N° 22 - Die Zähne eines Hundes

NICK

Er hatte sich für die Nacht eine Höhle in der Nähe des Flussufers gesucht, konnte jedoch nicht schlafen. Immer wieder hörte er die Motoren der Quads und Autos vom Militär, die die Gegend durchsuchten. Noch bevor die Nacht angebrochen war, hatte er mit seinem Taschenmesser den kleinen GPS-Chip aus seinem Nacken entfernt und ihn in den Fluss geworfen. Hoffentlich würde er weit weg treiben und das Militär eine Weile beschäftigen.

Immer wieder hegte er in Gedanken einen Groll gegen John. Er konnte ihn nicht ausstehen. Nick vermutete auch, dass John sie verraten haben könnte. Doch dann beruhigten sich seine Gedanken wieder. John und Louisa würden sich nie wieder sehen, denn Louisa hatte entschieden mit Nick nach Portland zu gehen. Und doch zog sich sein Magen bei dem Gedanken zusammen, denn er hatte Louisa noch nichts von seiner Frau und seinem Sohn erzählt. Er hatte schon öfter versucht es anzusprechen, doch jedes Mal wich er von dem Plan ab. Aber was wenn Isabelle und Jay noch lebten und Louisa es dann herausfand? Würde sie sich von ihm abwenden? Manchmal wird es nun mal nicht mehr als nur eine Freundschaft, redete er sich gut zu und Trauer überkam ihn. Was, wenn er Louisa auch nie wieder sehen würde? Was, wenn sie ertrunken war, oder noch schlimmer: das Militär sie gefunden hatte? Sollte er zurück gehen und sie befreien? Er könnte sich Nachts einfach zurück durch den Tunnel schleichen und die Kaserne nach ihr absuchen. Lange spielte er mit diesem Gedanken. Falls der Colonel sie gefunden haben sollte, würde er sie ohne zu zögern nach St Cloud schicken. Also blieb ihm nur noch eine Wahl; er musste weiter ziehen. Wenn Louisa es geschafft hatte wohlbehalten aus dem Fluss und am Militär vorbei zu kommen, würde sie bestimmt auf direktem Weg nach Portland gehen. Da er nun einen weiteren ganzen Tag beim Fluss verschwendet hatte, musste er sie einholen.

Also packte Nick mitten in der Nacht seine Sachen, vergrub die Krochen des Kaninchens, welches er erlegt hatte und brach auf. Er hätte sowieso nicht mehr schlafen können. Sein Vorteil war nun, dass er die Scheinwerfer der Fahrzeuge in der Dunkelheit bereits von Weitem sehen würde. Außerdem folgte ihm der Hund immer noch. Mal lief er direkt neben Nick her und mal stellten sich seine Ohren auf, dann lief er einige größere Kreise, teilweise so weit, dass Nick ihn nicht mehr sehen und hören konnte. Nach einiger Zeit kehrte er dann einfach zurück. Nick entschied sich den Hund Buddy zu nennen. Einerseits, weil der Hund gerade sein einziger Freund war, andererseits war ihm aber auch nichts besseres eingefallen. Wenn Nick langweilig war ließ er Buddy absitzen, ging einige Schritte voraus und rief ihn dann zu sich. Bald schon fand Nick heraus, dass Buddy auch "bei Fuß" gehen konnte und das Wort "Fass" verstand. Sie hatten das Kaninchen vom Vortag zusammen erlegt. Das Tier hatte auf einer kleinen Wiese in der Nähe des Flusses gegrast. Nick hatte sich mit Buddy hinter ein Gebüsch gelegt und vorher vorsichtig umgeschaut. "Fass." Nick hatte dann das Kommando gegeben und Buddy legte einen kurzen Sprint über die Grasfläche hin, packte das Kaninchen und brachte es zurück zu Nick. Er versuchte sich den vorherigen Besitzer des Hundes vorzustellen. Gehörte er mal einer Frau? Vielleicht einer Polizistin, die den Hund zum Selbstschutz ausgebildet hatte? Oder vielleicht hat der Hund einer Person gehört, die den Hund alleine fürs Töten trainiert hatte.

Nick ging im Wald, parallel neben der Straße. So würde jeder, der die Straße befuhr ihn nicht direkt sehen. Als die Sonne langsam aufging und die Vögel begannen zu zwitschern, wurde es wärmer. Endlich war der Frühling gekommen und ein weiterer Winter war überstanden. Nick griff nach dem kleinen Kalender in seiner Hosentasche. Es war ein Kalender von vor 28 Jahren und er passte genau zu diesem Jahr. Ein Kalender wiederholte sich nämlich alle sechs und dann zwei mal alle elf Jahre wieder. Heute war der dritte April. Ein Dienstag. Es war verwunderlich wie wenig Bedeutung die Wochentage bekommen hatten, seitdem er nicht mehr regelmäßig Arbeiten musste. Und es war erschreckend, wie sich eine Art Instinkt für Zeit und Himmelsrichtungen entwickelte. Er hatte nicht mal darüber nachdenken müssen, ob er nun wirklich Richtung Westen ging.

