~LIII.~

Als Shay zufälligerweise auf die Straße hinter uns blickte, wurde er unruhig. Mehrere Reiter, in eine Staubwolke gehüllt, näherten sich schnell dem Dorf.

„Wir bekommen Gesellschaft", meinte Shay unbeteiligt und drängte sich an mir vorbei zum Kutschbock. Verwirrt blickte ich zu ihm, augenscheinlich wollte er dringend los.

„Was zum Henker..." Mit gerunzelter Stirn setzte ich mich auf sein Zeichen hin neben ihn.

„Erkläre ich dir während der Fahrt." Mit konzentriertem Blick trieb er die Pferde an und lenkte das Fuhrwerk auf die Straße. Dies gestaltete sich aber schwieriger als gedacht, denn die Tritte von Nocturîan waren wesentlich länger als die von der braunen Ponystute. Die Leute am Straßenrand schmunzelten schon über unser ungleiches Gefährt.

Doch nichts desto trotz trieb Shay sie in den Trab. Die Häuser und Höfe zogen rasch vorbei und nach kurzer Zeit hatten wir die Ortschaft hinter uns gelassen. Bald erhöhten die beiden ihr Tempo auf Galopp, auf Shays Geheiß hin, doch trotzdem holten die dunklen Kapuzenreiter hinter uns auf.

„Was wolltest du mir eigentlich vorhin erklären?", erkundigte ich mich vorsichtig.

„Nur den Grund, warum man mit mir so oft fliehen muss."

„Nun ja, wegen mir hattest du ja auch schon einige Unannehmlichkeiten." Schmunzelnd erinnerte ich mich zurück an meinen Gefängnisausbruch.

„Du weißt ja", fing er an und überging somit meinen Kommentar, „dass mein Vater als Kaufmann auch Assassinen belieferte. Das war nur zum Teil wahr. Denn er war auch Teil der Bruderschaft dort im Ort. Er war quasi Kopf des Assassinenschwarzmarktes und verantwortlich für die Handelsrouten und Knotenpunkte in Mittelerde. Irgendwann aber verlor er das Vertrauen in die Gemeinschaft und stellte eigene Nachforschungen an. Diese geheimen Routen und Stützpunkte hat er auf einer Karte verzeichnet und mir diese vermacht, bevor er zu einer Observierung aufbrach. Damals war er schon erkrankt und laut der Besatzung ist er an Deck zusammengebrochen und war tot." Er schluckte schwer, doch er sprach weiter. „Sicher kannst du dir vorstellen, dass er damit zum Lieblingsfeind der Bruderschaft wurde. Die hat aber lange nichts von seinen Nachforschungen gewusst, doch als der Plan aufflog, wollte sie unbedingt seine Aufzeichnungen. Dafür töteten sie die Freundin meiner Mutter, als sie zu Besuch war und sie unser Haus durchsuchten. Meine Mutter war in der Zeit gerade auf Toilette und versteckte sich dort, als sie die Stimmen hörte. Meine Schwester war mit mir unterwegs. Sicherheitshalber hatte mein Vater seine Aufzeichnungen schon an einen sicheren Ort gebracht. Nun streben die Assassinen an, die Karte, von der ich anfangs sprach, in ihren Besitz zu bringen. Deshalb habe ich mich von den Assassinen abgewandt."

Schweigen trat zwischen uns, als er geendet hatte, nur die kalte Zugluft zischte um unsere Ohren und gedämpftes Hufgeklapper tönte über die Wiesen ringsum.

„Und derer bist du habhaft, nehme ich an?", erkundigte ich mich.

Ein Nicken war die Antwort. „Doch nun sollten wir eher über einen Fluchtweg oder ein Ablenkungsmanöver nachdenken", stellte Shay trocken fest.

Mir flog das Gesagte noch so im Kopf herum, dass ich seine Aussage nicht hörte. „Wie bitte?"

„Fluchtweg oder Ablenkungsmanöver, bitte!" Verbissen schlug er die langen Lederriemen auf die Rücken unserer Zugtiere. Wieder brauchte ich eine Weile, um seine Worte zu verstehen.

„Oh... ähm... da vorne kommt ein Waldstück."

„Ja, und weiter?"

„Da kannst du die Kutsche hinein lenken, sofern du keine brillantere Idee hast."

„Erstens glaube ich kaum, dass wir auf Waldboden schneller vorankommen und zweitens würden sie es sehen."

„Nein, da hinten kommt eine Kurve." Ich deutete auf den Weg vor uns. „Außerdem meinte ich nicht, dass du die Flucht im Wald fortsetzen, sondern dort nur verharren sollst. Bis sie an uns vorbeigeritten sind."

