Kapitel 21
Mit einem unwohlen Gefühl im Magen saß ich vor meiner Tasse Kaffee, die mein Vater mir vorgesetzt hatte, doch ich bekam keinen Schluck herunter. Ein weiteres Mädchen war tot. Mein Vater nahm gegenüber von mir Platz und nahm einen großen Schluck aus der dampfenden Tasse. „Wer?" Alexander, dem mein Vater ebenfalls einen Kaffee gereicht hatte, war der Erste, der seine Sprache wiederfand. Wollte ich es wirklich wissen? Angst durchflutete meinen Körper und ich verkrampfte meine Finger, damit ich nicht zu offensichtlich zitterte. „Malia." Ihr Name halte immer wieder in meinem Kopf wieder und mir wurde schlecht. Ich kannte Malia besser als es mir lieb war. Sie war mit Belle befreundet gewesen und damit irgendwie auch mit mir. Jedoch war sie ein Schuljahr über uns gewesen, hatte ihren Abschluss also letztes Jahr absolviert und war an einem College in Colorado, dessen Namen mir entfallen war, eingeschrieben.
Ohne ein weiteres Wort sprang ich auf. Nur am Rande bemerkte ich, wie ich die Tasse umstieß und sich der brühend heiße Inhalt auf meiner Jeans verteilte. Mein Mageninhalt kam mir hoch, doch ich schaffte es nicht mehr ins Badezimmer und übergab mich im Flur. Meine Kehle brannte, während Tränen meine Wangen herunterliefen. Zitternd ließ ich mich die Wand hinuntergleiten und bemühte mich, nicht wieder in meinen Gedanken zu ertrinken. Für einen Moment schob ich sie mit aller Kraft beiseite, konzentrierte mich lediglich auf meine Atmung. Der säuerliche Geruch von Erbrochenen hing in der Luft. Malia war tot, umgebracht, aus dem Leben gerissen. Ein weiteres Mädchen in meinem Alter aus meiner Schule – langsam, aber sicher bekam ich Todesangst.
„Hey, Süße." Mein Vater tauchte in meinem leicht verschwommenen Blickfeld auf. Seine grünen Augen musterten mich besorgt. Als gäbe es nicht schon genug, um dass er sich Sorgen machen müsste... „Alles gut?" Benommen nickte ich, obwohl es eine Lüge war. Um genau zu sein, war ich mir nicht sicher, ob jemals wieder alles gut werden würde. „Ich muss in einer Stunde los nach Chicago und ich möchte, dass du mitkommst. Aber vorher muss ich dir noch etwas erzählen. Aber zuerst beseitige ich das Chaos und du beruhigst dich ein wenig. Okay?" Ein erneutes Nicken meinerseits. Einen Moment später ging er in die Küche und kam mit irgendeinem Putzzeug wieder, um meinen Mageninhalt vom Boden zu wischen. Ich drehte meinen Kopf weg, schloss meine Augen. Ein offensichtlicher Fehler. Statt der Schwärze empfing mich eine Erinnerung daran, wie wir im letzten Jahr nach Chicago gefahren waren, um für sie ein Abschlusskleid zu kaufen. Belle hatte ihr Traumkleid gefunden und es ebenfalls gekauft, obwohl ihr Abschluss damals noch über ein Jahr entfernt war. Sie würde es niemals tragen. Malia war ein netter Mensch gewesen, wir verstanden uns gut, besser zumindest, als ich mich mit den meisten anderen Freunden von Belle verstand. Nun war sie endgültig weg. Dennoch fühlte ich keinen Schmerz. Wahrscheinlich, weil der Schmerz nach Belles Tod zu groß war. Oder vielleicht, weil ich egoistischer Weise voller Angst war, die nächste zu sein.
Um mich nicht wieder von den Erinnerungen paralysiert zu werden, schob ich alle Gedanken an Malia und auch an Belle von mir weg. In den letzten Wochen hatte ich gelernt, wie das zumindest vorläufig funktionierte... Immer noch leicht zittrig auf den Beinen, drückte ich mich an der Wand hoch. Bevor ich irgendwas anderes tat, musste ich erst einmal den ekligen Geschmack in meinem Mund loswerden.
„Natalia, geht es dir gut?" Alexander war in den Flur getreten und augenblicklich war mir die Situation unangenehm. Mein Vater war noch immer damit beschäftigt, das Erbrochene zu beseitigen, und ich sah wahrscheinlich aus wie ein Wrack – zumindest fühlte ich mich so. Konnte das zwischen uns noch unangenehmer werden? „Ja. Wir sehen uns Morgen in der Schule. In Ordnung?" Sein Blick war zweifelnd, allerdings schien er genug Anstand zu haben, um nicht nachzufragen. „Wir sehen uns Morgen. Und Natalia?" – „Ja?" Zum ersten Mal heute Morgen erschien sein typisches Grinsen, das ein Kribbeln in mir auslöste, auf seinem kantigen Gesicht. „Du hast Kotze in den Haaren." Unangenehmer ging offensichtlich immer.
