Teil 13 _ Erkennst du das Böse, wenn es vor dir steht?
JOHN
"Wieso kriege ich keine Waffe?" Louisa hatte John eingeholt und stupste ihn an.
"Weil du noch nicht mit so einer Waffe umgehen kannst", konterte John und lächelte ihr neckend zu.
"Dann gib mir deine kleinere Pistole." Sie deutete auf die Pistole an seinem Gürtel. "Ich habe ja nicht einmal ein Messer, um mich zu verteidigen. Und wo ist meine Machete?"
"Ich gehe jetzt auf Patrouille und du bleibst hier in der Kaserne. Hier musst du dich nicht verteidigen." Mit diesen Worten ließ er Louisa stehen und schwang sich auf eines der Quads. Er war seit zwei Monaten auf keiner Patrouille mehr gewesen, damit er Louisa vernünftig trainieren konnte. Er ließ er den Motor aufheulen und sie fuhren zum Park am Rand der Stadt.
Es war kühl, der Wind peitschte in Johns Gesicht und am Himmel sammelten sich dicke, graue Wolken. Es würde regnen, das spürte er. Es roch nach Gewitter und die Luft schien zu knistern. Obwohl an den Bäumen schon kleine grüne Knospen wuchsen, fühlte es sich noch nicht wie Frühling an.
Leutnant Travis, der die Patrouille anführte, hielt an und befahl ihnen, ihm zu folgen.
"Wir waren lange nicht mehr hier", meinte Harrison zu John. "Würde mich nicht überraschen, wenn wir auf Skrim oder Streuner treffen."
Streuner nannte das Militär einzelne Überlebende, die alleine oder in Grüppchen lebten und niemandem etwas taten. Ab und zu kamen Überlebende nach Minneapolis, entweder, um sich dem Militär anzuschließen, oder, weil sie nach Essen suchten.
"Gütiger ..." Vorne in der Patrouille hörte John aufgeregtes Tuscheln und er drängte sich an die Spitze der Gruppe.
"Was ist das?", fragte er Leutnant Travis, der genauso ratlos aussah wie der Rest. Er antwortete nicht. Eine Soldatin neben ihm legte die Waffe an und zielte.
"Nein nicht schießen, Jessica." Travis unterbrach sie. "Warte noch."
Sie standen eine Weile da und begutachteten den Baum. Es war jedoch nicht der Baum selber, der eigenartig war. An den dicken Ästen des Baumes hingen Skrim kopfüber wie Fledermäuse.
"Sie hätten uns schon lange hören sollen", meinte Harrison. "Skrim reagieren besonders auf Geräusche, dafür sehen sie nicht so gut."
"Sind sie tot?", fragte ein anderer Soldat. "So etwas habe ich noch nie gesehen." Tatsächlich sahen die Skrim irgendwie tot aus. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Haut war blass, bei manchen sogar so weiß, als hätte man sie mit Mehl überschüttet.
"Ich glaube nicht, aber sie scheinen uns nicht wahrzunehmen." Travis bewegte sich langsam auf den Baum zu, bis er direkt zwischen den Skrim stand.
Jessica streckte vorsichtig die Hand nach einem der hängenden weißen Skrim aus, doch bevor er sie davon abhalten konnte, das Wesen anzufassen, berührten ihre Fingerspitzen die Haut der Kreatur. Angewidert zog sie die Hand zurück, als Stückchen der weißen Haut des Skrim wie Staub zu Boden rieselten.
"Das ist das pure Böse", murmelte sie.
Auch John trat näher an einen der Skrim und fuhr ihm über die Haut. Das Monster regte sich nicht, doch die oberen Schichten seiner Haut lösten sich und fielen zu Boden. Sie schälen sich ...
"Ich glaube die Skrim häuten sich."
"Häuten sich?", fragte Leutnant Travis interessiert und kratzte sich an seinem dunklen Schnurrbart. Er sah John fragend an. Travis war zwar gewalttätig und ein starker Kämpfer, jedoch nicht besonders klug. "So wie Schlangen?"
"Ja", sagte John und beobachtete Harrison, der einige der weißen Hautschuppen in einem kleinem durchsichtigen Becher sammelte.
