Teil 25 _ Nicht schießen
JOHN
Er wurde von einem Schuss geweckt. Sofort sprang er auf, stolperte fast über seinen Schlafsack und sah aus dem kleinen Fenster des Jägerhäuschens. Doch es regte sich nichts.
Die Sonne ging gerade auf und lies die von Tau überzogene Wiese glitzern. Irgendwo am Horizont ragten Berge in die Höhe. Es würde ein wunderschöner Tag werden. John warf einen kurzen Blick auf Marlo, sah jedoch schnell wieder aus dem Fenster, als sie aufzuwachen schien.
"Heute Abend kommen wir beim Yellowstone Nationalpark an." Marlo gähnte und John drehte sich wieder zu ihr. "Es ist besser, wenn wir den Nationalpark umgehen."
"Wegen Foxmoore? Das würde bestimmt zwei Tage länger dauern." John fühlte sich unbehaglich so zu tun, als wäre letzte Nacht nichts passiert. Sein Gewissen plagte ihn, als er an Louisa dachte. Er liebte Louisa, daran hegte er keine Zweifel. Doch er wusste nicht, ob er sie jemals wiedersehen würde.
"Du siehst traurig aus", meinte Marlo und rollte ihren Schlafsack wieder ein. "Wenn du Lust hast..."
"Schon gut." John unterbrach sie. "Wir müssen weiter. Sonst kommen wir niemals an." Ihm war die ganze Situation unangenehm, weil er sich durch seine Trauer auf Marlo eingelassen hatte. Sie war hübsch und hatte einen außergewöhnlichen Charakter, dennoch war sie eine Fremde. John räusperte sich. Es war nur ein einziges Mal. Sie hatten niemandem geschadet.
Sie packten ihre Taschen auf die Pferde und stiegen auf. Bald schon änderte sich die Umgebung von einem saftigen Wald zu einer braunen, trockenen Einöde. Hier standen nur wenige Büsche und die Erde war sandig. Es sah aus, als hätte es hier vor einiger Zeit gebrannt.
"Wieso sollen wir den Yellowstone Nationalpark umgehen? Wenn Foxmoore ein neue Gruppierung ist, ist sie bestimmt noch klein. Was kann eine so kleine Gruppe schon anrichten?", fragte John erneut, als er bemerkte, dass Marlo ihm nicht geantwortet hatte.
Sie sah ihn einige Momente erschrocken an, dann lachte sie. "Foxmoore wächst schnell und ist aggressiver als Riversite, hinterhältiger als die Leezen und beinahe stärker als das Militär. Keiner weiß woher sie kommen und woher sie ihre Waffen nehmen. Balter ist ein aggressiver Kerl, okay? Mit dem ist nicht zu spaßen. Er scheint charmant, kann gut mit Worten umgehen. Doch sobald er auch nur leicht verärgert wird, rastet er komplett aus. Er schlägt Männern mit bloßen Händen die Köpfe ein und vergewaltigt Frauen und Mädchen."
"Balter?"
"Dieser Balter ist ihr Anführer." Marlo zuckte mit den Schultern und sah auf ihre Hände. "Hör zu, ich habe kein Ahnung. Ich weiß nur, dass er gefährlich ist."
"Und wieder lebt in den USA eine Gruppe mehr." John seufzte. Wenn sich weiter aggressive und territoriale Gesellschaften bildeten, würde es damit enden, dass sich der Rest der Menschheit selber abschlachtet. Die Skrim waren da das kleinere Übel.
Marlo starrte ihn irritiert an.
"Hast du dich mal umgesehen? Die USA existiert nicht mehr. Wir sind weder Staaten, noch sind wir vereinigt. Die USA ist Vergangenheit. Jetzt sind wir nur noch ein Haufen Überlebender mitten im Nirgendwo."
John antwortete nicht. Er wusste, dass Marlo Recht hatte. Die Regierung hatte die Menschen im Stich gelassen. Und doch könnte die Menschheit noch gerettet werden, wenn nur eine ehrliche und vernünftige Person an die Macht kommen würde.
"Es ist die Macht, die die Menschen krank macht. Die Gier wird uns am Ende alle töten", meinte Marlo, als hätte sie Johns Gedanken gelesen. "Die Gier und der Egoismus der Menschen ist viel Gefährlicher als das Virus oder die Skrim."
"Genau deshalb will ich nach Portland." John holte Marlo ein und ritt nun neben ihr. "Dort besteht noch Hoffnung. In Seattle wurde einer der größten militärischen Waffenlager angegriffen. Ich bin mir sicher, dass Portland das Militär und vielleicht auch die großen Städte irgendwann stürzen kann."
