Teil 17_Verräter

JOHN

"Morgan!"

John kannte die Stimme nicht und sah von seinem Frühstück auf. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Ob Louisa und Nick es sicher aus dem Tunnel hinausgeschafft hatten? Er wusste es nicht. Er hatte mitbekommen, wie der Colonel einen Suchtrupp in den Tunnel gesandt hatte, als man herausgefunden hatte, dass Nicolas und Louisa verschwunden waren. Doch sie waren alleine zurückkommen. Das beruhigte ihn ein wenig. Dennoch hatte er keinen Appetit und schob das halbe Brötchen von sich weg. Er hob den Kopf und sah in die grünen Augen von William Moore, während er seinen Tee trank.

"Morgan, wissen Sie, wo Griffin ist?", fragte William trocken. John schüttelte den Kopf. Er wollte keine unangenehmen Fragen beantworten müssen, wollte aber auch nicht sagen, dass Louisa heute Morgen nicht zum Training erschienen war. Der Colonel versuchte das Verschwinden der Beiden geheimzuhalten, um keinen Aufstand auszulösen.

"Wo Kingsley ist, wissen Sie auch nicht?"

Erneut schüttelte John den Kopf und sein Gegenüber wandte sich mit einem genervten Grummeln ab. Er sah ihm noch einige Momente nach, bevor er sich selber erhob und den Speisesaal verließ.

Draußen schien die Sonne. Nach dem regnerischen Sturm die letzten Tage hatten sich große Pfützen gebildet und der Boden war immer noch nass und matschig. Doch nun war der Himmel blau und wolkenfrei. Es war sogar so warm und schwül, dass John den Reißverschluss seiner Jacke ein Stückchen öffnete und die Sonne auf seinem Gesicht genoss. Tief atmete er die nach Regen duftende Luft ein. Er beobachtete, wie sich die Morgenpatrouille vor den Garagen sammelte und sein Blick blieb an Leutnant Travis hängen, der sich leise mit dem Colonel unterhielt. Kurz warf Travis John einen Blick zu und wandte sich danach wieder an den Colonel, der John daraufhin zu sich winkte. Er zögerte kurz, folgte aber dem Befehl.

"Sir, Colonel, Sir?" John stand gerade und salutierte. Mit einem genervten Nicken bedeutete der Colonel ihm, bequem zu stehen und er entspannte sich ein wenig.

"Sie kommen mit auf Patrouille. Wie Sie hoffentlich schon mitbekommen haben, sind uns die kleine Schlampe aus St. Cloud und der Verräter Kingsley entlaufen", knurrte der Colonel durch die Zigarette, die er zwischen den Lippen hielt. John zuckte zusammen. Der Colonel hatte wohl unglaublich schlechte Laune, was John nachvollziehen konnte. "Und wir dürfen sie jetzt wie entlaufene Hunde wieder einsammeln. Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte." Dann wandte sich der große Mann an den gesamten Suchtrupp: "Sucht die ganze Gegend in alle Himmelsrichtungen von hier bis nach St. Cloud ab. Und wagt es ja nicht zurückzukehren, bis ihr die beiden gefunden habt. Wehe, ihr habt nicht jeden Quadratmeter durchkämmt." Die Soldaten nickten alle leicht erschrocken, schwangen sich auf die Motorräder und in die Autos und verließen die Kaserne.

"Sie begleiten meine Patrouille", meinte der Colonel an John gewandt. Er hörte die leichte Drohung aus dem Befehl heraus und seine Nackenhaare stellten sich auf. Jetzt wurde keine Widerrede geduldet und John nickte. Dann stellte der Colonel mit einer Handbewegung eine kleinere Patrouille zusammen und führte sie durch die Tore der Kaserne in Richtung Fluss. Die Soldaten ließen die Motoren der Quads aufheulen.