"Wieso sollten sie so etwas Absurdes tun?" Travis und verschränkte die Arme.
"Ich bin mir nicht sicher", entgegnete John. "Vielleicht wachsen sie. Ihre harte Haut ist nicht dehnbar und wächst nicht mit. Deshalb häuten sie sich, um die alte, harte Haut loszuwerden."
"Wer weiß", meinte Travis und wandte sich dann an Jessica. "Mach ein paar Fotos und dann knallen wir die Mistviecher ab."
Ob das so eine gute Idee ist?, ging es John durch den Kopf, doch er hatte gegenüber Leutnant Travis Blackstone nichts zu sagen.
Jessica machte einige Fotos, dann stellte sich die Patrouille in eine Reihe und schoss innerhalb weniger Sekunden jeden Einzelnen der Skrim vom Baum. John zählte insgesamt neun tote Monster. Der Boden saugte sich voll mit dem dunkelroten Blut der Skrim.
"Das war's, fahren wir zurück und berichten, bevor ihre Freunde auftauchen", befahl Leutnant Travis. Sie eilten zurück zu den Quads und fuhren in Richtung Kaserne.
Eigenartig, dachte John.
Wieso hatten die Skrim nicht auf sie reagiert? Waren sie während der Häutung in einer Art Trance?
Doch die Gedanken verflogen, als sie durch die Tore der Kaserne fuhren. Er stellte gerade sein Quad an der Garage ab, als er Louisa auf sich zukommen sah.
"Und? Habt ihr etwas entdeckt?" Sie schien zu ahnen, dass sie etwas Besonderes gefunden hatten. Es war nicht das erste Mal, dass Louisa seine Gedanken zu lesen schien. Es war, als hätte sie ein Gespür dafür.
"Komm mit, ich erzähle es dir", meinte John und führte sie in ihr Zimmer. Ryker und Maya waren gerade nicht da. Sie waren immer noch auf der Mission, zu der die beiden auserwählt worden waren. So hatten Louisa und John das Zimmer für sich alleine. Man hatte Louisa seinem Zimmer zugeteilt, da sie seit Ewigkeiten ein Bett freihatten. Und sie unterhielten sich meistens sehr lange, manchmal sogar, bis der Himmel wieder heller wurde. John gefielen diese Nächte, in denen sie sich Geschichten erzählten und gemeinsam lachten oder auch trauerten. Er hatte, seit er als kleiner Junge hier beim Militär eingeliefert worden war, nicht mehr so eine starke Bindung zu einem anderen Menschen gespürt.
John fühlte sich auf eine Weise zu Louisa hingezogen, die er nicht kannte. Wenn sie ihn mit ihren dunklen, aber doch lebensfroh strahlenden Augen ansah, wurde ihm warm ums Herz. Sein Puls stieg und manchmal vergaß er, was er sagen wollte. Ab und zu sah er sie einfach an und erfreute sich an ihrem ansteckenden Lächeln, ihrer fröhlichen Art und den zotteligen roten Haaren. Sie war schlank und zerbrechlich, sodass er beim Training fürchtete, sie zu verletzen. Doch Louisa wurde von Tag zu Tag stärker und ihre Schläge kräftiger.
"Was habt ihr denn jetzt gefunden?", Louisa riss ihn aus seinen Gedanken in die Realität zurück. "Hallo? John? Alles in Ordnung?" Sie winkte mit der Hand vor seinem Gesicht hin und her.
"Ja, ja natürlich." John blinzelte einige Male und sah Louisa dann eindringlich an. "Im Park steht eine alte, große Buche", begann er.
"Aber das ist doch nichts Neues ." Louisa zuckte mit den Schultern.
"An den Ästen der Buche hingen überall Skrim, kopfüber wie Fledermäuse und waren schneeweiß. Ihre Haut hat sich gelöst. So etwas habe ich noch nie gesehen", erzählte er.
"Waren sie tot?", fragte Louisa und beugte sich interessiert vor. "Sonst hätten sie euch doch angegriffen."
"Ich glaube nicht. Ich denke, sie waren in einer Art Trance und haben sich gehäutet, um die alte Haut loszuwerden."
"Seltsam", murmelte Louisa.