Marlo sah ihn lange an. Schmerz lag in ihren grünen Augen. "Ich verstehe dich nicht, John." Ihr Anblick stach John mitten ins Herz. "Ich verstehe einfach nicht, wo du diese ganze Hoffnung her hast. Wieso reiten wie nicht einfach nach Kanada, bauen uns dort eine kleine Hütte an einem See und leben dort in Frieden, bis wir alt und schrumpelig sind? Wir können jagen und in der Sonne liegen. Oben in den großen Wäldern gibt es keine Skrim. Wir verstehen uns doch gut. Ich habe von der ersten Minute an eine besondere Verbindung zu dir gespürt..." John gefiel der Gedanke. Doch irgendwas kämpfte dagegen an. Wie gerne würde er wieder sorgenlos leben, gut essen und die Sonne genießen. Er hätte gerne ein Hütte an einem kristallklaren See oder Fluss, würde abends frischen Lachs am Lagerfeuer braten und die Sterne bewundern.
"Ich habe Hoffnung, weil ich gelernt habe zu lieben und weil ich in Louisa gesehen habe, dass sogar das kleinste Fünkchen Mut entscheidend sein kann", antwortete John ihr und hielt Marlos Blick stand. Am liebsten wäre er weg galoppiert, weit weg, in irgendeine Richtung. Am liebsten würde er Marlos Traum erfüllen und irgendwo in Ruhe leben. Doch sein Herz wehrte sich so stark gegen diesen Gedanken, dass ihm beinahe schlecht wurde.
"Du kannst sie nicht alle retten, John. Du kannst nicht die ganze Welt retten." In Marlos Augen bildeten sich Tränen und sie sah zu Boden.
"Ich kann aber auch nicht tatenlos zusehen, wie Unschuldige unter der Macht von Egoisten leiden. Ich würde die Gewissensbisse nicht aushalten, wenn ich wüsste, dass ich es nicht einmal versucht habe", murmelte John und sah weg.
"Was ist an Louisa so besonders?" Johns Magen zog sich bei der Frage schmerzhaft zusammen und er musste sich zwingen die Worte auszusprechen, die er dachte.
"Louisa hat Hoffnung. Sie hat noch mehr Hoffnung als wir alle zusammen. Sie hat in einem Traum gelebt. Sie hatte ein wundervolles und unbeschwertes Leben. Sie ist durch die Hölle gegangen, wurde von ihrer eigenen Mutter verraten. Sie wurde in diese grausame neue Welt geworfen, ohne Vorwarnung auf das, was sie erwartet." Er machte eine Pause und schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. "Und trotzdem hat sie genug Hoffnung für uns alle. Sie hat Willenskraft und Charakterstärke. Dafür bewundere ich sie und ich glaube fest daran, dass sie uns alle retten kann."
Wieder starrte Marlo ihn lange an, schien ihn zu analysieren. Unbehagen machte sich in John breit. Würde sie ihn jetzt hassen? Auch dieser Gedanke schmerzte, denn er hatte Marlo für die kurze Zeit wirklich lieb gewonnen. Als Freundin. Nicht mehr. "Gut", meinte Marlo dann und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Okay." Sie lächelte. John konnte sehen, dass es ein ehrliches Lächeln war. "Dann kann ich es kaum erwarten sie kennenzulernen."
Plötzlich nahm John eine Bewegung wahr und hielt sein Pferd an. War das ein Skrim?
"Was ist?" Marlo machte kehrt und kam zu ihm zurück. John deutete auf den kleinen Fleck, weit von ihnen entfernt.
Es dauerte einige Augenblicke, bis John erkannte was es war. Eine Person wanderte die öde Landschaft entlang. Ein Hund folgte der Person.
"Da ist jemand", murmelte John schließlich.
"Vielleicht hat sie Waffen oder Proviant? Wir könnten sie überfallen."
"Die Person hat einen Hund. Der könnte uns gefährlich werden." Er suchte nur nach einer Ausrede nicht anzugreifen. Marlo rollte mit den Augen und deutete schweigend auf ihre Waffe.
Die Idee gefiel John nicht. Es wäre sinnvoller, wenn jeder seinen Weg ging. Sie hatten alles was sie brauchten, wieso sollten sie dann eine andere Person überfallen und ihr eventuell das Leben nehmen? Das hielt John für unfair. Wer wusste schon, was die Geschichte dieses Menschen war. Es konnte ein Vater sein, der gerade auf der Jagd war um seine zwei kleinen Kinder zu versorgen. Oder ebenfalls nur ein einfacher Überlebender auf dem Wag nach Portland.
"Ich denke, das ist keine gute Idee."
Marlos Lächeln verschwand. "Warum? Hast du Schiss?"