Am Fluss angekommen stiegen sie von den Fahrzeugen ab und gingen zu Fuß weiter. Die Gruppe teilte sich auf und suchte das Flussufer in beide Richtungen ab. Der Colonel hatte darauf bestanden, dass John ihn begleitete. Die Zeit zog sich endlos und ihm war die Stille unangenehm. Er lief den Trampelpfad entlang und versuchte, einigen Dornenranken auszuweichen, die sich hartnäckig in sein T-Shirt hakten. Er bereute es, dass er seine Jacke bei den Quads gelassen hatte.

Eine unangenehme Spannung lag in der Luft. Er konnte den stechenden Blick des Colonels in seinem Rücken spüren, traute sich jedoch nicht, sich umzudrehen. Er ging einfach weiter das Flussufer entlang und hoffte, dass die Patrouille bald vorbei war. Sein Unbehagen wuchs, je länger sie sich anschwiegen. Irgendwann blieb John stehen und der Colonel ging voraus. Erneut fiel John auf, wie groß der Mann eigentlich war und wie viel Kraft hinter den breiten Schultern steckte. Irgendwann wurde der Fluss lauter und John fühlte sich wohler, weil es nun nicht mehr ganz so still war.

Plötzlich blieb der Colonel an der Klippe stehen und drehte sich zu John um: "Hier haben wir sie verloren. Sie sind in die Schlucht gesprungen. Meinen Sie, sie haben den Sprung überlebt?" Seine Stimme war kalt und er sah John mit seinen verschiedenfarbigen Augen an, suchte irgendeine Emotion in seinem Gesicht.

John trat näher an die Klippe und sah hinunter in den reißenden Fluss, der wild die Felsen umspülte und ungezähmt an den Wänden der Klippe leckte. Ihm stockte der Atem und sein Magen zog sich zusammen. Ihm wurde schwindelig und er wich einige Schritte zurück. Er hatte Höhen noch nie gemocht.

"Ich weiß es nicht, Sir", antwortete John und konnte den Blick nicht von dem Fluss abwenden. Wenn Nick und Louisa wirklich hier hinuntergesprungen waren, waren sie hoffentlich gute Schwimmer.

"Morgan." Der Colonel sah ihn finster an. "Wo ist Ihre Waffe?" Johns Hand tastete verunsichert nach seiner Waffe, als er sich erinnerte, dass er sie Nick und Louisa bei ihrer Flucht überlassen hatte. Panik kochte in ihm auf. Sein Herz begann zu rasen und ihm wurde heiß. Ihm fiel keine Ausrede ein, deshalb schwieg er.

"Wo ist ihre Waffe, John?", wiederholte der Colonel ruhig, doch der bedrohliche Unterton war nicht zu überhören. Seine Stimme war tief. John schwieg. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Jetzt war er sich sicher, dass der Colonel wusste, dass er Louisa und Nick zur Flucht verholfen hatte. Er spannte die Muskeln an, jederzeit bereit, einen Angriff abzuwehren. John kannte den Colonel zu gut, hatte ihn zu oft kämpfen und ausrasten gesehen. Oder sollte er einfach jetzt weglaufen? Einfach rennen und hoffen, dass er schneller war?

"Wo waren Sie letzte Nacht?", fragte der Colonel weiter und John bemerkte, dass seine Hand auf seiner Waffe ruhte, doch seine Stimme war überraschend ruhig. Tief, rau, aber ruhig.

"Ich habe geschlafen, Sir", log John und versuchte, dem Blick seines Gegenübers standzuhalten.

"Lügen sie mich nicht an, Morgan", knurrte der Colonel und baute sich vor ihm auf. Er sah zu dem großen Mann auf. "Wissen Sie, Morgan, ich habe nicht nur die kleine Griffin und Kingsley unter Beobachtung gestellt, sondern auch Sie. Denken Sie, ich habe nicht bemerkt, wie sie die kleine Rothaarige anstarren? Wie ein verliebter Hundewelpe."

