PROLOG
"Louisa!"
Sie blieb auf dem Flur stehen und drehte sich zu der großen Frau um, die zügig auf sie zukam. Wieder mal fiel Louisa auf, dass sie jünger aussah, als sie eigentlich war. Nur wenige kleine Falten zierten das sanfte Gesicht der Frau und ihre blonden schulterlangen Haare wiesen einzelne graue Härchen auf, die im Sonnenlicht silbern glänzten.
"Was gibt es, Mutter?" Louisa richtete ihre weiße Bluse.
"Ich habe gleich noch ein wichtiges Treffen. Bring bitte diese Proben ins Labor", erklärte ihre Mutter streng, drückte ihr einen durchsichtigen Zylinder in die Hand und wandte sich ab. Sie ließ Louisa stehen und bald verhallten ihre klackernden Schritte.
Louisa seufzte und machte sich auf den Weg ins Labor. Sie selber hatte noch nie Blut- und Hautproben entnommen, auch wusste sie nicht, woher sie kamen. Ihre Aufgabe war es sonst immer, nur zu testen, wie verschiedene Gifte auf verschiedenes Blut reagierten und dies zu dokumentieren.
Es war ihr nicht gestattet, Fragen über Projekt Regnum zu stellen und das tat sie auch nicht. Man redete nicht über das Projekt, obwohl sie hier im Forschungszentrum dafür arbeiteten. Es galt als streng geheim und nur wenige besonders wichtige Personen wussten, wovon es handelte. Louisa war mehr oder weniger in ihren Job hineingeboren. Mit ihrer Mutter als Leiterin des Labors und Präsidentin der Stadt St. Cloud hatte sie vor zwei Jahren das Angebot nicht ablehnen können.
Im Labor für die Auswertung von Proben angekommen, fand sie dieses leer vor, was nicht ungewöhnlich für diese Uhrzeit war. Die Sonne ging bereits unter und das letzte Tageslicht schimmerte durch die großen Fenster und tunkte den großen Raum in ein warmes Rot. Sie legte die Proben auf einem der Tische ab und wollte das Labor wieder verlassen, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte.
Die Tür am anderen Ende des Labors war angelehnt und bläuliches Licht schien durch den Schlitz. Die Tür stand nie offen. Niemals. Sie war immer abgeschlossen. Ausnahmslos. Nur die Wissenschaftler und der kleine Rat wussten, was sich hinter dieser Tür befand.
Ohne genauer darüber nachzudenken, durchquerte sie das Labor langsam und spähte in den anderen Raum hinein.
Sie zögerte und sah sich nochmal um, doch sie war tatsächlich alleine hier. Niemand schien sie zu beobachten.
Spionage.
Hochverrat.
Sie kannte die Urteile und Strafen für Menschen, die ihre Nase in Angelegenheiten steckten, die sie nichts angingen.
Lebenslange Haft.
Todesstrafe.
Exil.
Sie kannte sie alle. Und doch lugte sie in den Raum hinein, wagte kaum zu atmen, als sie mit den Augen den Raum absuchte.
Sie trat nochmal einen Schritt zurück und sah sich das Schild an der Metalltür an, auf der in Rot Betreten verboten! stand. Deutlicher konnte es doch wohl nicht sein, aber die Neugier war zu groß. Der geheime Raum schien sie wie magisch anzuziehen. Er schien ihr zuzuflüstern und sie einzuladen. Vielleicht würde Louisa jetzt herausfinden, wofür die ganzen Forschungen waren. Ihr Leben lang hatte sie getan, was man von ihr erwartete, ohne etwas zu hinterfragen. Sie musste an all die Blut- und Hautproben denken, an denen sie und hunderte andere Forscher arbeiteten. Woher kamen diese Proben? Vielleicht war das Projekt bei Weitem größer, als sie es sich vorstellen konnte. Doch sie zögerte. Bestimmt gab es einen Grund, warum Projekt Regnum geheim war. Genauso wie die Mauern um die Stadt herum einen Grund hatten, den niemand wirklich kannte. Aber dennoch war es gut, dass sie da waren. Vielleicht sollte das, was hinter dieser Tür war, geheim bleiben. Dennoch wollte sie sehen, was in dem Raum dahinter war. Sie würde nur einen kleinen Blick hineinwerfen und danach sofort wieder gehen. Es würde niemandem schaden.