"Ich weiß nicht. Wir haben alles was wir brauchen. Es wäre unfair." John sah erneut zu der fremden Person in der Ferne. Sie schien sie nicht gesehen zu haben, denn sie wanderte einfach weiter über das karge Land. Der Hund umkreiste die Person, mal in kleineren, mal in größeren Kreisen.
"Das Leben ist halt nicht fair, John. Manchmal muss man zum Überleben egoistisch sein", meinte Marlo schnippisch. "Dann warte hier. Sieh zu und lerne." Mit den Worten trat sie ihrem Pferd in die Flanken und galoppierte los.
John zögerte und seufzte dann. Vielleicht konnte er Marlo doch noch abhalten, die Person zu erschießen. Er galoppierte ihr hinterher, schien jedoch nicht mehr aufholen zu können.
Die fremde Person blieb irgendwann stehen und der Hund begann zu bellen. Je näher John der Person kam, desto bekannter kam ihm die Person vor. Als er plötzlich erkannte, wer da vor ihnen stand, brach er ein erstauntes "Nicolas!" hervor. Doch Marlo hatte bereits die Waffe gezogen und zielte.
"Stopp, Marlo! Nicht..." John wurde von dem lauten Knall unterbrochen. Wie in Zeitlupe galoppierte John weiter, griff nach den Zügeln des Pferdes, erwartete das schlimmste.
Weder Nick, noch Marlo gingen zu Boden. John stellte erleichtert fest, dass keiner von beiden verletzt war. Marlo war angehalten und John hielt sein Pferd neben ihr an.
Plötzlich war das winseln des Hundes zu hören, ein schmerzerfüllter Klagelaut. John riss Marlo wütend die Waffe aus der Hand, stieg von seinem Pferd ab und rannte auf Nick zu, der sich neben den Hund gehockt hatte. Eine Blutlache hatte sich neben dem Brustkorb des Hundes gebildet und färbte die sandige Erde rot. Er regte sich nicht. Nick sah zu John auf und in seinem Blick lag blanke Wut. John wich einen Schritt zurück.
"Ihr verdammten Wichser habt meinen Hund getötet!" Nick stand auf, wollte sich gerade auf John stürzen. Doch er brach ab und brauchte einen Moment um sich zu sammeln. "John? Was machst du denn hier?" Sein irritierter Blick flog zu Marlo und wieder zurück zu John. "Du hast uns verraten! Wie konntest du nur?", schrie Nick, zog seine Waffe und richtete sie auf John.
"Nein! Habe ich nicht! Warte...lass mich erklären!" John ließ seine eigene Waffe zu Boden fallen.
"Du hast das Militär in der Nacht auf uns gehetzt! Woher hätten sie sonst wissen sollen, dass wir durch den Tunnel abgehauen sind? Du hast uns verraten und wegen dir habe ich Louisa verloren!" Seine Stimme schien beinahe zu brechen und Tränen sammelten sich in Nicks Augen.
"Ich habe euch nicht verraten." Johns Stimme war ruhig und er schob den Lauf von Nicks Waffe auf Seite. "Ryker hat uns beobachtet. Ich habe den Colonel getötet, weil er mich bei einer Patrouille angegriffen hatte. Ich habe euch nicht verraten."
"Was? Du hast den Colonel getötet?" Nick zog die Augenbrauen hoch.
"Das kann ich dir auf dem Weg erzählen."
Nick zögerte, nahm dann jedoch langsam die Waffe runter. "Ihr habt meinen Hund erschossen."
"Ihr kennt euch?" Marlos überraschte Stimme erklang und John drehte sich zu ihr um.
"Ja, wir sind...äh..." John überlegte kurz. Er wollte nicht unbedingt das Wort Freunde verwenden. Sie waren keine Freunde.
"Kollegen", meinte Nick dann und schenkte John einen strengen Blick. Er erinnerte John immer wieder daran, dass er älter und erfahrener war. John war schließlich nur ein junger Soldat.
"Wir sollten weiter." John warf einen Blick auf den Hund. Er konnte Marlo nicht böse sein. Sie hatte seinen Ruf nicht gehört und es nicht besser gewusst. Auch Nick sah den toten Hund traurig an.
"Ich begleite euch", meinte er dann und seufzte, strich dem toten Hund noch einmal durchs Fell. "Wo soll ich auch sonst hin?"
"Gut, dass wir ein drittes Pferd haben!" Marlo gab Nick die Zügel an. Nick warf ihr einen wütenden Blick zu und schwang sich auf den Rücken des Pferdes.
"Achja" Marlo senkte die Stimme, doch John konnte es trotzdem hören. "Tut mir leid, wegen dem Hund. Wirklich."
Nick grummelte irgendetwas unverständliches, bevor sie weiter ritten.
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