Nun schien auch er zu verstehen. „Aber wir müssen es erst einmal bis zu der Kurve schaffen."

„Kein Problem, denke ich." Ich holte tief Luft, wie kurz vor einem Sprint. Plötzlich fiel mir etwas ein. „Woher wussten sie eigentlich, wo du bist?"

Shay warf mir einen kurzen, unsicheren Blick zu. „Die Bruderschaft hat Späher oder besser gesagt ihre Mitglieder im ganzen Land verstreut. Tausend offene Augen und Ohren findet man in den Dörfern. Ihnen entgeht fast nichts. Man muss gut sein, um ihnen nicht ins Netz zu gehen."

Verstehend nickte ich. Nun befand sich die Kurve unmittelbar vor uns und Shay spornte die Pferde an. Als wir die Biegung passiert hatten, blickten wir in den Wald zu unserer Linken und suchten nach einem passenden Versteck. Doch entweder war die Erde zu matschig, der Entwässerungsgraben neben dem Weg zu tief oder wir würden mit der Kutsche eine deutliche Spur im Unterholz hinterlassen. Panisch überlegten wir nun, was wir tun sollten. Viel länger konnten wir nicht warten, gleich würden die Assassinen um die Kurve galoppiert kommen. Kurzerhand lenkte Shay das Gefährt in einen schmalen Weg hinein, kaum mehr als Reifenspuren, die sich in die feuchte Erde gedrückt hatten. Wir drängten uns mit der Kutsche an den Wegesrand und hielten das Gespann an. Dort verharrten wir einige nervenaufreibende Sekunden, in denen wir gespannt zurückblickten und hofften, dass sie darauf reinfallen würden. Schon bald hörten wir Hufschläge von galoppierenden Pferden, die schnell näher kamen und glücklicherweise an uns vorbeipreschten. Erleichtert atmeten wir auf und trieben die Nocturîan und die kleine Braune wieder an. Dann folgten wir dem Weg weiter in den Wald. Irgendwann zweigte ein weiterer Weg ab, nach rechts, Richtung Anduin. Diesem folgten wir, da der Anduin ja der war, den wir zu überqueren suchten.

Inzwischen hatten sich Wolken vor die Sonne geschoben und hingen tief über den fernen Gebirgen. Regen kündigte sich an, wahrscheinlich aber nicht bei uns.

Der Wald, der erst noch trocken und zahm gewirkt hatte, wandelte sich langsam in ein urwald-ähnliches Dickicht. Die Bäume standen hier dichter, ihre Stämme waren vermoost und ihre Kronen schienen verflochten. Der Boden war weicher und feuchter als zuvor.

„Meinst du, wir sollen diesem Weg weiter folgen? Es sieht nicht so aus, als würde er uns in irgendeine Zivilisation führen." Shay blickte mich fragend an, zog aber noch nicht an den Zügeln.

„Die Reifenspuren", fing ich an und deutete auf selbige vor uns, „wirken nicht frisch, trotzdem haben sie sich deutlich in den Untergrund gedrückt, was heißt...?" Mit hochgezogenen Augenbrauen erwiderte ich seinen Augenmerk und wartete auf eine Antwort, doch er schien nur verwirrter als vorher. Seufzend wandte ich mich nach einer Weile wieder nach vorne und meinte: „Als Waldläufer wüsstest du das."

Zweifelnd und herausfordernd zugleich schaute er mich an.

„Das heißt, hier fährt regelmäßig jemand lang. Was wiederum bedeutet, dass uns dieser Weg irgendwo hinführt."

„Ich ziehe es vor, dieses ‚irgendwo' zu präzisieren", brummte Shay leise vor sich hin, vermutlich war es nicht für meine Ohren bestimmt, und sagte gleich darauf, diesmal lauter: „Und weil wir nicht wissen, wohin, kehren wir um." Shay zerrte an den Zügeln in dem Versuch, das Gespann umzulenken.

„Nein!", rief ich und hielt ihn davon ab. Dann fuhr ich fort, in einer leiseren Tonlage: „Wir haben Verfolger, schon vergessen?"

Er winkte ab. „Die sind längst über alle Berge."

„Sie werden zurückkommen, wenn sie merken, dass wir sie reingelegt haben."

Der Mann neben mir verdrehte die Augen, sagte aber nichts mehr.

„Wir werden bis zum nächsten Dorf fahren", legte ich entschieden fest. Dann blickte ich ihn herausfordernd an. „Lese ich das richtig als dein Einverständnis?"

„Naja", brummelte er missmutig und trieb die Pferde wieder an.


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