"Allerdings." Er lehnte sich zurück. Auch Louisa lehnte sich an dem Fußende des Bettes an die Wand. Sie dachte nach, das konnte John ihr ansehen. Jedes Mal, wenn sie nachdachte, biss sie sich auf die Unterlippe und er fand es schön.
"Du John, kann ich dich etwas fragen?", setzte sie nach einiger Zeit an. Dieser zögernde, unsichere Ton war nicht üblich für sie.
"Natürlich, alles was du willst." John richtete sich wieder auf, um ihr zu zeigen, dass sie seine Aufmerksamkeit hatte.
"Ich bin in der Bibliothek letztens auf Zoe gestoßen", erzählte sie. "Sie hat gesagt, dass hier manchmal Menschen verschwinden. Weißt du, was sie meinte?"
Tatsächlich ging das Gerücht herum, dass Soldaten einfach spurlos verschwanden. Aber John glaubte, dass sie entweder auf Missionen oder Patrouillen umkamen oder dass sie die Kaserne auf eigene Hand verließen.
"Zoe ist verrückt", winkte John ab. "Hör ihr am besten gar nicht zu. Sie möchte dir nur Angst machen."
"Weißt du denn irgendetwas von Lieferungen nach St. Cloud? Handelt ihr mit St. Cloud?", hackte sie weiter nach. John schüttelte den Kopf. Das Militär hatte, soweit er wusste, nichts mit den großen Städten zu tun.
"Wieso machst du dir über sowas Gedanken?" Er seufzte und legte den Kopf schief. Louisa sah besorgt aus. Ihre dunklen Augen waren trüb und sie zögerte einige Momente.
"Meine Mutter hatte über eine Lieferung aus Minneapolis gesprochen. In St. Cloud wird an Menschen experimentiert und hier in Minneapolis verschwinden regelmäßig Menschen", meinte sie dann. "Findest du das nicht irgendwie komisch? Das hängt alles miteinander zusammen und ich werde herausfinden, was da vor sich geht."
"Bist du wegen sowas nicht ins Exil geschickt worden?", fragte John vorsichtig und legte behutsam seine Hand auf ihr Bein. "Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert. Und wenn der Colonel irgendwelche faulen Geschäfte macht, was geht uns das an? Es beeinflusst uns doch gar nicht. Wichtig ist, dass wir Essen haben, ein Dach über dem Kopf und dass wir in Sicherheit sind."
"Ach ja, John? Bin ich hier in Sicherheit? Was, wenn der Colonel mich zurück nach St. Cloud schickt?" Louisa sah ihn forschend an. Ihr Blick war hart und John konnte ihm nur mit Mühe standhalten.
"Deine Mutter hat dich doch ins Exil geschickt. Sie wird sich nicht erpressen lassen", erwiderte John ruhig.
"Erkennst du das Böse, wenn es vor dir steht?", fragte sie dann. John konnte mit der Frage wenig anfangen.
"Wenn wir wollen, dass die Welt wieder funktioniert, dann dürfen wir so etwas nicht zulassen. Wenn wir irgendwann wieder eine friedliche, zivilisierte Gesellschaft aufbauen wollen und wirklich in Sicherheit leben möchten, dann müssen wir etwas gegen solche Menschen wie meine Mutter unternehmen. Mein Leben lang war meine Mutter genau vor meinen Augen und ich habe nicht gesehen, woran sie arbeitet, dass sie grausame Menschenexperimente durchführt. Also, John Morgan, erkennst du das Böse, wenn es vor dir steht?", fragte sie erneut.
"Ich weiß es nicht", erwiderte John.
"Ich werde versuchen, das Böse zu vernichten, damit wir irgendwann in Frieden leben können. Und ich glaube, dass das Ganze noch viel größer ist als der Menschenhandel zwischen Minneapolis und St. Cloud." Sie schwieg einige Herzschläge. "Wir leben nun in einer neuen Welt und wir können nicht zulassen, dass diese Welt von Tyrannen wie meiner Mutter beherrscht wird. Entweder du hilfst mir, oder nicht, aber irgendjemand muss den Anfang machen." Ihre Stimme war bestimmt und John wusste, dass sie meinte, was sie sagte.
"Ich helfe dir. Was auch immer geschieht."
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