Plötzlich stellt Buddy die Ohren auf und blieb wie angewurzelt stehen, fokussierte irgendetwas. Auch Nick blieb stehen und schaute sich aufmerksam um. Er lauschte. Nach einiger Zeit hörte er Motorgeräusche, die schnell die Landstraße entlang zu fahren schienen. Sie blieben auf dem Parkplatz stehen, an dem Nick vor einigen Minuten vorbeigegangen war. Er riss sich aus seiner Starre und begann tiefer in den Wald hinein zu laufen, nach einem Versteck zu suchen. Doch in diesem Kiefernwald wuchs kein Unterholz. Stark keuchend erreichte er dann irgendwann eine Lichtung auf der hüfthohe Farne wuchsen. Ohne darüber nachzudenken ließ er sich auf den Bauch fallen und kroch in das Meer aus grünen Farnwedeln hinein, blieb dann irgendwann ruhig liegen und versuchte seinen Puls und das Keuchen unter Kontrolle zu kriegen. Bald schon hörte er Stimmen. Die Patrouille musste sich aufgeteilt haben, denn Nick konnte nur zwei unterschiedliche Männerstimmen ausmachen. Nick hielt den Atem an, wodurch er bald in Luftnot geriet und versuchte durch seinen geöffneten Mund besonders leise weiter zu atmen. Er sah durch die Stiele der Farne die Füße der beiden Männer. Sie teilten sich auf und umrundeten die kleine Lichtung.

"Hier ist nichts!", rief der eine Mann, der nur wenige Meter hinter Nick zu stehen schien.

"Alles klar", rief die zweite, vertraute Stimme. "Gehen wir." Nick kannte die Stimme. Er kannte sie so gut, dass er direkt wusste, wer da nur einige Meter vor ihm stand. Doch die Füße entfernten sich und Nick atmete erleichtert aus, wodurch unter seinem Brustkorb ein Stock mit einem KNACK zerbrach. Kurz darauf hallte ein Schuss im Wald wieder und die Kugel zischte direkt an Nicks Gesicht vorbei in den Waldboden.

"Hast du etwas gesehen?", fragte die fremde Stimme.

"Wird nur ein Vogel gewesen sein."

Jemand umrundete die kleine Farnlichtung erneut. Es war wohl nur eine Person, denn Nick konnte nur ein Paar Schuhe sehen. Dann erkannte er weiter hinten im Schatten des Waldes vier Pfoten, die ruhig einfach da standen und warteten.

"Weißt du, Nick", begann die bekannte Stimme. "Ich habe wirklich Hoffnungen in dich gesetzt. Der Colonel hat mir Immunität versprochen und du hast sie mir gestohlen. Jetzt werden Isabelle und Jay wohl dafür bezahlen müssen."

Bei den Worten sprang Nick auf und starrte William amüsiert an. William war so erschrocken, dass er seine Waffe fast fallen ließ. Er hatte einen wilden, beinahe verrückten Ausdruck in den Augen. "Hab ich dich", hauchte William. Gerade als er den Finger auf den Abzug legte gab Nick das Kommando "Fass!" und ein dunkler vierbeiniger Schatten stürzte sich auf William, biss ihm in die Arme, bis der Hund zu Williams Kehle vordringen konnte. William schrie gequält. Dann ließ Buddy von ihm ab und trat einige Schritte zurück. Nick hockte sich neben seinen ehemaligen Freund. Die Besessenheit in Williams Augen wurde nun von tiefer Trauer verdrängt. Er blutete stark am Hals und im Gesicht. Sein Atem ging röchelnd und er krallte sich vor Schmerzen ins Gras.

"Woher wusstest du das?", keuchte William und starrte Nick verständnislos an. "Woher wusstest du, dass ich lüge?"

Auch in Nicks Augen sammelten sich Tränen. Es tat weh einen Menschen, der mal sein bester Freund war, so zu sehen. "Isabelle hat in Thunder Bay mit 18 ihr erstes Kind verloren. Sie hat sich geschworen nie wieder dort hinzufahren, da der Gedanke zu sehr schmerzen würde. Darum wusste ich, dass du lügst", erklärte ihm Nick.

"Oh." William schmunzelte. Eine Träne lief seine Schläfe hinunter. "Doof gelaufen." Er versuchte zu Lächeln, schrie aber auf vor Schmerzen. Der Hund hatte sein halbes Gesicht zerfetzt und ein langer Schnitt vom Reißzahn des Tiers zog sich von seinem Auge bis zum Mundwinkel.

"Ja", hauchte Nick und schniefte. Es war schwer die Tränen zurückzuhalten. Er hätte William bis vor einigen Wochen noch sein Leben anvertraut und jetzt hätte er Nick eine Kugel verpasst.

"Ich hoffe du findest Louisa und deine Familie." Will röchelte. ""Geh nach Portland....meide den Yellowstone National Park..."

"Wieso? Will?"

"Mach's gut, Nick", hauchte William mit seinem letzten Atemzug noch aus. Dann erschlaffte sein Körper und er hörte auf gegen den Schmerz anzukämpfen. Nick wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und starrte Buddy einige Momente lang an. Dieser Hund hatte ihm gerade das Leben gerettet indem er seinen besten Freund umgebracht hat. Ehrfürchtig streichelte er den Hund und zog ihn dann in eine Umarmung.

"Du bist ein guter Junge", murmelte Nick und wischte Buddy das Blut von den Lefzen. "Lass uns gehen."

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