~LIV.~
Noch eine Weile fuhren wir durch den Wald, bis sich der breite Strom durch lauter werdendes Rauschen ankündigte. Kurz darauf erkannten wir am Ende des Pfades einen wild sprudelnden Fluss. Beim Näherkommen bemerkte ich, dass das steinige Flussbett nicht so fern schien, wie ich gedacht hatte. Aber natürlich wusste ich, wie tückisch das klare Wasser das Licht brach und wie schwer sich deshalb die Tiefe schätzen ließ. Also schnappte ich mir Shays Schwert, sprang noch während des Fahrens ab und rannte zum Ufer. Ich hielt es in das eisige Nass und schätzte die Tiefe. Das Schwert verschwand zu etwa zwei Dritteln im Wasser. Das hieß, an dieser Stelle war der Anduin zu tief, um ihn mit der Kutsche zu durchqueren. An anderen mitten im Fluss war er so flach, dass man, würde man mit einem Floß darüber fahren, aufsitzen, mal ganz davon abgesehen, dass wir keins besaßen. Grübelnd blickte ich zurück und bemerkte, dass Shay inzwischen die Kutsche angehalten hatte.
Auf einmal hatte ich eine Art Geistesblitz und ging schnell auf das Gefährt zu. Ich gab Shay sein Schwert wieder, was ich immer noch in der Hand hatte.
„Spann' die Pferde aus", meinte ich barsch und machte mich an Nocturîans Geschirr zu schaffen.
„Was?!" Er hielt in der Bewegung inne.
„Spann' die Pferde aus. Wir bringen die Kutsche ohne die Pferde auf die andere Seite."
Der hochgewachsene Mann schien sehr skeptisch gegenüber meinem Plan und runzelte die Stirn. „Was ist, wenn sie wegrennen?"
„Das werden sie nicht tun", meinte ich entschieden. „Sie sollen sich ihren Weg selbst suchen."
Shay sagte nichts mehr, steckte sein Schwert in die Scheide um seiner Hüfte und befreite die kleine Braune von den Riemen. Sogleich rannten beide los, warfen ihre Köpfe hinauf und hinab, als wären sie froh, das Zaumzeug los zu sein, wateten in den Fluss und plantschten herum wie kleine Kinder. Ein Lächeln ließ meine Mundwinkel zucken, für einen kurzen Moment.
Auf ein Kommando packte ich zeitgleich mit Shay die Deichsel und zog das Gefährt Richtung Fluss. Am Ufer suchten wir uns eine flache Stelle, um die Kutsche problemlos ins Wasser ziehen zu können.
Glücklicherweise war die Strömung auch in der Mitte nicht sonderlich stark und wir kamen ohne größere Schwierigkeiten und heil auf der anderen Seite an. Wir konnten die Kutsche ohne Schaden wieder an Land ziehen. Nun stand der edle Wagen tropfend auf der Straße.
Ich pfiff nach Nocturîan, der immer noch verspielt nach den Wellen trat. Doch auf den Ruf hin kam er in meine Richtung getrottet - immer wieder abgelenkt vom Lichtspiel auf dem sprudelnden Wasser - hinter ihm die Braune, die wahrscheinlich noch nie einen Fluss gesehen hatte.
Als die beiden bei uns angekommen waren, rieb ich sie notdürftig mit meiner Flickendecke trocken, bevor ich ihnen wieder, gemeinsam mit Shay, das Geschirr anlegte.
Als wir eine Weile, wohl zehn Minuten, auf der anderen Seite gefahren waren, lichtete sich der sowieso schon dünnere Baumwuchs und ging schließlich in vereinzelte Baumgruppen über. Hinter einem nahen Hügel stiegen sehr weiße Rauchsäulen auf, ein Indiz auf eine Siedlung.
Ich stieß Shay belustigt in die Seite. „Na, was hab' ich dir gesagt?"
Mürrisch brummte er etwas vor sich hin, so etwas wie: „Reine Glückssache", doch ich überhörte seinen Kommentar geflissentlich.
Nach wenigen Minuten hatten wir den Hügel im Trab erklommen und blickten auf ein weites, größtenteils unbewaldetes und flaches Land. Am Horizont sah ich, wie die schneebedeckten Gipfel des weißen Gebirges geradezu leuchteten im Dunst und seinem Namen alle Ehre machen. Im Norden wurde die Ebene vom dichten Fangornwald und dem Nebelgebirge begrenzt. Ein Fluss glänzte silbern im Licht der Sonnenstrahlen in einer kleinen Aue hinter dem Dorf.
Die Straße wurde wieder breiter und besser befahrbar. Weiter vorne vereinigte sie sich mit der großen Ost-West-Handelsstraße. Mehr und mehr Wagen begegneten uns und strebten mit uns auf das Dorf zu.
