«5» - Verlust
SASHA
"Leise", flüsterte er und schlich vor ihr durch das Unterholz. "Hier entlang."
Er war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Wolken hatten sich vor den Halbmond geschoben und kühler Wind wehte ihr durch die braunen, schulterlangen Haare. Sie folgte ihm, versuchte so leise wie möglich aufzutreten, doch ihr Herz setzte jedes Mal aus, wenn mit einem Knacken ein Ast unter ihrem Fuß zerbrach. Das Laub knisterte bei jedem Schritt, während ab und zu ein Vogel einen Warnruf aussandte oder ein Reh erschrocken den Kopf hob.
Irgendwann blieb er vor ihr stehen und Sasha rannte fast in ihn hinein. "Entschuldige." Ihr Herz pochte stark vor Aufregung, schien ihr aus der Brust springen zu wollen. Sie atmete tief ein und aus, um ihren Puls zu beruhigen.
Sie sollten hier nicht sein, das wussten sie. Ihr Anführer, Miles, hatte ihnen diesen Angriff strengstens verboten. Zu gefährlich, meinte er. Doch es wurden immer mehr Monster und sie kamen dem Lager zunehmend näher.
Kurz wünschte sie sich zurück auf die weiche Matratze neben ihre Freundin. Sie erinnerte sich nicht daran, jemals in einem Bett gelegen zu haben. Nachdem die großen Städte ihre Mauern errichtet hatten, lebten die Menschen draußen nur noch für sich selber. Vor etwa zehn Jahren hatte sich dann die Gruppe Riverside gebildet, der Sashas Vater beigetreten war. Sasha, damals erst fünf, hatte keine andere Wahl gehabt, als ihn zu begleiten. Sie kannte die alte Welt nur aus Erzählungen; dass man mit Flugzeugen um die Welt geflogen war, dass die Städte mit Menschen gefüllt waren und dass beinahe jeder Mensch mindestens ein Auto besaß und dennoch selten pünktlichen war. Sie konnte sich so viele Menschen auf einem Haufen gar nicht vorstellen. Ihr Vater hatte ihr von kleinen Geräten erzählt, über die man andere anrufen konnte. Sasha hatte ihm nicht geglaubt. Kurz darauf hatte er eines aus seiner Tasche gezogen, doch es funktionierte nicht mehr. Er hatte ihr auch vom Internet erzählt. Das Internet, hatte er gesagt, sei kurz nach dem Kollaps ebenfalls zusammengebrochen.
"Sasha, du gehst mit Ella links entlang. Chris und ich gehen rechts. Ihr habt den Plan noch im Kopf?", fragte Philipp und alle nickten. "Wartet auf das Zeichen der anderen."
Diesmal ging Sasha voraus, kämpfte sich durch das Gestrüpp vor bis zur Senke. Hinter einem dornigen Gebüsch blieb sie stehen und spähte den Abhang hinunter. "Wir hätten mehr Leute mitnehmen sollen", murmelte Ella und sah sie an. Ihre hellblauen Augen schimmerten im blassen Licht. Sie sah besorgt aus, fand Sasha, und dennoch war sie wunderschön.
"Wir schaffen das schon. Wenn etwas passiert, dann lauf und dreh dich nicht um", erklärte Sasha und sah ihre Freundin liebevoll an. Ella lächelte und band sich die blonden Haare zu einem Zopf. "Ich liebe dich", sagte sie. Sasha beugte sich zu ihr vor und gab ihr einen kurzen Kuss auf die warmen Lippen. "Ich dich auch. Wir schaffen das schon."
Sie starrten über die Senke hinweg auf die andere Seite. Langsam bezweifelte Sasha, dass sie in dieser Finsternis das Zeichen sehen würden. Gerade als sie daran dachte, blinkte das kleine Licht eines Feuerzeugs, gegenüber von ihnen, zwischen den dunklen Stämmen der Bäume auf. Und dann ein zweites, etwas weiter rechts.
Aber Sasha zögerte. War dieser Angriff eine schlechte Idee? Wie würde Miles reagieren, wenn er herausfand, dass sie das Nest doch angriffen? Was wenn sie alle sterben?
"Los", zischte Sasha und begann, so schnell und leise wie möglich den Hang hinunterzurutschen. Äste zerkratzten ihre Beine und sie stieß gegen Steine, die fest im Boden verankert waren. Es war stockfinster. Sie rutschte von Wurzel zu Wurzel, bis sie wieder auf ebenem Boden stand. Sie sprintete zu dem großen Höhleneingang, entzündete einen ihrer Pfeile an dem Feuerzeug, das Philipp ihr hinhielt und schoss in die tiefschwarze Öffnung hinein.
Der feurige Pfeil erleuchtete die Höhle und Sasha stockte der Atem, als sie die unzähligen riesigen Körper sah. Sie waren überall, hingen von der Decke und an den Wänden wie Fledermäuse. Die Skrim wandten ihreKöpfe und fauchten leise und bedrohlich. Sasha begann zu zittern.
