. „Das ist alles, was ich auftreiben konnte."

Die Miene des ersteren hellte sich auf. „Das ist mehr als genug, danke."

„Wenn du es verkaufst", fing der andere Mann leise an, „achte darauf, dass dich Nathan ([Neithan] : einfach die Englische Aussprache von Nathan, in der Mitte soll der typische englische th-Laut sein (: ) nicht mit dem Zeug erwischt. Der versteht da gar keinen Spaß. Vor allem nicht in letzter Zeit."

„Schon klar, ich werd' mich nicht erwischen lassen, ich bin ja nicht blöd." Er schien sich eine Zigarette anzuzünden. „Aber wieso ist Nathan eigentlich so schlecht drauf? In letzter Zeit haben wir doch alle Aufträge zu seiner Zufriedenheit erledigt. Und heute Nacht erst hat er den Möchtegern-Assassinen eingebuchtet."

Möchtegern-Assassine? Redeten sie möglicherweise von Shay? Ich wurde hellhörig.

„Es ging auch nicht so sehr um ihn, sondern um seinen Alten, den unsere Brüder im Norden umgelegt haben", fing der andere an. „Der hat doch was rausgefunden, mit dem er alles kaputtgemacht hätte. Die Schriftstücke will Nathan natürlich unbedingt haben. Aber der Junge hatte sie nicht bei sich. Und solange er nicht sagt, wo sie sich befinden, ist er für ihn wertlos. Er kann ihn nicht töten und nicht freilassen."

„Mist! Also werden wir noch einmal in das Haus der Alten gehen, um nach dem Mädchen zu suchen?"

„Ich weiß nicht, was Nathan will. Aber auf jeden Fall steht fest, dass er sich nicht mit dem, was er jetzt hat, zufrieden geben wird."

Damit nickten sie sich zu und gingen auseinander, doch nicht vor einem wachsamen Blick beider zu der Menschenmenge auf dem Marktplatz.

Ich blieb zurück an dem Stand; ließ meine Hände sinken und versuchte, die neu gewonnenen Informationen zu verarbeiten. Sie führte mich zwar nicht zu Shay, aber sie ließ mich die Hintergründe verstehen. Etwas, das ich schon lange versuchte. Aber es zeigte mir auch, dass ich schleunigst aus diesem Ort verschwinden musste.

Die Sonne stand noch hoch, als ich wieder an dem Hain ankam. Nocturîan zeigte sich gleichgültig, nur Aimée hieß mich mit einem Schnauben willkommen. Ich kletterte auf eine hohe Buche und blickte über die Landschaft vor mir. Vielleicht konnte ich von hier das Hauptquartier der Assassinen ausmachen - denn man sagte ja, dass man etwas viel besser fand, wenn man Abstand gewann - doch ich hielt es für etwas unrealistisch, denn ein Großteil des Dorfes lag hinter einem flachen Hügel und blieb somit meinem Blick verborgen. Ich sah, wie ein Bauer mit seinem Ochsengespann ein Feld pflügte, das offenbar schon abgeerntet war und wie wenige neue Karren von Eseln ins Dorf gezogen wurden, für den nächsten Tag. Die Zeit flog vorüber und die Sonne näherte sich dem Horizont. Die Leute zogen sie sich in ihre Häuser zurück und zündeten drinnen eine Kerze an. Der zarte Schein erleuchtete nach und nach alle Fenster, als das Tageslicht weiter schwand.

Shays point of view:

Gelangweilt starrte ich an die Steinwand. Zwischen meinen Fingern drehte ich eine glatte Silbermünze, die mir die unfreundlichen Männer nicht abgenommen hatten. Sie hatten mich den ganzen Tag in der Zelle gelassen, ohne mich zu „befragen" oder mir etwas Vernünftiges zu essen zu bringen, aber offenbar konnte man nicht viel von seinen Feinden erwarten. Der Tag hatte sich träge hingezogen, wie Honig, der eine Treppe hinunter floss und wer wusste schon, wie viele weitere Tage ich noch hier verbringen musste. Eine dicke, kräftige Frau hatte mir eine Schüssel mit wässrigem Eintopf gebracht und mich ganz nebenbei noch gefragt, ob ich wüsste, wo die Karte und die anderen Dokumente seien. Als ob ich ihr das sagen würde. Außerdem hatte ich keinen blassen Schimmer, ob Nienná mich suchte oder ohne mich weiterzog und ob sie meine Sachen bei sich trug.

Mein Blick fiel auf die ordentlich leergeputzte Schüssel am Gitter, auf die ein schmaler Streifen Mondlicht fiel. Ich stand auf und trat an das vergitterte Fenster. Draußen war gerade der fast volle Mond aufgegangen und schickte sein schwaches, bleiches Licht auf die friedlich schlafende Ortschaft. Die Wolken eilten rasch vorbei, hin und wieder schob sich ein Fetzen vor die helle Scheibe und dämpfte so den kalten Schein. Ein Adler flog über das Dörflein und schrie, er schien schnell den Hain am Horizont aufsuchen zu wollen. Mein Herz machte bei dem Anblick einen kleinen Hüpfer; waren Adler doch majestätische und schöne Vögel, und meine Lieblingstiere.

