Kapitel 19
Schon im Garten des Coleman-Hauses begrüßte uns laute, fröhliche Popmusik und der ekelerregende Geruch nach Bier hing in der Luft. „Wo sollen wir überhaupt anfangen?", flüsterte ich Alexander zu, während wir auf die offenstehende Haustür zu liefen. Ich traute mich nicht, lauter zu reden. Dafür hatte ich viel zu viel Angst, jemand könnte uns belauschen und Mason unser Vorhaben mitteilen. „Keine Ahnung. Uns fällt schon etwas ein, sobald wir erst einmal im Haus sind." Seine Stimme klang so optimistisch, wie ich mich in diesem Moment fühlte. Nämlich gar nicht.
„Hey Alex!" Ein junger Mann trat uns kurz vor der Haustür in den Weg. Seine lallende Stimme und der rote Becher in seiner Hand verrieten mir, dass er offenbar schon um diese Uhrzeit Alkohol trank. Ich musterte ihn kurz: er war bestimmt noch einen Kopf größer als Alexander, hatte kurz geschorene Haare und grüne Augen. Schätzungsweise musste er ein paar wenige Jahre älter sein als wir. „Lange nicht mehr gesehen." Überschwänglich begrüßte er Alexander, der ihm grinsend auf den Rücken klopfte, ehe sein Blick zu mir glitt. „Und du bist?", fragte er neugierig. Gerade als ich antworten wollte, streckte er die Hand aus und griff in meine Haare. Ich war so überrascht, dass ich gar nicht zurückweichen konnte. „Schöne Locken", murmelte er, als ich endlich einen Schritt nach hinten trat und somit erst einmal außer Reichweite war.
„Das ist eine Freundin von mir. Natalia, das ist Jesse, der seine Manieren offenbar im College vergessen." Er warf seinem Freund kurz einen tadelnden Blick zu, der ihn weiterhin nur angrinste und seinen Rücken durchdrückte. „Ja, weißt du, Natalia. Ich studiere Jura an der Northwestern University. Unglaublich cool, oder?" Jesse zwinkerte mir zu und für einen kurzen Moment war ich wirklich beeindruckt, bis ich realisierte, dass er genau das wollte. Mich beeindrucken. Röte schoss in mein Gesicht, bevor ich es verhindern konnte, und ich bemühte mich, mein Gesicht hinter meinen Locken zu verbergen. „Da will Talia auch studieren, nicht wahr? Sogar auch Jura." Alexander klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und ich wünschte mir, im Boden zu versinken. „Cool! Vielleicht sieht man sich ja mal auf dem Campus. Ich würde mich sehr freuen." Da ich noch immer auf den Boden sah, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Dennoch war ich mir ziemlich sicher, dass er erneut zwinkerte. „Oh hey, Brian!" Überschwänglich stolperte Jesse auf den nächsten Ankömmling zu und ohne ein weiteres Wort betraten wir schnell das Haus von Mason.
Im Haus nahm ich den Geruch nach Bier noch deutlicher wahr. Wir drängten uns durch den Flur, in dem Leute aus meiner Schule sich unterhielten, tranken oder knutschten. Da keiner von ihnen Rücksicht auf andere nahm, dauerte es gefühlt eine Ewigkeit, bis wir in einem größeren Raum angekommen waren. Ich ließ meinen Blick durch den Raum gleiten, bemühte mich, jedes Detail in mir aufzunehmen. Die hohen Wände, die in einem grässlichen Orange gestrichen waren, den riesigen Fernseher an der gegenüberliegenden Wand und das cremefarbene Sofa, auf dem schätzungsweise mindestens zehn Leute Platz fanden. „Tut mir leid. Also mit Jesse. Er ist sehr aufdringlich. Nimm dich bloß vor ihm in Acht, er ist ein richtiger Aufreißer", raunte Alexander mir ins Ohr, während wir uns den Weg in eine ruhigere Ecke bahnten, um dort unser Vorgehen zu besprechend. Als einzige Reaktion nickte ich bloß. Schon vor seiner Warnung, war mir das irgendwie klar gewesen. Jesse hatte diese gewisse Ausstrahlung.