Der Raum sah aus wie ein zweites Labor, blau beleuchtet und voller Geräte und Maschinen, die Louisa noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Mehrere Liegen standen in einer Reihe an der hintersten Wand. Über ihnen hingen Geräte mit unzähligen Kabeln und Rohren, die an den menschlichen Körpern befestigt waren. Schliefen sie?
Maschinen, die mit regelmäßigem Zischen arbeiteten und ihre leuchtenden Monitore, die den gleichmäßigen Herzschlag und die Sauerstoffzufuhr anzeigten.
Plötzlich hörte sie Schritte, die auf das Labor zukamen. Louisas Magen verkrampfte sich vor Angst, als die Tür zum Labor langsam aufschwang. Mit vor Panik weichen Knien schob sie sich in den blau beleuchteten Raum hinein und lehnte hinter sich die Tür an. Ihr Herz schien so laut zu klopfen, dass sie das Gefühl hatte, es würde sie jeden Moment verraten. Schritte näherten sich der dicken Stahltür und Louisa hielt den Atem an. Tränen füllten ihre Augen. Was hatte sie nur getan? Nun würde man sie finden und bestrafen. Sie schluckte schwer.
"Du Idiot hast die Tür offen gelassen!", meckerte jemand. Louisa hielt die Luft an und drückte sich noch fester an die Wand neben der Tür. "Sei froh, dass das niemand mitbekommen hat, sonst wäre das dein Ende gewesen." Mit einem Klicken fiel die Tür ins Schloss.
Einige Momente blieb Louisa wie angewurzelt an der Wand stehen, bevor sie es wagte, auszuatmen. Ein Blick auf die geschlossene Tür zeigte ihr, dass sie ohne Schlüssel nicht mehr hier rauskam. Langsam und mit leisen Schritten durchquerte sie den Raum, wobei sie jede einzelne Person betrachtete, die auf den Liegen lagen. Es waren Männer und Frauen, junge und alte Menschen. Sogar ein kleiner Junge lag auf einer der Liegen. Louisa trat näher an ihn heran und beäugte ihn. War er tot? Nein. Seine Brust hob und senkte sich langsam mit jedem Zischen der Maschine neben ihm. An einem Arm schien die Maschine ihm das Blut abzupumpen, durch einige Schläuche zu leiten und am anderen Arm wieder in den Körper hineinzupumpen. Die Haut des Jungen war blass, trocken und seine Adern stachen dunkel hervor. Louisa strich ihm vorsichtig über die Stirn und zog erschrocken die Hand zurück, als sie spürte, dass die Haut des Jungen eiskalt war. Vielleicht war er doch tot? Seine Augen bewegten sich unter den geschlossenen Lidern; er schien zu träumen.
Auf der anderen Seite des Raumes sah sie einige Zellen aus dickem Glas. Sie waren schmutzig, aber leer. In einer der Zellen klebten Spritzer und Tropfen von Blut an der Wand. Könnte auch etwas anderes sein, dachte sie.
Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken und sie wandte sich ab. Langsam öffnete sie eine andere Tür und trat aus dem Raum heraus in einen Flur. Verschiedene Rohre verliefen die Decke entlang und überall um sie herum piepte und zischte es. Weißes Licht erhellte den Flur, der sich ewig in beide Richtungen zu ziehen schien.
"Es ist wieder fehlgeschlagen. Langsam gehen uns die Möglichkeiten aus", hörte sie eine männliche, aber hohe Stimme hinter einer anderen Metalltür sagen. Louisa trat näher und drückte ihr Ohr an das kalte Metall.
"Versucht es weiter. Wir haben noch genug Probanden zur Verfügung. Es muss möglich sein", befahl eine Stimme, die Louisa bekannt vorkam.
