N°15 - Druckmittel
NICK
Die letzten Tage waren ruhig gewesen. Zu ruhig, fand Nick. In der Luft lag eine undefinierbare Spannung. Es war der 14. März, stellte er fest und steckte den kleinen Kalender wieder in die Tasche. Es hatte sogar aufgehört zu regnen, doch Nick hatte das Gefühl, dass sich dort etwas viel Größeres zusammenbraute. Wie die Ruhe vor einem Sturm.
Er hatte sich länger nicht mehr mit Louisa in der Bibliothek getroffen. Das beunruhigte ihn. Sie wollten doch zusammen hier ausbrechen und nach Portland gehen. Er überlegte sogar, ob er vielleicht einfach alleine weiterziehen sollte. In Portland wartete ganz bestimmt seine Frau auf ihn. Dort würde er seinen Sohn wieder in die Arme schließen.
"Du, Nicolas." William saß ihm gegenüber und hob den Kopf. Will hatte schon seit Wochen nicht mehr mit Nick und Louisa gegessen, sondern saß inzwischen bei Travis und den anderen Offizieren am Tisch. Sie hatten seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr miteinander gesprochen. "Wie geht es dir? Was machst du so?" Er sprach, als würden sie jeden Morgen solch ein Smalltalk führen. Nick ärgerte sich ein wenig und schwieg einige Momente, während er die gerade geputzte Waffe wieder zusammenbaute. Sie nannten es beim Militär den Frühjahrsputz, wenn alle Waffen aus den Lagern geholt, ordentlich geputzt, sortiert und geprüft wurden. Die Halle war gefüllt mit leisem Gemurmel der Soldaten und dem Klicken von einrastenden Waffenteilen.
"Ganz gut, denke ich", antwortete er schließlich knapp, ohne seinen Freund anzuschauen. Waren sie überhaupt noch Freunde? Nick erinnerte sich an die Zeit, als William ihn auf der Suche nach Jay und Isabelle begleitet hatte. Sie hatten so viel zusammen durchgemacht, waren zusammen Riverside entflohen und jetzt wandte William sich von ihm ab. Es machte Nick traurig, dass er neben seinem Sohn und seiner Frau nun auch seinen besten Freund zu verlieren schien.
"Sag mal, hängst du immer noch mit dieser Louisa herum?", hakte Will leise nach und schaute Nick neugierig an.
"Wir sind Freunde", rechtfertigte sich Nick leicht verärgert.
"Ich weiß, dass du mehr als nur Freundschaft von ihr willst. Ich weiß, wie du sie ansiehst."
Nick schüttelte den Kopf: "Wir verstehen uns einfach nur gut. Es muss nicht immer mehr als Freundschaft sein."
Er log. Er log William an und sich selbst an. Doch er wollte sich nichts anderes eingestehen. Er redete sich jedes Mal ein, dass er sich irrte, wenn sein Puls stieg und ihm heiß wurde, sobald er mit Louisa sprach. Er wusste, dass Louisa für ihn unerreichbar war. Sie war mehr als 15 Jahre jünger als er. Außerdem hatte er eine Familie, die sehnsüchtig auf ihn wartete. Aber was, wenn nicht?
"Aber du willst mehr." Sein Freund setzte ein Lächeln auf. Nick schaute ihm tief in die neugierig glänzenden Augen. Wieso interessierte William die Beziehung zwischen ihm und Louisa so sehr?
"Du und Travis, ihr scheint euch auch besonders gut zu verstehen", wechselte Nick das Thema und deutete mit dem Kopf in Richtung Leutnant Travis Blackstone, der kontrollierend durch die Tischreihen schlenderte und ab und zu einen der Soldaten anmaulte, er habe die Waffe nicht richtig geputzt. Typisch. William drehte sich nach Travis um, als wüsste er nicht, von wem Nick sprach und wandte sich dann wieder an seinen Freund.
"Ich helfe Travis, die Lieferungen zusammenzustellen", erklärte er mit gleichgültiger Miene und zuckte mit den Schultern. "St. Cloud fordert größere Lieferungen, weshalb Travis eine helfende Hand braucht."
Nick zog die Augenbrauen hoch: "Das Militär handelt mit St. Cloud?" Schien so, als lägen Louisa und er mit ihrer Vermutung richtig, dass St. Cloud und Minneapolis eventuell mit Menschen handelten.
"St. Cloud?", fragte William und schaute sich kurz erschrocken um. "Sagte ich St. Cloud? Ich meinte ... äh ... also ..."
"Lüg mich nicht an, Will", zischte Nick und beugte sich vor. "Womit handelt ihr? Na los, sag schon. Handelt ihr mit Menschen?" Er starrte Will finster an und beugte sich wie ein knurrender Hund über ihn. Zuerst schien sein Freund eingeschüchtert und Nick hoffte, dass er nun die Wahrheit sagen würde. Er hoffte, dass er falsch lag und William nun mit einer harmlosen Wahrheit rausrücken würde, doch sein Freund richtete sich auf und schaute Nick ernst an.