In dem Moment hörte ich draußen im Flur ein Geräusch. Es schien, als würde sich jemand an einem dort stehenden Schrank zu schaffen machen. Dann kamen Schritte näher. Hoffnungsvoll schaute ich auf, es war jedoch nur der speckige Wärter, der die Gittertür meiner Zelle laut aufschloss und aufstieß. Er brummte ein barsches „Mitkommen" und ergriff meinen Arm, als fürchte er, ich könnte einen Fluchtversuch unternehmen. Nicht, dass ich nicht darüber nachdachte, doch ich verwarf den Gedanken schnell wieder. Denn selbst wenn oben genannter glücken würde, stände ich als unbewaffneter Mann vielen, bis an die Zähne bewaffneten Mördern gegenüber, die kalt genug waren, über Leichen zu gehen. Und ich wusste nicht einmal ganz genau, wie viele Assassinen sich in dem Gebäude befanden.

Er führte mich in einen hell erleuchteten Raum, in dem sich zu meiner Überraschung nur ein Assassine befand. Die anderen Männer waren Wachen, ich erkannte es daran, dass sie keine traditionelle Kutte trugen. Sie standen an allen möglichen Ausgängen, auch an den vergitterten Fenstern.

Unsanft wurde ich auf einen unbequemen Holzstuhl gedrückt und meine Hände hinter meinem Rücken zusammengebunden. Anscheinend wollte er keinen Fehler machen.

Mit einem Wink zeigte er an, dass uns die anderen alleine lassen sollten. Die Tür fiel laut ins Schloss, als die Männer den Raum verließen. Dann war Stille.

Schritte tönten über das Parkett auf meinen Platz zu und im nächsten Moment brannte seine Hand auf meiner Wange. Laut hallte der Ton seines Schlages in meinen Ohren wider. Unvorbereitet drehte ich den Kopf weg und schluckte das Blut herunter, das ich im Mund schmeckte. Schließlich sollte mein Gegenüber nicht sehen, wie hart er mich getroffen hatte. Nur die Vorstellung seines hämischen und selbstzufriedenen Grinsens rief in mir eine unvorstellbare Wut hervor. Ich verbiss mir einen unfreundlichen Kommentar und blickte ihn stattdessen unbewegt an.

„Da bin ich, Nathan, einmal froh, deinen Vater aus dem Weg geräumt zu haben, da kommt sein Sohn daher und tritt, dumm wie er ist, in seines Vaters Fußstapfen. Aber das hat ein Ende! Dein Vater war jedenfalls nicht dumm genug, sich gefangen nehmen zu lassen. Und er trieb sich auch nicht mit Waldläufergören herum! Vielleicht verdienst du es. Ja, sicher verdienst du es!" Der Assassinenanführer war während seiner Rede durch den Raum geschritten und drehte sich jetzt zu mir um, als wolle er mich genau in dem Moment sein Gesicht sehen lassen, als hätte er das alles geplant.

Meine Miene verfinsterte sich zusehends und ich sagte entschieden: „Da muss ich dich enttäuschen. Mein Vater hat einen äußerst klugen Sohn! Und ich bin vielleicht sogar klüger als er!"

Nathan kam näher. „Ach wirklich?" Er blickte mich gespielt unwissend an. „Ich kann mich aber nicht entsinnen, ihn jemals derartig lange Zeit verfolgt zu haben!"

„Deine Leute haben uns verloren!"

Nathan lächelte teuflisch und drehte sich wieder um. „Aber trotzdem bist du hier. Wie erklärst du dir das?"

„Du bist ein Bastard!", spuckte ich ihm entgegen, auch wenn mir bewusst war, dass das nicht die richtige Situation war, um Derartiges zu äußern, doch ich konnte meine Zunge nicht bändigen.

