«32» - Der Tunnel
Sascha
„Ich geh da nicht rein." Marlo klang absolut entschlossen. Sie würde keinen Fuß in diesen Tunnel setzen. „Wartet doch wenigstens bis Sonnenaufgang." Sie verschränkte die Arme und spannte die Schultern an.
„Auch tagsüber wird es hier drin nicht heller sein", erklang Nicks Stimme aus der Dunkelheit hinter Sasha. Er tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Steinboden.
„Nein, ich gehe da nicht rein."
Louisa seufzte hörbar genervt.
„Komm schon. Wir haben doch Taschenlampen." John wiederholte nun zum fünften Mal sein Argument. Sasha würde ungern jemanden aus der Gruppe zurücklassen, doch sie mussten weiter. Sie diskutierten nun schon den ganzen Abend. Dort wo der Mond war, war die Wolkendecke heller. Sie hatten sogar versucht durch den Sumpf zu gehen, doch alleine zehn Meter hatte sie fast eine Stunde gekostet. Es war einfach zu gefährlich.
„Wisst ihr was?" Marlo schwang sich ihren Rucksack auf den Rücken. „Geht ihr nur. Ich wünsche euch viel Erfolg."
„Du spinnst doch." Sasha verdrehte die Augen. „Komm schon. Wir passen aufeinander auf."
„Nein, im Ernst. Ich wollte sowieso nicht nach Portland. Ich werde nach Norden gehen." Mit diesen Worten wandte sich Marlo um und ging davon, ließ die Gruppe verwirrt zurück.
Louisa ergriff als erste das Wort: „Lasst uns gehen."
„Sie hat sich nicht mal verabschiedet." John klang niedergeschlagen. Sasha drehte sich zu ihm um und konnte in seinen Augen tiefe Trauer erkennen. Er mochte sie. Vielleicht auch etwas zu sehr.
„Ich wäre auch traurig, wenn ich mit ihr geschlafen hätte", kommentierte Nick. Sasha schüttelte den Kopf während Louisas Blick zu John flog.
„Was?" Ihre Stimme bebte.
„Können wir das bitte ein anderes Mal besprechen?" Sasha versuchte die Lage zu beruhigen, doch Louisa durchbohrte John mit ihrem dunklen Blick.
„Was meint er?"
„Ich...ähm..."
„Erzähl es ihr. War es gut?" Nick musste unbedingt weiter darauf rumhacken. Sasha wurde es unangenehm, da sie mit diesem ganzen Dreieck nichts zu tun hatte. Ihr wurde bewusst, dass sie diese Leute überhaupt nicht kannte. Sie waren erst seit einem Tag gemeinsam unterwegs. Die Luft knisterte vor Spannung und Sasha schaute zwischen John und Nick hin und her. Würden sie sich wieder angreifen? Diesmal würde sie nicht dazwischen gehen. Vermutlich würde sie einfach in den Tunnel rein gehen. Richtung Portland. Alleine.
Alleine. Ihre Gedanken flogen zu Philipp. Er lebte und sie hatte ihn zurückgelassen. Ob Philipp sie zurückgelassen hätte, wäre er an ihrer Position gewesen? Sie hatte keine Wahl gehabt. Oder doch? Sie wollten gemeinsam nach Portland reisen, doch jetzt hing Sasha mit einem Haufen Fremder fest, die sich alle paar Stunden stritten.
„Ach, das Spiel spielen wir jetzt. Alles klar." John baute sich vor Nick auf. „Dann offenbaren wir mal all unsere Geheimnisse."
„Jungs, hört auf." Louisas Stimme bebte noch stärker.
„Dann erzähl du ihr doch, dass du in sie verliebt bist, obwohl du nach deiner Frau und deinem Sohn suchst. Oder war es andersrum? Hast du für Lou deine Familie aufgegeben? Lässt du sie hängen, sobald du deine Familie findest?"
„Was?" Louisa schien immer verwirrter. „Warum hast du mir das nicht erzählt?" Sie wurde lauter.
„Jungs..." Sasha versuchte sich einzufunken, wurde jedoch ignoriert.
„Weil er gehofft hat, dass du dich in ihn verliebst, wenn du nichts von seiner Frau und seinem Sohn weißt. Hab ich Recht?" John drehte sich zu Louisa um. Ein zufriedenes Schmunzeln auf seinen Lippen.
„Louisa...es tut mir..." Nick schaute bedrückt zu Boden. „Können wir darüber..."
„Du kannst mich mal", knurrte Louisa so wütend, dass selbst Sasha zusammenzuckte. „Ihr könnt mich beide mal."
Schweigend stapften sie durch den Tunnel. Die Dunkelheit hatte sie schon vor Stunden verschluckt. Oder waren es doch nur Minuten?
Führte der Tunnel abwärts? Sasha hatte das Gefühl abwärts zu laufen. Vielleicht war der Boden mit der Zeit abgesunken. Nur keine Panik.