John sagte nichts mehr. Er war sich sicher, dass Ryker einer von den Spionen war. Der Sohn des Colonel musste bemerkt haben, dass er letzte Nacht nicht ins Zimmer gekommen war und hatte sich wahrscheinlich auf die Suche nach ihm gemacht.

"Wissen Sie, wie wir in der neuen Welt Verräter bestrafen?" Der Colonel spannte die Muskeln an.

"Mit dem Tode", flüsterte John.

Gerade als er das sagte, zog der Colonel seine Waffe, doch im selben Moment drückte John seinen Arm nach oben von ihm weg. Der laute Schuss hallte im Wald wieder. Vögel flogen erschrocken auf, während der Fluss aggressiv und ungestört weiter rauschte, als wäre nichts passiert. Ein stechender Schmerz zuckte wie ein Blitz durch seinen Körper. Blut tränkte sein grünes Oberteil, doch das Adrenalin betäubte den Schmerz. John nutzte die Gelegenheit der Überraschung und entwaffnete seinen Angreifer mit einigen Schlägen, bevor er selber einen Schlag in den Bauch und ins Gesicht bekam und zu Boden ging. Der Colonel baute sich über ihm auf und begann, mit Fäusten auf ihn einzuschlagen, während John verzweifelt versuchte, seinen Kopf zu schützen. Er war schwächer als der Colonel und kleiner, das wusste er. Doch dann erinnerte er sich an das, was er Louisa gesagt hatte. Er musste klüger und schneller sein. Mit diesem Gedanken drehte er sich unter den Schlägen weg. Seine Hand ertastete einen großen Stein. Er griff danach und schmetterte ihn seinem Angreifer ins Gesicht. Er schlug erneut zu, immer wieder, bis der Colonel von ihm abließ. Sie rollten über den kahlen, harten Steinboden. Erneut schlug John zu und Blut spritzte ihm ins Gesicht. John erhob sich schwankend, sah die breite Gestalt auf sich zutaumeln. Im letzten Moment wich er aus und stolperte zur Seite. Der Colonel versuchte zu bremsen, hatte jedoch keine Chance und fiel. Mit einer Hand hing er am Rande der Klippe.

"Morgan! Ich werde Sie umbringen", krächzte er heiser und zog sich die Klippe hoch. Im selben Moment griff John nach der Waffe, die der Colonel hatte fallen lassen, zielte und schoss dem großen Mann in die Brust. Der Colonel keuchte auf, sah John einige Momente hasserfüllt an und stürzte dann rückwärts die Schlucht hinunter.

John schaute ihm erschrocken hinterher, sah jedoch nur noch den leblosen Körper, der von der Strömung gegen die Felsen getrieben wurde.

Mit weichen Knien wich John vor dem Abgrund zurück und fiel rückwärts ins hohe Gras. Er hatte den Colonel getötet! Mit zitternden Fingern wischte er sich das Blut aus dem Gesicht. Wenn man das in Minneapolis herausfand, war er ein toter Mann. Er konnte auf keinen Fall in die Kaserne zurückkehren. Mit langsamen Bewegungen erhob er sich, schnappte noch immer nach Luft nach dem Kampf. Er tastete nach seiner Schulter. Sein Oberteil war blutrot und nass. Erleichtert atmete er aus, als er realisierte, dass es nur ein Streifschuss war. Das Militär würde ihn verfolgen. Sie würden Jagd auf ihn machen, wie Wölfe auf ein hilfloses Reh. Er war nun ein Ausgestoßener.

John sprintete den Pfad zurück zu den Quads, stolperte durch das Unterholz und zerriss sich die Kleidung an Dornenranken. Er schwang sich auf eines der Quads, warf sich die Jacke um, drehte mit zitternden Händen den Schlüssel und fuhr los. Bloß weg von Minneapolis, in irgendeine Richtung. 

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