„Leute, das müsst ihr euch ansehen!" Sofort blieb ich wie angewurzelt stehen und richtete mein Blick auf Mason, der mit einer Fernbedingung in der einen und einem Bier in der anderen Hand das Wohnzimmer betrat. Er schaltete die Musik, die bisher über den Fernseher gesteuert wurde, aus. Für einen Augenblick war es totenstill, bis der örtliche Lokalsender auf dem Fernseher erschien. „Sehr geehrte Damen und Herren", schallte aus allen Boxen die Stimme des Bürgermeisters, der an einem Podest stand. Hinter ihm standen mehrere Männer in Anzügen sowie mein Vater in seiner Polizeiuniform. „Wie ihnen bekannt ist, sind drei Mädchen umgebracht wurden. Uns wurde die Hilfe von der Polizei in Chicago zugesagt. Einige Polizisten sind bereits hier in Evanston angekommen und werden diese Stadt wieder ein bisschen sicherer machen." Er machte eine kurze Pause und ich spürte, wie Übelkeit in mir aufstieg. „Dennoch haben wir uns dazu entschieden, eine Ausgangssperre für die Bürger von Evanston zu verhängen. Diese tritt sofort in Kraft. Bitte halten Sie sich ab 22 Uhr nur noch in Ihren Häusern auf, soweit dies beruflich möglich ist. Ein unbegründeter Verstoß wird geahndet." Damit schaltete Mason den Fernseher wieder aus und sprang mit einer geschmeidigen Bewegung auf den Wohnzimmertisch, der offenbar stabiler war, als er aussah. „Sie wollen uns einsperren. Aber nicht mit uns. Scheiß auf die Aufgangssperre!" Mit einem Zug leerte er seinen Becher und schaltete die Musik wieder ein, lauter als vorher, während ihm vereinzelt ähnliche Rufe entgegenschlugen.
Langsam verarbeitete mein Kopf, was der Bürgermeister gerade getan hatte. Da sie offenbar noch immer weit entfernt davon waren, den Serienmörder zu finden, sollten wir stattdessen nicht mehr rausgehen ab 22 Uhr. Er hatte noch mehr Angst gestreut, als eh schon da war, denn er hatte zugegeben, wie gefährlich die Situation wirklich für uns alle war. „Glaubst du wirklich, dass ein Idiot wie Mason jemanden umbringen könnte?" Endlich wandte ich meinen Blick von dem Fernseher ab und sah zu Alexander, der mir gegenüberstand. „Weiß ich nicht. Aber wir müssen es herausfinden. Teilen wir uns auf." Den letzten Satz flüsterte ich nur noch, damit es niemand um uns herum mitbekam. Doch uns nahm niemand wahr, die Party war sogar noch ausgelassener als vor der Pressekonferenz. Es kam mir geschmacklos vor und kaltherzig, eine Party zu feiern, wo doch drei Mädchen aus unserem Jahrgang ermordet worden waren. Verunsichert warf ich einen kurzen Blick auf meine Uhr. 21:03 Uhr. Wir hatten nicht einmal mehr eine Stunde Zeit, um das Haus zu durchsuchen und wieder nachhause zu fahren. Ich wollte nicht gegen noch mehr Gesetze verstoßen, als sowieso schon. Allerdings blieb mir da heute wohl keine andere Wahl.
„Spinnst du? Jeder schlechte Film fängt mit ‚wir teilen uns auf' an. Das machen wir ganz bestimmt nicht." Insgeheim gab ich Alexander Recht, sprach es jedoch nicht aus. Dies war auch gar nicht nötig, da er nach einer kleinen Pause fortfuhr. „Ich würde vorschlagen, dass wir im Obergeschoss in Masons Zimmer anfangen. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber als wir Kinder waren, war ich mit ihm befreundet. Wenn das Zimmer also noch an der gleichen Stelle ist, wie vor zehn Jahren, finde ich es." Ohne auf eine Antwort zu warten, bahnte Alexander sich wieder seinen Weg durch die Menge, zurück in den Flur. Das konnte doch nur schief gehen. Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, folgte ich ihm.
