Teil 31_ Sumpf oder Finsternis

JOHN

Der Himmel hinter ihnen färbte sich langsam rosa, während sie noch auf das Dunkelblau zufuhren. Sasha saß vor ihm auf dem Beifahrersitz. Die ganze Nacht lang hatten sie sich unterhalten. John hatte ein wenig Bewunderung für Sasha über. Mit ihren 16 Jahren hatte sie viel durchgemacht. Als sie von Riversite erzählt hatte, war Nick hellhörig geworden. Er erzählte von seiner Gefangenschaft in Riversite und sie fanden heraus, dass Sasha ihn damals befreit hatte. Sie hatten alle ihre eigenen Geschichten, die sie früher oder später - John warf einen Blick auf Nick - verbinden würden. Oder auch nicht.

John sah auf, als er das Motorgeräusch eines Motorrads hörte, das schnell lauter wurde. Marlo kam ihnen entgegen gefahren, wendete hinter ihnen und holte wieder auf.
"Autobahnbrücke voraus. Keine Skrim. Keine Menschen."
"Alles klar. Bleib ab jetzt bei uns."
Nichts stand ihnen mehr im Weg. Portland war nur noch zwölf Fahrstunden entfernt. Und dort würden sie ein neues Leben aufbauen. Dort würden sie nicht mehr fürchten müssen zu verhungern oder im Winter zu erfrieren.
"Wir sind bald da." Sprach Nick seinen Gedanken aus. Woran er wohl nun selber dachte? An seine Familie, die er beinahe aufgegeben hatte? John wurde schlecht bei dem Gedanken. Schlecht vor Hass. Schlecht vor Wut. Wie konnte man nur so selbstbezogen und egoistisch sein.

Plötzlich ruckelte das Auto und der Motor ging aus. Die Motorhaupe zischte und dampfte.
"Verdammt", schimpfte Nick, während er ausstieg und zur Vorderseite des Jeeps stapfte. John weckte Louisa und stieg ebenfalls aus.

"Was ist passiert?" Marlo hielt bei ihnen an und stieg von ihrem Motorrad ab.

"Lass mich mal sehen." John öffnete die Motorhaube. Er hatte schon einige Male an den Fahrzeugen in der Kaserne herumgebastelt. Es kostete ihn lediglich einen Blick. "Der Motor ist hin. Wir müssen weiter laufen."
"Woher willst du das wissen?" Nick warf ihm einen misbilligenden Blick zu. John erwiderte den Blick.
"Ich weiß es halt. Du kannst ja gerne hier bleiben", fauchte John sofort zurück und wandte sich von der Motorhaube ab. "Wir sollten uns umschauen, ob irgendein Fahrzeug noch Fahrbereit ist. Sonst müssen wir wirklich zu Fuß weiter. Je länger wir hier herumstehen, desto später kommen wir an."

"Wer hat dich bitte zum Anführer erwählt?" Nicks Murmeln war so leise, dass John es beinahe überhört hätte. Wieso provoziert er denn ständig? John hätte sich zu gerne zurückgehalten, ging jedoch auf Nicks Provokation ein.

"Wenigstens kann ich die Gruppe anführen, während du es nicht mal geschafft hast deine Familie in Sicherheit zu bringen." Dafür fing sich John einen Schlag ins Gesicht ein. Seine Augenbraue pulsierte schmerzhaft als er sich wieder aufrichtete und sich wutentbrannt auf Nick stürzte. Er riss ihn zu Boden und wollte gerade zuschlagen, doch Marlo und Sasha zerrten ihn von Nick herunter.
"Wag es noch ein Mal so etwas in den Mund zu nehmen und ich schwöre dir, ich prügel dir jede..."
"Das reicht jetzt!" Louisa unterbrach Nick harsch. "Es reicht! Was ist nur in euch gefahren?"
John riss sich los und funkelte Nick an. Blut lief aus der Platzwunde über seinem Auge und das Gesicht hinunter. Er war kurz davor sich erneut auf Nick zu stürzen. Er bräuchte nur eine falsche Bewegung machen, dann wäre er ein toter Mann. John wischte sich mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht.

"Ihr spinnt doch total." Sasha seufzte genervt. "Unsere Feinde sind dort draußen und ihr bekriegt euch wegen ein wenig Eifersucht."
"Wer ist eifersüchtig?" Louisa drehte sich zu Sasha um und funkelte John kurz wütend an. Ihr Blick verunsicherte ihn und sein Magen zog sich unangenehm zusammen.
"Niemand", fauchte Nick. "Lasst uns gehen."

John sammelte seine Sachen aus dem Jeep ein und folgte Louisa, die die Führung der Gruppe übernommen hatte. Sasha ging neben Louisa. Marlo und Nick einige Meter hinter ihm. Seine Augenbraue war heiß und brannte.
Wer war denn nun eifersüchtig? Er dachte über Louisas Frage nach. Ihr war das ganze gar nicht so bewusst. Nick war eifersüchtig, dass Louisa sich in John verliebt hatte. John musste sich jedoch eingestehen, dass er selber auch eifersüchtig war. Er konnte es nicht ertragen, was für eine Freundschaft Nick und Louisa verband. Vor allem, da er wusste, dass Nick insgeheim noch nach seiner Familie suchte. Es war so unnötig und doch so präsent. In Gedanken versunken schüttelte er den Kopf. Wusste Louisa eigentlich davon, dass Nick nur wegen der letzten Hoffnung seine Frau und seinen Sohn zu finden nach Portland wollte? Und würde er sie dort nicht finden, würde Nick einfach aufgeben und sich dort mit Louisa ein schönes neues Leben aufbauen wollen und seine Familie vergessen. Nick dachte nur an sich selber, hielt sich Louisa warm, als zweite Wahl. Wusste Louisa, dass sie zwischen den Stühlen stand?