"Bei allem Respekt, aber wir können doch nicht weiterhin unschuldige Menschen für diese Versuche benutzen! Wieso ist Ihnen so wichtig, dass diese Monster gehorchen? Wir leben hinter den Mauern, geschützt vor den Skrim und anderen Menschen. Belassen wir's dabei", sagte die erste Stimme. Was für Monster?, dachte Louisa. Man hatte ihnen erzählt, dass die hohen Mauern um die Stadt ihre Gründe hatten. Eltern erzählten ihren Kindern Schauergeschichten über riesige Monster hinter den Mauern. Ob da etwas dran war?
"Es sind keine Unschuldigen. Es sind Kriminelle oder Leute von der Straße. Deren Leben ist nichts mehr wert. Und wenn Sie, Doktor, sich meinen Befehlen widersetzen, sind Sie der nächste, der auf solch einer Liege liegt."
"Nein, nein", beschwichtigte der Doktor. "Wann erhalten wir die nächste Lieferung aus Minneapolis?"
"Morgen Mittag. Ich erwarte Fortschritte, Doktor. Sonst werde ich mir einen Ersatz für Sie suchen müssen. Und denken Sie daran: Dieses Projekt unterliegt strengster Geheimhaltung."
Die klackernden Schritte der Frau näherten sich der Tür. Louisa fuhr zusammen. Adrenalin schoss durch ihre Adern und ihre Knie gaben nach. Sie öffnete die nächste Tür und stolperte in den hell beleuchteten Raum hinein. Ein breiter, rechteckiger Tisch stand in der Mitte des Zimmers. Wovon hatten der Doktor und die Frau gesprochen? Was für eine Lieferung? Was hatte es mit den Menschen auf den Liegen auf sich? Fragen über Fragen. Ihr Kopf pochte, als sie realisierte, in was für Schwierigkeiten sie sich gebracht hatte. Sie musste hier raus. Sofort.
Gerade wollte sie den Raum wieder verlassen, als auf dem Flur direkt hinter der Tür plötzlich laute Stimmen zu hören waren. Zu spät. Als die Tür mit einem Quietschen geöffnet wurde, stürzte sich Louisa unter den großen Tisch. Keinen Moment zu spät, denn die Tür flog auf und mehrere Menschen betraten den Raum. Sie setzten sich an den Tisch.
Kurz dachte sie daran, sich einfach aus dem Raum zu stürzen und zurück durch das Labor zu laufen. Doch das war eine wirklich schlechte Idee.
Louisa konnte keine einzelnen Gespräche heraushören. Sie zählte neun Paar Beine, die sie von allen Seiten einengten. Erneut quietschte die Tür und eine Frau betrat den Raum. Das Klackern ihrer weißen Stöckelschuhe brachte die Versammlung zum Schweigen. Hinter ihr folgte ein weiteres Paar Beine, die – den Schuhen nach – einem Mann zu gehören schienen. Seine Jeans war ausgewaschen und ein wenig zerfetzt und die grünen Schnürsenkel passten nicht zu den roten Turnschuhen. Er schien kein großer Mann zu sein, denn er machte kleine schlurfende Schritte.
Der Mann setzte sich an den letzten Platz am Tisch.
Plötzlich fiel ihm ein Kugelschreiber hinunter und Louisas Herz setzte aus. Jetzt würde man sie entdecken. Das war es. Sie konnte nichts mehr tun.
Hochverrat.
Spionage.
Der Mann schob mit einem lauten Geräusch den Stuhl zurück, griff nach dem Kugelschreiber, der vor seinen roten Schuhen lag, und hob den Kopf.
Todesstrafe.
Exil.
Er erstarrte.
Louisa starrte zurück. Der Mann hob erstaunt die buschigen grauen Augenbrauen. Mit seinem grauen Vollbart sah er sogar eher freundlich aus. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Sie blickten sich wortlos mit aufgerissenen Augen an.
"Doktor, wir warten nur noch auf Sie. Können wir anfangen?", fragte die Frau ungeduldig. Der Mann räusperte sich und setzte sich wieder auf, stieß sich dabei aber fast den Kopf.
"Selbstverständlich."
Zitternd atmete Louisa aus, als die Frau zu reden begann. Wieso hatte der Doktor sie nicht verraten?