Gegen Mittag kamen wir im Dorf an. Dort gab es viel Trubel, allerlei Händler hatten sich eingefunden und verkauften allerhand Waren. Da wir uns ebenso neue Waffen besorgen wollten (da unsere uns ja abhanden gekommen waren), hielten wir die Kutsche am Rand an. Sie machte einen Großteil unseres Vermögens aus und wir hatten vor, sie zu versteigern, da wir das Geld in Münzen brauchten.
Wir spannten Nocturîan und die braune Stute aus und ich warf beiden einen lockeren Halsring um. Auf Shays Zeichen hin entfernte ich mich von den Leuten, die sich neugierig um unser Gefährt versammelt hatten und lief an den Rand des Dorfes, gefolgt von scheinbar synchronen Huftritten. Als ich sie so einsam durch die fast leeren Gassen klingen hörte, wurde ich ein kleines bisschen wehmütig.
Am Ende des Dorfes, weit weg von den vor Windböen schützenden Häusern pfiff die tosende Herbstbrise nur so über die freie Fläche. Ich schaute zum Himmel und merkte, dass Wolken aufgezogen waren. Die Sonne verschwand hin und wieder hinter einer dichten Wand aus Watte. Schließlich blieb ich stehen und nahm beiden ihren Halsring ab. Die junge Braune sprang gleich los, galoppierte vergnügt über die Ebenen und schmiss Kopf und Beine in die Luft. Der Wind spielte mit ihrer Mähne. Nur Nocturîan war stehen geblieben. Er senkte den Kopf und prustete mir freundlich entgegen. Wollte er mich etwa trösten? Unbemerkt waren wenige Tränen in meinen Augen aufgestiegen und eine von ihnen rollte einsam über meine Wange. Sollte ich etwas ändern wollen, nur weil ich nicht mehr eine nordische Einzelgängerin war? Ich dachte an Gandalf, seine letzten Worte zu mir...
Entschlossen wischte ich über die nassen Flecken in meinem Gesicht und streichelte die samtweichen Nüstern meines Hengstes. „Auf ein baldiges Wiedersehen, calanya (mein Licht)", flüsterte ich ihm zu und blinzelte eine weitere Träne weg. Nocturîan hob den Kopf, wieherte und galoppierte davon.
Noch kurz ließ ich meinen Gedanken freien Lauf, als ich zuschaute, wie die beiden Pferde gemeinsam gen Horizont galoppierten. Doch bald fasste ich mich wieder und lief zurück ins Dorf.
Dort sah ich den ehemaligen Assassinen, wie er sich über einen Stand beugte, an dem Waffen zur Schau gestellt waren. Nachdenklich ließ ich meinen Blick über die Menschenmenge auf dem Marktplatz schweifen. Dann ging ich schnurstracks auf den Mann mit dem rötlich-braunen Haar zu und tippte ihm auf die Schulter.
Überraschung und Verwirrung war in sein Gesicht geschrieben, bis er seine Worte wiederfand und sagte: „Das hat aber ziemlich lange gedauert."
Ich zuckte mit den Achseln, hatte keine Lust, mich zu rechtfertigen, doch ich tat es trotzdem. „Ich musste ein ganzes Stück aus der Siedlung hinauslaufen, wegen der Äcker, die Bauern beschweren sich sonst."
Shay nickte, er schien sich damit zufriedenzugeben. „Wir haben guten Gewinn gemacht mit der Kutsche."
„Welcher Gewinn ist denn schon schlecht?", fragte ich, doch es war eher eine rhetorische Frage, und Shay antwortete auch nicht.
Er zupfte an mehreren Säckchen unter seinem Mantel. „Damit können wir unsere Waffen ersetzen und noch viel mehr kaufen."
Ich nickte. „Das ist auch das Mindeste."
Shay schaute mich etwas befremdet an, doch er wandte sich schnell wieder ab und feilschte weiter mit dem Händler um ein Messer.
Ich schaute mich derweil bei den anderen Ständen um. Wunderschöne, orientalisch anmutende Teppiche hingen auf extra dafür aufgestellten Gerüsten, warme Umhange wurden von einem anderen Verkäufer angeboten und Lebensmittel fanden sich gleich an den benachbarten Ständen. Nichts davon brauchte ich besonders dringend, nur...
„Emewýn?" Ich drehte mich um.
Shay tauchte aus der Menge vor mir auf und zog mich zu den Waffenständen. „Weißt du, du hast doch nur den Bogen und die Dolche. Vielleicht wäre es ganz günstig, wenn du für den Nahkampf kämpfen üben würdest."
„Ich kann gut mit meinen Dolchen umgehen, danke, das reicht mir." Ich dachte zurück an den Elb in dem Dorf zu Beginn meiner Reise und an die Minen Morias.