⚖
Keine halbe Stunde später saß ich erneut an dem Küchentisch. Mein Vater, der mittlerweile seine Polizeiuniform trug, sah mich nachdenklich und schweigend an. Vielleicht überlegte er gerade, wie viel er mir erzählen konnte. Wie viel ich ertragen konnte. „Erzähl mir alles", bat ich ihn gefasst, als ich die Stille nicht mehr ertrug. „Talia, ich kann dir nicht alles erzählen. Das ist eine laufende Polizeiermittlung." Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust und hielt seinem durchdringenden Blick tapfer stand. „Ich kann auch einfach wieder in das Revier einbrechen und mir die Informationen aus der Akte holen." Nicht nur aus Neugier musste ich alle Details wissen. Es war einfach meine Art geworden, damit umzugehen. Ich verlor mich lieber in den Details als in den Schmerzen und redete mir ein, den Täter finden zu können, nur um mich nicht mit der Situation auseinandersetzen zu müssen. Ich war völlig am Ende, meine Gefühle reines Chaos, aber solange ich die Details hatte und ein Ziel, auf das ich mich konzentrieren konnte, ließen meine Gefühle mich überwiegend in Ruhe.
„Nein! Keine Einbrüche mehr. Wenn du mir das versprichst, erzähl ich dir alles." Triumphierend gab ich mein Versprechen, ohne die Absicht, mich wirklich daran zu halten. Sobald ich neue Anhaltspunkte hatte, würde ich nicht zögern, wieder bei irgendjemanden einzubrechen. Ich war ein wenig überrascht, wie leicht mir das Lügen seit einiger Zeit fiel, insbesondere gegenüber dem General. „Malia war zu Besuch bei ihren Eltern. Der Mörder hat sie in der vergangenen Nacht aus ihrem Elternhaus entführt, obwohl sie Zuhause waren. Doch offenbar haben sie nichts bemerkt." Eine Gänsehaut zog sich über meinen Körper. Erst das Totenkreuz, nun das Entführen aus einem Haus. Der offensichtliche Mut des Täters, machte mir immer mehr Angst. Was konnte ihn jetzt noch aufhalten?
„Gestern Nacht war das erst? Wie habt ihr sie so schnell gefunden?" Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war gerade einmal halb Elf. Sie konnte noch nicht lange tot sein und musste ziemlich schnell entdeckt worden sein, insbesondere da mein Vater sich offenbar schon mit ihren Eltern unterhalten konnte. „Der Täter hat uns direkt zu ihr geführt." Mein Vater zögerte kurz und ich spürte, wie Neugier in mir aufstieg, was natürlich völlig unangebracht war. Das hier war kein Spiel, bei dem ich gewinnen musste, kein Rätsel, das ich lösen musste. Es ging um echte Menschen. „Er hat sie in einem Waldstück nahe am See vergraben. Nicht unweit davon haben wir", er brach ab. Ich wusste, wen sie dort gefunden hatten, ohne dass er es aussprach. Belle. „Auf jeden Fall hat er ein Kreuz nahe des erstens Tatorts aufgestellt. Der wird regelmäßig von einer Streife konzentriert, weil einige Täter gerne zu den Orten zurückkehren. Statt ihn zu finden, haben die Kollegen stattdessen das Kreuz gefunden und konnten schwören, dass es eine Stunde zuvor noch nicht da war. Keine drei Meter weiter haben sie ein weiteres Kreuz entdeckt. Es war wie eine Spur aus Brotkrummen, verstehst du? Malia... Sie war noch nicht lange tot. Wahrscheinlich erst wenige Minuten, aber schon zu lange, um noch etwas tun zu können."
Nur langsam verarbeitete ich alles, was mein Vater sagte. Seine Worte schnürten mir die Kehle zu und ich war kurz davor, erneut in Panik zu verfallen. Doch bevor es mich überwältigte, fuhr mein Vater fort. Mit aller Kraft konzentrierte ich mich auf seine Worte, die mir seltsamerweise halfen, an der Realität festzuhalten „Der erste Fundort wird stündlich kontrolliert. Er muss das gewusst haben. Er hat es geschafft, sie in einer Stunde unbemerkt in den Wald zu bekommen, sie in diese Kiste zu stecken und zu vergraben. Dann ist er einfach so wieder gegangen. Wir haben es mit einem Profi zutun und er beobachtet uns. Er beobachtet uns alle."
Er beobachtet uns alle.
Mir stockte der Atem und auch mein Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen.
„Wir brechen gleich nach Chicago auf. Ich habe unseren Besuch in der Akademie angekündigt. Du wirst lernen, mit der Waffe umzugehen, die ich dir gegeben hat. Du musst dich selbst verteidigen können. Ich weiß nicht, wann wir ihn bekommen. Wir haben nichts, Natalia. Gar nichts. Ich kann niemanden beschützen. Nicht die Mädchen, nicht mal meine eigene Tochter. Du musst dich selbst schützen."
Er beobachtet uns alle.
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