"Sehr geehrte Damen und Herren. Vor über zwanzig Jahren gelang es den Wissenschaftlern der Universität in Reykjavik, Island, das Virus näher zu untersuchen und zu kategorisieren, bevor es erst vor wenigen Jahren die USA erreichte", begann die Frau ihren Vortrag und machte eine kurze Pause. "Das Virus, eine Mutation des Tollwutvirus, besetzt das Gehirn und deaktiviert die meisten Hirnareale, bis auf die überlebenswichtigen Bereiche. Die Hirnaktivität wird auf ein Minimum reduziert und schaltet im infizierten Wirt nur noch einen der grundlegenden Instinkte frei: Fressen. Die DNA wird entsprechend dieser neuen Priorität angepasst und macht aus einem normalen Menschen eine schwierig zu tötende Bestie."
Louisa kannte die Stimme. Sie kannte sie sogar sehr gut, doch sie wollte es sich nicht eingestehen. Was ging hier vor? Tränen sammelten sich in ihren Augen, als sie dem Vortrag lauschte. Wieso wusste sie nicht davon? Wusste irgendjemand aus dieser Stadt, was draußen vor sich ging?
"Seine Entdecker nannten die Opfer des Neo-Rabiesvirus entsprechend ihrer Entsetzlichkeit Skrim, abgeleitet von dem isländischen Wort Skrimsli für Ungeheuer."
"Das ist alles schön und gut", unterbrach jemand am Tisch trocken. "Aber das wussten wir schon. Woran arbeiten Sie denn nun seit Monaten?"
"Wir verschanzen uns nun seit zwanzig Jahren hinter diesen Mauern", fuhr sie fort, ohne auf die Äußerung einzugehen. "Wir versuchen, den genetischen Code des Virus zu verändern, um diesen kontrollieren zu können und ein Gegenmittel zu finden. Nur so können wir wieder eine vor den Skrim sichere Gesellschaft aufbauen", erklärte die Frau. Louisa brummte der Kopf, als sie versuchte, sich vorzustellen, wie Menschen sich in Monster verwandelten.
"Erklären Sie bitte etwas spezifischer", bat eine tiefe raue Stimme.
"Wenn wir die Skrim kontrollieren können, können wir eine ganze Armee aus gefürchteten, nur uns treuen Monstern erschaffen, zum Schutz unserer Gesellschaft", erklärte die Frau und ihre Stimme klang zuckersüß. "Denn Sicherheit bedeutet Kontrolle."
"Woraus besteht dann die Kontrolle?", fragte eine andere Frau.
"Kontrolle funktioniert nur, wenn ...", Louisa hatte unter dem Tisch einen der Stühle verschoben und hat sich mit einem dumpfen Knall den Kopf am Tisch über ihr gestoßen. Ihr Herz setzte aus vor Schreck und sie hielt sich den Hinterkopf vor Schmerzen. Die Versammlung und das Kritzeln der Stifte auf Papier verstummte sofort. Wie auf ein stilles Kommando standen die Versammelten auf. Sie wurde unter dem Tisch herausgezerrt und aufgerichtet. Zwei Männer hatten sie gepackt.
Louisa kämpfte nicht. Sie pustete sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht und starrte ihrer Mutter wütend in die dunkelbraunen Augen. Sie hatten die gleichen Augen. Nur strahlten die Augen ihrer Mutter eine unglaubliche Kälte aus. Kurz zeichnete sich Überraschung auf ihrem Gesicht ab, dann hob sie anerkennend die Augenbrauen.
"Und Kontrolle funktioniert nur, wenn die Angst größer als der Mut und der letzte Funke Hoffnung erloschen ist", beendete sie den Satz und ihre Augen schienen Funken zu sprühen. Noch nie hatte Louisa diesen Ausdruck in den Augen ihrer Mutter gesehen und sie war sich sicher, dass sie ihn niemals vergessen würde. Ihr tat das Herz weh, als sie sah, mit was für einem Hass ihre Mutter sie anblickte. Doch irgendetwas schimmerte hinter dem ganzen Hass und der Wut hervor. Es war unendliche Trauer und Schmerz.
Lebenslange Haft.
Todesstrafe.
Exil.
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