„Nein, ich meine, das ist natürlich gut, aber man ist besser dran, wenn man noch mit einem Schwert kämpfen kann. Wir sollten dir noch eins kaufen, wir haben genügend Münzen." Erwartungsvoll sah er mich an.
Seufzend gab ich mich geschlagen. „Gut, wenn du darauf bestehst..."
Begeistert wie ein kleines Kind zeigte mir Shay die, die in Frage kämen und erklärte mir ihre Vorteile und Nachteile. Als wir uns endlich entschieden hatten, suchte er sich mit sichtbarem Interesse und voller Konzentration noch einige andere Waffen für sich selbst heraus.
Danach, die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, suchten wir uns in den Straßen ein Gasthaus, in dem wir übernachten konnten.
Da wir keins fanden, fuhren wir fort, in den Seitengassen Ausschau zu halten. In einer dunklen Pflastersteingasse, in der die Häuser zu beiden Seiten riesig und dunkel in den Himmel ragten und die nicht die sauberste war, quietschte ein von Wind und Wetter geplagtes Holzschild. Das Gebäude sah nicht sehr neu aus, aber wir wollten hier ja auch nicht lange bleiben.
Als wir eintraten in einen lichtlosen Flur, der mit alten, knarrenden Dielen ausgelegt war, konnte ich mir kaum vorstellen, dass dieses Haus bewohnbar war. Es war düster, ein Glück also, dass ich gute Augen hatte. So stockdunkel war die Finsternis hier, dass sich Shay wortlos an meinem Arm festhielt und mir durch den Gang folgte.
Als wir um eine Ecke bogen, sahen wir einen Lichtschein. Shays Griff lockerte sich, jetzt, da er wieder einigermaßen vernünftig sehen konnte. Wir folgten dem Licht und erkannten bald eine Theke. Die Frau dahinter war alt, wahrscheinlich schon so alt wie das Haus selbst.
Wir mussten auf die auf der Theke stehende Klingel drücken, ehe uns die Frau bemerkte. Das einzige Licht spendeten eine Hand voll Kerzen, die tiefe Schatten auf ihr faltiges Gesicht warfen. Ich war versucht, ihr Alter zu schätzen, doch es wollte mir nicht gelingen.
„Guten Abend", begrüßte Shay sie freundlich und vorsorglich gleich etwas lauter, wenn ich mich nicht täuschte.
Sie nickte freundlich. „Ihr möchtet ein Zimmer?"
„Genau. Nur für diese Nacht, bitte." Aufmerksam betrachtete ich ihren Gesichtsausdruck, als ich ihr das Geld gab und sah mich dann neugierig hier um, während die Frau die Schlüssel suchte. An den Wänden hingen viele Gemälde, aber auch einige Teppiche, solche, welche ich auch schon auf dem Markt gesehen hatte, und in einer Ecke glimmte Glut in einem Kamin, den ich zuvor gar nicht bemerkt hatte.
Schließlich hatte die Frau den Schlüssel gefunden und nahm eine Kerze in die Hand. Sie ging auf einen unbeleuchteten Flur zu, dann stieg sie eine knarzende Holztreppe hinauf.
„Hier ist alles schon etwas eingestaubt. Normalerweise bekomme ich nicht so oft Gesellschaft. Die meisten suchen sich gleich zu Beginn des Dorfes eine Unterkunft. Kann ich ihnen ehrlich gesagt auch nicht verdenken, so schmal, wie die Gasse ist, in der das Schild von meiner Pension hängt." Sie drehte sich nicht um, doch ich hörte sie lächeln. Bestimmt war sie eine sehr gesprächige Person, die sich einsam fühlte, wenn sie allein war.
„Wir haben kein anderes Gasthaus gesehen", warf Shay ein.
Mit entschuldigendem Blick wandte sich die Frau zu meinem Begleiter um. „Das tut mir leid. Wahrscheinlich liegt es daran, dass es schon recht dunkel war. Die Wirtshäuser sind nicht wirklich beleuchtet." Insgeheim war ich mir aber sicher, dass es nicht daran lag.
Bald hatten wir den Anfang eines Flures erreicht, auf dem ich zahlreiche Türen erkennen konnte. An der ersten hielt die Frau an und schloss sie auf. Sie öffnete sich klagend und keifend, verbarg aber nur ein kleines Zimmer.
„Euer Reich. Nicht gerade groß, aber für eine Nacht dürfte es reichen", meinte sie, blickte dabei aber bloß Shay in die Augen.
Er bedankte sich mit einem kurzen Nicken. „Das reicht voll und ganz."
Die alte Frau wünschte uns eine gute Nacht, wobei sie mich nur mit einem flüchtigen Seitenblick misstrauisch musterte. Höflich neigte ich den Kopf, folgte Shay in das Zimmer und er schloss die Tür.
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