John musterte sie. Ihre roten wilden Locken, die wie ein feuriger Wasserfall auf ihrem Rücken lagen. Seine Priorität war es, dass Louisa in Sicherheit war.

"Portland ist nicht nur eine Gruppe Überlebender, sondern eine Gruppe Rebellen." John hörte dem Gespräch von Louisa und Sasha zu. "Manche befürchten eine Revolution."
"Gegen wen?", fragte Louisa.
"Gegen alle." John war es, der auf ihre Frage antwortete und zu ihnen aufschloss. "Portland bekämpft alle. Vor einigen Monaten haben sie eines der größten Waffenlager des Militärs in Seattle angegriffen. Sie sollen auch schon versucht haben in die großen Städte reinzukommen."
"Da kommt niemand rein", kommentierte Sasha. Louisa und John wechselten einen kurzen Blick.
"Wissen wir."

"Ich finde es traurig." Louisa sah auf den Boden vor sich. "Die Menschen sind gefährlicher als die Skrim. Gefährlicher, grausamer, böser. Dabei sollten wir alle zusammenhalten und uns unsere Städte zurückholen."
"Ich glaube nicht, dass das passieren wird", meinte Sasha und band ihre kurzen braunen Haare in einen zotteligen Zopf. "Menschen sind anpassungsfähig und faul. Wir werden uns lieber an die Umstände anpassen, als zu kämpfen."
"Nicht ganz." John machte eine kurze Pause. "Wir bekriegen uns lieber selber, anstatt das Problem zu bekämpfen. Es wird nie wieder so sein wie vorher. Selbst wenn Portland es schafft, den Frieden wieder herzustellen.
"Und was wenn doch?" Die Frage kam von Louisa und Johns Herz machte einen Sprung. Genau aus diesem Grund liebte er sie. Ihre Augen funkelten begeistert. „Wenn Balter und die großen Städte zerstört sind, könnten sich die Menschen wieder zusammenschließen. Ich meine die Kojoten und die anderen Gruppen. Selbst das Militär kann seinen Beitrag leisten."

"Wenn die großen Städte zerstört sind und Balter gefallen ist, wird es einen Machtkampf geben, den du dir nicht vorstellen kannst", gab Sasha zu bedenken und seufzte. "Wir sollten einfach unser Leben leben und das Beste daraus machen. Und die nach uns werden das Beste aus ihrem Leben machen. Am Ende sind wir alle Geschichten. Wir sollten zusehen, dass wir eine gute Geschichte schreiben."

"Glaub mir, ich weiß was sich da für ein Machtkampf entwickeln wird." Louisas Anspielung auf ihre Mutter war für John unmissverständlich. Sasha nickte nur und zuckte mit den Schultern. Sie wusste also noch gar nicht, dass Louisa aus St Cloud kam.

Marlo und Nick hatten sie inzwischen überholt und blieben nun vor ihnen stehen. John sah in das große schwarze Loch, das sich vor ihnen aufmacht, als wolle es sie verschlucken. Ein breiter Tunnel, der sich ewig in die länge zu ziehen schien. John versuchte das andere Ende zu erkennen, sah jedoch nichts als Finsternis. Links und Rechts neben dem Tunnel hob die Erde sich zu einer Anhöhe.

"Das könnte ein Problem sein." Marlo war die Erste, die wieder etwas sagte. Auch John fand seine Stimme wieder.

"Komm wir gehen mal gucken, was hinter dem Hügel ist. Der Rest wartet hier. Ich denke wir brauchen zu lange, wenn wir zu fünft dort hoch klettern." Er warf Nick einen kurzen Blick zu und nickte Marlo dann zu. John kletterte voraus, zog sich Schritt für Schritt den Abhang hinauf. Ab und an gab einer der Äste oder Wurzeln nach, doch er fing sich wieder. Ein Blick zurück sagte ihm, dass der Rest der Gruppe sich an den Straßenrand gesetzt hatte. Die Sonne wunde schon wieder kühler und der Himmel zog mit leichten Wolkenschwaden zu.

Auf dem Hügel angekommen stieß ihn ein kühler Windstoß beinahe wieder um. Marlo erreichte nun auch gerade die Spitze des Hügels und ihr Blick flog über die Einöde, die sich ihnen bot. Die Sumpflandschaft vor ihnen war von einzelnen toten Bäumen unterbrochen. Ab und zu ragte ein Stück Autobahnbrücken aus dem Schlamm. Es hatte zwar die ganzen letzten Wochen über die Sonne geschienen, dennoch stand hier oben alles kilometerweit unter Wasser.
„Wie ist das möglich?" Entsetzen schwang in Marlos Stimme mit. „Meinst du wir kommen da durch?"
John antwortete nicht, ging nur einige Meter nach vorne, bis zum Rand des Sumpfgebiets. Vorsichtig tastete er sich voran, doch sein Fuß versank beim ersten Schritt bereits in der dunklen klebrigen Masse. „Nein", meinte er dann trocken. „Das kannst du vergessen."

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