"Woher weißt du davon?", fragte Will und sah Nick durchdringend an. "Das sind geheime Informationen. Spionierst du etwa? Du weißt, was wir mit Spionen machen."
Jetzt musste sich Nick etwas einfallen lassen, sonst würde er auf der Stelle Probleme bekommen. Unsicher schaute er sich in der Halle um. Er schwitze. Wenn ihm nicht bald eine gute Antwort einfiel ... plötzlich blieb sein Blick an Louisa hängen, die am anderen Ende der Halle mit John herumalberte.
"Das ist irrelevant. Aber ich kann euch helfen", flüsterte er.
"Und wie willst du uns helfen?" William wirkte neugierig, schien seinem Freund aber nicht zu glauben. Er verschränkte die Arme.
"Ich weiß auch, dass St. Cloud nicht genug für eure Lieferungen zahlt. Wusstest du, dass Louisa die Tochter von St. Clouds Präsidentin Milantha Griffin ist? Ihr könnt sie als Druckmittel benutzen." Nicks Stimme war so eindringlich und überzeugend, dass William sich nun doch neugierig vorbeugte. "Wenn du mir sagst, wann und wo ihr euch für die Lieferung trefft, bringe ich Louisa zu euch."
Will dachte nach. Es dauerte einige Herzschläge, während er Nick musterte. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Jetzt würde er entweder auf Nick eingehen oder ihn verraten. Doch William zuckte nur mit den Schultern.
"Das wissen wir schon", meinte er nach einiger Zeit. "Außerdem ist sie gegen den Neo-Rabies Virus immun, was sie umso wertvoller macht. Hast du dich nicht gewundert, wieso nachts ihre Zimmertür bewacht wird und sie ständig unter Beobachtung steht?" Nick blieb der Mund offen stehen, als er das hörte. Louisa war gegen den Virus immun? Wieso hatte sie ihm das nicht verraten? Woher wusste der Colonel davon? Arbeitete Louisa etwa mit dem Colonel zusammen? Es war, als hätte jemand sein ganzes Puzzle wieder durcheinandergeworfen. "Wir sind doch nicht dämlich, Nick", fuhr William fort. "Hier haben die Wände Ohren. Deshalb würde ich euch raten, eure Fluchtpläne das nächste Mal nicht in der Bibliothek zu besprechen." Nick sah bedrückt zu Boden.
"Aber", setzte William an. "Es ist gar keine so doofe Idee, dass du sie uns bringst. Heute um Mitternacht beim Wachposten B9. Dann müssen wir sie nicht fesseln und entführen. Das hätte sicher zu viel Aufsehen erregt. Ich werde Travis informieren." Nick schloss seinen Mund wieder und nickte nur. "Außerdem", fügte William hinzu. "Der Colonel hat eine kleine Versicherung. Die Patrouille der letzten Mission hat deine Frau Isabelle und deinen Sohn in der Nähe von Thunder Bay ausfindig gemacht." Nick stockte der Atem. Als William außer Sichtweite war, sprang er auf und ging zügig an den Tischreihen vorbei auf Louisa zu.
"Louisa, ich muss mit dir sprechen."
Louisa machte ein besorgtes Gesicht. "Was ist denn los, Nick?"
"Unter vier Augen, bitte." Er warf einen kurzen Blick auf John, der etwas verwirrt zwischen ihnen hin und her schaute.
Louisa nickte und führte Nick aus der Halle in einen der Flure. Sie schaute sich um und wandte sich dann an Nick. "Was ist denn passiert?"
"Wieso sagst du mir nicht, dass du immun gegen den Virus bist?", platzte Nick heraus und sah sie vorwurfsvoll an. Louisa machte große Augen.
"Ich wusste es selber nicht. Der Colonel hat es mir vorgestern gesagt und bis jetzt habe ich dich nicht gesehen. Sonst hätte ich dir davon erzählt, wirklich." Nick glaubte ihr und beruhigte sich ein wenig. "Außerdem weiß ich doch garnicht, ob das stimmt", fügte sie hinzu.
"Wir treffen uns heute Nacht vor der Bibliothek, okay?" Er sah Louisa bittend an. "Hier kann ich dir das gerade nicht sagen." Er wollte weinen und toben. Adrenalin schoss ihm durch die Adern.
"Okay", meinte Louisa und zuckte mit den Schultern.
"Wir treffen uns um zehn", bestimmte Nick eindringlich. Er konnte sich gar nicht ausmalen, was mit Louisa geschehen würde, wenn man sie zurück nach St. Cloud schicken würde. Diesen Gedanken konnte er nicht ausstehen und Tränen schossen ihm in die Augen, doch er schluckte den Kloß in seinem Hals wieder runter.
"Ist alles in Ordnung?", fragte Louisa zögernd.
"Zehn Uhr. Und komm alleine."
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