„Na na na." Er wandte seinen Kopf um und blickte mich über seine Schulter an. „Du bist wohl kaum in der Position, so etwas kundzutun. Deshalb schweige einfach. Wie das Sprichwort sagt: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold." Er ließ ein geräuschvolles Seufzen hören, als er ruhelos durch das Zimmer lief. Dann holte er tief Luft. „Also höre mir am besten einfach zu, ja? Du hast ja jetzt sowieso nichts Besseres zu tun." Wieder dieses falsche Grinsen, das ich ihm am liebsten aus dem Gesicht schlagen würde. „Als dein Vater tot war, dachte ich, es wäre vorbei, wir hätten Ruhe. Doch dann kamst du. Kannst du dir jetzt vorstellen, warum ich dich hasse?" Aber er erwartete keine Antwort, denn er fuhr fort, noch ehe ich dieselbe geben konnte. „Dein Vater war verrückt. Er dachte, er könne es mit den Größten der Größten aufnehmen. Den Mächtigsten der Mächtigen." Nathan ließ ein irres Lachen hören, doch es war nicht echt, wie alles an ihm."Aber er hat sich getäuscht. Dein Vater hat sich oft getäuscht. Wir haben ihn gefunden, noch ehe er etwas bewirkt hatte. Dachte er, er könne vor der Welt davon rennen? Es war klar, dass wir ihn früher oder später finden würden. Sein Plan ging nicht auf. Also..." Sein Blick bohrte sich in meinen. „Also brauchst du ihm nicht mehr nachzueilen, Junge. Es ist zu spät. Die Assassinen sind schon in die obersten Herrschaftspaläste der einzelnen Reiche vorgedrungen. Wir haben etwas zu sagen, und das sollen alle hören! Wir sind groß und mächtig, aber wir sind wie eine Bohnenpflanze, wir sind noch nicht am Ziel! Wir werden noch größer werden und mächtiger als je jemand zuvor in Mittelerde! Wir werden über diese Welt herrschen! Und vielleicht sogar über die Landen der Südländer. Wer weiß das schon." Eine Pause entstand, und er trat zu mir, beugte sich hinunter und blies mir seinen widerlichen Atem ins Gesicht. „Aber davor wüsste ich noch gerne, wo sich besagte Dokumente befinden, damit ich dich töten kann. Dann wäre ich dich für alle Ewigkeit los. Ist das nicht ein guter Plan?"

Mit zusammengepressten Lippen starrte ich ihn an. So leicht würde ich nichts preisgeben. Sollte er mich doch schlagen und foltern, mir war mein Leben lieb.

Als Nathan begriff, dass ich nichts sagen würde, schlug er zu. So hart, dass ich mitsamt dem Stuhl auf den Boden kippte. Mein Kiefer schmerzte höllisch, wahrscheinlich war irgendetwas ausgerenkt. Doch trotz der Schmerzen biss ich die Zähne zusammen. Ich würde nicht um Gnade winseln wie ein hilfloser Welpe. Schließlich war ich ein Mann.

„Sprich!", schrie Nathan erzürnt.

Ich machte immer noch keine Anstalten, Derartiges zu tun und da trat er mich. Seine Stiefelspitze traf mich an der Seite und am Bauch. ‚Wie feige', dachte ich. ‚Einen Mann, der sowieso schon am Boden liegt, zu treten.' Ich versuchte mich zu schützen, so gut es ging, doch ich war gefesselt, was es ausgesprochen erschwerte. Zudem verhinderte der Stuhl, dass ich mich bewegen konnte.

Als ich schließlich seinen schönen Fliesenboden mit Blut besudelte, das mir aus Mund und Nase floss, rief er den fetten Wärter herein, dass er mich zurück in meine Zelle bringe. Das tat er auch, und er musste mich den halben Weg schleifen und tragen, weil mir zwischendurch immer wieder meine Beine versagten. Murrend schmiss er mich in meine ganz persönliche Hölle, verriegelte die Tür und trollte sich.

Noch lange saß ich auf dem kalten Steinboden und hielt mir die Nase, ob sie gebrochen war, konnte ich nicht einschätzen, aber nicht nur sie, sondern mein ganzer Körper schmerzte. Seine Stiefel hatten herrliche blaue Flecke und Blutergüsse auf meiner Haut gebildet. Noch immer etwas erschrocken von der Aggressivität dieses Mannes versuchte ich, sie zu kühlen.

Noch ganz vertieft in mein Tun bemerkte ich die Schreie der Leute erst, als sie schon erschreckend nahe waren. Etwas schwerfällig erhob ich mich und blickte aus dem Fenster. Ich sah Uruk-Hai und Orks, die die Menschen aus ihren Häusern vertrieben, um diese zu plündern und anzuzünden. Panik machte sich in mir breit. Wenn ich mich nicht jetzt nicht befreien konnte, befand ich mich in einer überaus belämmerten Situation. Hier drinnen war nicht Platz genug zum Kämpfen, ich hatte keine Waffen und die Deckung war mehr als dürftig. Doch ich war in einem auffälligen Gebäude, daran würden die Missgestalten sicher nicht vorbei laufen. Hektisch rüttelte ich an dem Gitter und studierte dann, als ich merkte, dass meine Bemühungen sinnlos waren, den Schließmechanismus. Theoretisch brauchte ich nur etwas Spitzes, etwas Flaches, das dürfte das System überlisten und die Tür öffnen. Meine Augen flogen durch den dunklen Raum und blieben an einem Nagel hängen, der aus dem alten Bettgestell ragte. Damit dürfte es klappen. Unter großer Anstrengung konnte ich ihn herausziehen, wobei ein loses Brett scheppernd zu Boden fiel, und ich steckte ihn mit zittrigen Händen in das Schlüsselloch, wo ich ihn hin und her drehte, doch es tat sich nichts. Im Gang hörte ich schon das Gebrüll der unmenschlichen Kreaturen. Panisch packte ich den Nagel fester und versuchte krampfhaft, das Schloss zu öffnen. Vergeblich.


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