"Das sind zu viele", keuchte Ella hinter ihr. "Wir sind nur zehn!"
"Eins, zwei, drei, vier...", begann Simon neben ihr zu zählen.
"Rückzug", befahl Philipp flüsternd, aber bestimmt. Jetzt würde er keine Widerrede dulden. Sofort liefen sie zum Hang zurück, doch Ella stolperte und fiel mit einem dumpfen Schlag und einem kurzen lauten Aufschrei auf den steinigen Boden. Die Gruppe erstarrte. Ihre Blicke wanderten fast gleichzeitig zu der gewaltigen Höhle. Die schaurigen Gestalten im Inneren klettern langsam heraus und starrten die Gruppe mit fahl leuchtenden Augen an.
"...zwölf, dreizehn...." Simon zählte weiter, stand einfach wie angewurzelt da und bewegte sich nicht.
"Simon!", rief ein anderer, als der erste Skrim sich auf den blonden jungen Mann stürzte und ihm den Kopf abriss. Bei dem lauten Knacken von Simons Genick kamen sie wieder zu sich und jeder Einzelne des Trupps lief schreiend in irgendeine Richtung, bloß weg von den Monstern.
Sasha stürzte vor und half Ella auf die Beine. Sie wimmerte und belastete ihren rechten Fuß nicht.
"Komm schon", flehte Sasha. Philipp kam ihr zur Hilfe und stützte Ella von der anderen Seite. Plötzlich waren hinter ihnen Schritte zu hören. Schwere Schritte, die über den Kies liefen.
Sasha riskierte einen kurzen Blick über die Schulter und bereute ihn sofort.
"Lauft! Na los!", rief Philipp, blieb jedoch an Ellas Seite und mühte sich Schritt für Schritt den Hang hinauf. Sasha drehte sich um und legte einen Pfeil nach dem anderen an, schoss und traf jedes Mal ihr Ziel. Dann schrie am gegenüberliegenden Hang jemand auf, als eine der Bestien den asiatischen jungen Mann packte, auf ihn einschlug und ihn den Hang hinunterschleuderte. Seine qualvollen Schreie hallten durch die Nacht, während ihm zwei weitere Monster den Bauch aufrissen und hungrig über ihn herfielen. Sein Schrei verebbte und endete in einem Gurgeln. Seine Augen wurden glasig, verdrehten sich und er blieb reglos liegen.
Plötzlich schrie Philipp hinter ihr auf und Sasha wirbelte herum. Eines der Monster baute sich vor ihm auf. Er hieb mit seiner Axt auf den Skrim ein, doch kam nicht dazu, seine Waffe zu ziehen, da er immer noch Ella stützte. Sasha legte erneut einen Pfeil an und schoss. Sie traf den Kopf des Skrim. Verärgert kreischte es auf, bevor seine Beine nachgaben und es den Hang hinunterstürzte. Es zappelte und gab widerwärtige Laute von sich, als es nochmals nach Ella und Philipp schlug. Er konnte dem Schlag ausweichen, während Ella von dem Monster mit in die Tiefe gerissen wurde.
"Nein!", Sasha wollte schreien, aber nur ein heiseres Krächzen drang aus ihrer Kehle. Sofort füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ihr wurde schwindelig. "Nein", wiederholte sie und machte sich daran, den Hang hinunterzurutschen und Ella zu retten, die unter dem schweren Körper des Skrim begraben lag. Doch zwei weitere Monster kamen auf den reglos am Boden liegenden Körper zu und machten sich über ihre Freundin her. Ihre hysterischen Schreie verklungen nach kurzer Zeit, die sich jedoch wie eine Ewigkeit anfühlte. Sashas Beine gaben nach, als sie hilflos und verzweifelt auf dem steilen Hang hockte und den verebbenden Schreien ihrer Geliebten horchte. Ihr war, als wäre sie von einer Nebelwolke umgeben. Ihr wurde schlecht und sie übergab sich.
Plötzlich hielt sie jemand fest und zog sie auf die Beine. "Sasha, komm schon. Wir müssen hier weg." Philipps Stimme drang zu ihr durch. "Ich weiß, es ist schwer. Aber ich lasse dich nicht auch noch hier." Philipp schüttelte sie und ihre Sinne kamen langsam wieder zu sich. "Hörst du mich? Sasha? Du musst dich jetzt konzentrieren! Okay?"
Sie blinzelte die Tränen aus den Augen und nickte benommen. Philipps warmer Blick gab ihr Kraft. "Komm jetzt", befahl er und Sasha folgte ihm, warf erneut einen Blick auf Ellas toten, zerfetzten Körper. Sie zitterte, wusste nicht, was sie denken sollte. Wie in Trance kletterte sie hinter Philipp den Rest des Abhangs hinauf, stieg auf ihr Pferd und sie ritten im schnellen Galopp davon.
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