N°9 ~ Lügen
NICK
Eine dünne Frostschicht bedeckte den erhöhten Aussichtsplatz, auf dem er stand. Das Licht des Mondes kämpfte sich durch den Nebel und ein kühler Wind wehte ihm ins Gesicht. Es war still und das beunruhigte ihn. Nicht mal die Grillen zirpten, dafür war es noch zu kalt. Es war Samstag, das wusste er. Erst seit er wieder beim Militär war, verfolgte er die Wochentage.
Die Tage wurden immer länger und die Sonne immer wärmer. Bald würde der Frühling kommen. Mittlerweile lag kein Schnee mehr und die Vögel zogen wieder in Richtung Norden. Dieser Winter war der Härteste der letzten Jahre gewesen. Kurz flammte Wut in ihm auf, als er an die großen Städte dachte, deren Einwohner es kuschelig warm unter ihren Glaskuppeln hatten und sorglos leben durften. Chicago, Philadelphia, Dallas, San Francisco, Denver, Kansas, New York, St. Cloud. Er wusste nicht, ob sie noch alle existierten.
Nick starrte angestrengt in den Nebel hinein, als er eine Bewegung wahrnahm. Doch er entspannte sich sofort wieder, als ein Reh aus dem Schatten trat. Es sah ihn einige Herzschläge lang an, dann wandte es sich ab und lief davon.
"Nicolas." Nick drehte sich um, als er eine bekannte Stimme vernahm. Ein Mann, definitiv älter als er selbst, kam die Leiter hinaufgeklettert und gesellte sich zu ihm auf den Ausguck. Die bereits gräulichen Haare des Mannes schimmerten silbern im Mondlicht.
"Harrison", begrüßte Nick den Mann. Er war damals, als Moonvale untergegangen war, in seinem Trupp gewesen.
"Du bist alt geworden", sagte Harrison ernst und deutete auf die kleinen Falten in Nicks Gesicht.
"Du bist immer noch älter als ich." Sie lachten beide.
"Hätte nicht gedacht, dass ich dich je wiedersehe. Wir dachten alle, du seist tot." Harrison klopfte ihm auf die Schulter. "Wie lange ist es jetzt her?"
"Zwei Jahre", antwortete Nick. Vor zwei Jahren hatte Nick seine Familie in Moonvale verloren. Harrisons Anwesenheit heiterte ihn ein wenig auf. Er hatte eine unglaublich positive und warme Ausstrahlung, das hatte er schon immer gehabt.
"Wer ist deine neue Freundin?" Der Ältere lächelte und seine Zähne glänzten weiß.
"Sie ist nicht meine Freundin. Um ehrlich zu sein." Nick wandte den Blick von seinem Kameraden ab und starrte hinaus in die Dunkelheit des Waldes. "Ich kenne sie erst seit einigen Tagen. Wir wurden zusammen gefangen genommen." Nick spürte, wie ihm heiß wurde und er öffnete den Reißverschluss seiner dicken Jacke ein wenig.
"Ihr seid keine Gefangenen." Harrison schüttelte den Kopf. "Sonst würdest du nicht hier auf dem Wachposten, sondern in einer der Zellen stehen. Du solltest dankbar sein, dass der Colonel dich und William mit offenen Armen willkommen geheißen hat. Er war wirklich sauer, dass ihr abgehauen seid."
Nick nickte wortlos, doch er hatte kein gutes Gefühl dabei, dass der Colonel ihn einfach wiederaufgenommen hatte. Es würde sicher noch Probleme geben. Es war nicht üblich für den sonst so hitzigen und gewalttätigen Mann, sich mit kleineren Gruppen zusammenzuschließen.
"Wo warst du die ganze Zeit?", fragte Harrison nach einer Weile und seine Augen glänzten.
"William und ich haben ein ganzes Jahr lang die gesamte Gegend nach Jay und Isabelle abgesucht, bis wir uns einer Gruppe angeschlossen haben. Eine kleine freundliche Gemeinde die sich Summerset nannte", erklärte Nick seinem alten Freund und machte eine Pause.
"Und weiter?"