Die Luft war feucht und kalt. Offensichtlich, denn über ihnen hatte der Sumpf den Tunnel verschluckt.
Sasha hielt sich nah an Louisa, da sie selber keine Taschenlampe hatte. Nick und John gingen hinter ihnen und blieben alle auf Distanz. Sie schlängelten sich an den rostigen, verlassenen Autos vorbei.
„Du, Lou?" Sasha hielt ihre Stimme gedämpft, sodass nur Louisa sie hören konnte.
„Hm?"
„Bist du okay? Tut mir leid, was da vorhin passiert ist."
„Ja. Wir erleben alle mal so eine Scheiße."
Da hatte sie Recht. Sashas Gedanken flogen zu Ella, an die sie lange nicht mehr gedacht hatte.
„Lou? Kann ich dich etwas fragen?" Ein leichtes Zittern in ihrer Stimme konnte sie nicht unterdrücken. Es wurde noch kälter.
„Hm?"
„Woher kommst du? Wieso hat Balter es so auf dich abgesehen?"
Louisa wurde langsamer und sah Sasha einige Herzschläge an.
„Keine Ahnung." Sasha war von der Antwort enttäuscht. Nicht nur, weil es keine richtige Antwort war, sondern auch, weil Louisa log. Vielleicht würde sie es ihr erzählen. Irgendwann.
Weiterhin schwiegen sie sich an. Sasha hatte bereits jedes Zeitgefühl verloren, angefangen ihre Schritte zu zählen, sich bei 1800 verzählt und dann von vorne angefangen.
„Weißt du, was das Problem ist?." Louisa schien sich ein Lächeln aufzuzwingen. Ihr war die Stille vermutlich genauso unangenehm wie Sasha.
„Was denn?"
„Das Problem ist, dass uns die anderen Menschen immer noch gefährlicher sind als die Skrim."
„Oh Ja."
Plötzlich erstarrte Louisa.
„Was ist?" Sofort schlug Sashas Herz schneller. Sie horchte. Starrte in die Dunkelheit vor ihnen.
„Ich..." Louisa zögerte. „Dachte ich hätte etwas gehört. Oder gesehen. Ich bin mir nicht sicher." Sie leuchtete in den Tunnel, doch nichts regte sich. "Hab mich wohl geirrt."
Sie gingen weiter. Noch langsamer und noch vorsichtiger als zuvor. Sasha versuchte an etwas anderes zu denken, damit sie sich mit ihren Gedanken nicht verrückt machte. Die Augen weit aufgerissen starrte sie in den weiten Tunnel. Plötzlich flackerte Louisas Taschenlampe und ging aus. Louisa schlug einmal gegen die Lampe, sie flackerte und ging wieder aus.
„Scheiße verdammt. Das darf doch nicht wahr sein."
Sasha schwieg. Nick kam zu ihnen und John schloss auf. Ihr Hass schien für den Moment vergessen, denn hier unten regierte die Angst. Auch Nicks Taschenlampe flackerte, blieb jedoch an.
Sasha hatte das Gefühl ihr wurde schlecht vor Angst. Vermutlich würden sie hier unten sterben. Marlo hatte höchstwahrscheinlich die beste Entscheidung getroffen. Ob Portland das alles wert war? Ob in Portland überhaupt etwas war?
„Weiter." Das Flüstern kam von John. Sasha hatte das Gefühl, sie könnte sein Herz hören, wie es vor Angst zusammenkrampfte. Dann erlosch auch Nicks Taschenlampe.
„Nein....komm schon..." Nick schüttelte sie. Doch sie blieb aus.
„Wir haben zwei Möglichkeiten." John schien den kühlsten Kopf von ihnen allen zu bewahren. „Entweder wir gehen ganz langsam weiter, tasten uns voran. Oder wir rennen und hoffen..."
Er kam nicht dazu den Satz zu beenden, denn ein lautes Krachen vor ihnen unterbrach ihn. Dann ging auch Johns und damit ihre letzte Taschenlampe aus. Finsternis umgab sie.
Sasha sah sich mit aufgerissenen Augen um, konnte jedoch nichts sehen. Ihr Atem wurde flacher und schneller. Wie erstarrt blieb sie einfach stehen und bewegte sich nicht, hoffte, dass was auch immer hier war sie nicht sehen würde.
Eine kalte Hand griff nach ihr und beinahe hätte sie aufgeschrien, doch sie bemerkte schnell genug, dass es Louisa war. Auf der anderen Seite griff John nach ihr.
„Die können uns nicht sehen", hauchte Sasha so leise, dass sie es selbst kaum hörte. „Sie reagieren jetzt nur auf Geräusche." Ob die anderen sie gehört hatten? Sasha atmete so leise wie möglich und geriet bald in Luftnot.
Wieder krachte etwas, diesmal hinter ihnen.
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