⚖
Masons Zimmer sah anders aus, als ich es mir vorgestellt hätte. Die hellblauen Wände waren tapeziert mit Postern von Footballspielern der Chicago Bears und von Rappern, die ich allesamt nicht kannte. Abgesehen davon gab es noch ein Bett, einen Schrank und einen Schreibtisch. „Ich kann nicht glauben, dass wir es bis hierhin geschafft haben", flüsterte Alexander mir zu, nachdem er die Tür leise hinter sich geschlossen hatte. Ja, ich auch nicht. Uns hatte tatsächlich niemand beachtetet, alle waren zu beschäftigt mit sich selbst. Auch der allgemeine Alkoholpegel war ein Verbündeter von uns.
„Und was jetzt?", fragte ich und sah mich nochmals in seinem Zimmer um. Mir war klar, dass auf dem braunen Holzschreibtisch keine blutverschmierte Waffe lag und auch keine große Holzkiste, in der man Leute vergraben konnte, einfach vor dem Schrank stand. Wenn wir überhaupt etwas finden wollten, mussten wir uns nicht nur oberflächlich umsehen. „Du übernimmst den Schreibtisch und ich den Kleiderschrank." Ich nickte ihm kurz zu und schlich auf den Schreibtisch zu, auf dem lediglich ein Schulbuch lag. Vorsichtig öffnete ich die erste Schublade an der Seite, von denen der Schreibtisch drei hatte. Sie war komplett leer. In der zweiten Schublade fand ich nur ein paar Stifte und Papier. Gerade als ich mich an die dritte Schublade machen wollte, hörte ich Schritte im Flur.
Mein Herz sank mir in die Hose und ich sah zu Alexander, dem es ähnlich erging. Er legte seinen Finger auf die Lippen, ehe er mich zu sich winkte. Doch ich wagte es nicht, mich zu bewegen. „Es wird dir gefallen, Süße", hörte ich Masons laute Stimme, die mit jedem Herzschlag lauter wurde. Er wollte doch nicht etwa... Panisch sah ich mich nach einer Möglichkeit zum Verstecken um, wurde bei dem kahlen Zimmer jedoch nicht fündig. Wie in Zeitlupe sah ich, wie jemand die Türklinge auf der anderen Seite herunterdrückte. Adrenalin durchflutete meinen Körper, mein Herz schien fest davon überzeugt, aus meiner Brust springen zu können. Es war zu spät, jeden Moment würde Mason uns entdecken... Die Tür ging auf und bevor ich verstand, was überhaupt passierte, war Alexander zu mir getreten und drückte seine weichen Lippen auf meine.
Erschrocken wollte ich zurückweichen und das Kribbeln ignorieren, doch Alexander hielt mich mit seiner Hand auf meinem Rücken davon ab. Mein Herz fing an zu rasen und ich spürte, wie eine unglaubliche Hitze in mir aufstieg. Dennoch wünschte ich mir, der Kuss würde endlich aufhören. Es kam mir falsch vor, obwohl es sich so gut anfühlte.
Erst als jemand anerkennend pfiff, löste er sich von mir. Gemeinsam sahen wir zur Tür, in der Mason stand und langsam klatschte. „Respekt, Natalia. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut." Er musterte mich mit seinen eisblauen Augen, ein breites Grinsen im Gesicht. „Aber jetzt verschwindet hier, ich brauch das Zimmer selbst." Mason deutete auf das Mädchen hinter sich, das kicherte. Alexander nahm meine Hand und zog mich aus dem Zimmer, wobei er Mason noch einmal ein Grinsen zuwarf. Ich ließ mich einfach von ihm mitziehen, nicht im Stande, mich selbstständig zu bewegen oder etwas zu sagen. Das war offenbar gerade noch einmal gut gegangen. Doch zu welchem Preis?
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