"Wir wurden von einer größeren und aggressiveren Gesellschaft überfallen und gefangen genommen. Sie nannte sich Riverside. Sie töteten die Hälfte unserer Männer, vergewaltigten die Frauen und versprachen denen, die bereit waren, sich ihnen anzuschließen, eine gute Zukunft. Aber das ist schon ein halbes Jahr her." Nick schauderte. Finstere Erinnerungen waren von dem Piratenclan Riverside geblieben. Er erinnerte sich an Miles, den grausamen Anführer der Gruppe, und an das mordlustige Funkeln in seinen Augen.
"Ja, Riverside ist eine wirklich grausame Gruppe, der man lieber aus dem Weg geht. Wie konntet ihr fliehen?", fragte Harrison weiter nach und riss Nick aus seinen Gedanken.
"Uns hat ein Mädchen geholfen. Ich habe ihren Namen vergessen. Sie war noch ziemlich jung gewesen. Ich glaube, sie war erst 15", murmelte Nick halb zu sich selbst. Für eine kurze Zeit schwiegen sie. Nick erinnerte sich an das schulterlange, braune Haar und die braunen, warmen Augen des Mädchens. Ob sie noch lebte? Sie war anders als der Rest ihrer Gruppe gewesen, freundlich und höflich. Sie hatte die Gefangenen stets mit Respekt behandelt. Selbst dann, wenn sie Nick einen im Bogen gespannten Pfeil an den Kopf hielt. Sie hatte nicht in diese grausame Gemeinschaft gepasst, fand er.
"Hast du deine Frau und deinen Sohn gefunden?" Harris Stimme holte Nick aus seinen Gedanken in die Realität zurück.
"Nein", antwortete er knapp. "Wir haben die ganze Gegend von Alexandria bis Iowa City abgesucht. Ich vermute, sie ist auf direktem Weg nach Portland gegangen."
"Portland? Du glaubst doch nicht wirklich, dass dort eine Gemeinschaft lebt, die überlebende Streuner von der Straße pickt. Das ist ein Märchen, das sich die Überlebenden erzählen, um besser schlafen zu können." Der Ältere lachte. Nick lachte mit, obwohl er Harrisons Ansicht nicht teilte. Er war sich sicher, dass es in Portland noch Hoffnung gab. Isabelle und er hatten seit dem Kollaps der Regierung davon geträumt, irgendwann nach Portland zu gehen und dort ein neues, normales Leben zu führen. Aber ob sie wirklich diese Reise auf sich genommen hat?
"Was gibt es Neues beim Militär?", fragte Nick, um vom Thema abzulenken. Es interessierte ihn zwar nicht wirklich, doch vielleicht fand er ja irgendetwas Wichtiges heraus. Er hatte nicht vor, besonders lange beim Militär zu bleiben.
"Eines unserer größten Waffenlager in Seattle wurde angegriffen und beinahe ganz zerstört. Nebenbei haben wir ein paar Probleme mit unseren Händlern."
"Was für Probleme?", hakte Nick nach.
"Ach, das Übliche." Harrison winkte mit der Hand ab. "Die fordern größere Lieferungen, wollen aber nicht genug zahlen, wodurch wir immer mehr auf uns selbst angewiesen sind. Aber wir sind das Militär und kein Bauernhof."
"Mit wem handelt ihr denn?" Nick wollte ein paar interessante Informationen herausbekommen. Harrison schien ihm auszuweichen und etwas zu verheimlichen.
"Nur mit ein paar kleinen Splittergruppen, Waffenhändlern und Bauern", antwortete er und sah hinaus in die Dunkelheit hinter dem Zaun. Nick musterte den älteren Mann einige Augenblicke. Er glaubte ihm nicht. Es sah dem Colonel nicht ähnlich, mit kleinen Gruppen zu handeln. Traf das Militär auf schwächere Gruppen, wurden sie entweder eingeladen, sich ihnen anzuschließen, oder sie wurden gezwungen. Da lief etwas viel Größeres, von dem nur die höchsten Offiziere des Colonel wussten, das konnte Nick spüren.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top