#27 - Freiheit
LOUISA
Sie beobachtete die Büsche, an denen sie vorbei zogen. Über die karge Landschaft konnte sie bis zum Horizont schauen, sah jedoch nichts weiteres als Steppe, Büsche und Gras. Ab und zu stand eine alte Farm mitten im Nirgendwo.
Bei einer Bewegung sah Louisa genauer hin und entdeckte zwei Pferde, die frei über die Steppe galoppierten. Vielleicht hatte sie jemand frei gelassen oder ihr Besitzer war gestorben. Sie lehnte sich wieder zurück in den Sitz und seufzte.
Ihr Blick fiel in den Fußraum des Autos und wanderte über das Armaturenbrett zu Hugo. Er sah müde aus. Er war die ganze Nacht durchgefahren während Louisa geschlafen hatte. Sie wollte nicht schlafen, aber sie war hundemüde gewesen. Sie sah kurz auf Hugos Gürtel. Er trug dort ein Holster mit einer Pistole, daneben einen Dolch. Es prickelte ihr in den Fingern, nach einer der Waffen zu greifen, doch sie traute sich nicht.
Wieder sah sie aus dem Fenster und erkannte erneut eine Bewegung. Diesmal war es ein Motorradfahrer, der in einiger Entfernung parallel zu ihnen fuhr. Louisa sah aus dem anderen Fenster. Dort fuhr auch ein Motorradfahrer. Sie schienen sich an dem Auto zu orientieren, ihnen zu folgen.
Wieder warf sie einen Seitenblick auf Hugos Gürtel, versuchte herauszufinden, wie sie die Waffe aus dem Holster entfernen konnte und ging den Ablauf im Kopf noch einmal durch. Dann schlüpfte sie aus den Handschellen und griff nach der Waffe. Hugo war so überrumpelt, dass er überhaupt nicht reagierte. Louisa zerrte die Waffe aus dem Holster und richtete sie auf Hugo.
Sofort griff sie auch nach dem Dolch und warf ihn hinter sich aus dem Fenster.
"Du fährst mich nach Portland, sofort!" Louisas Hände zitterten vor Rage. Hugo sah nicht beeindruckt aus, ignorierte sie und fuhr einfach weiter. Ein amüsiertes Grinsen lag auf seinen Lippen.
"Wir fahren doch schon nach Westen", sagte er dann und warf Louisa einen kurzen Seitenblick zu. Sie überlegte kurz, was sie noch sagen konnte.
"Wer ist Balter? Warum bringst du mich zu ihm?" Louisa versuchte das nervöse Zittern in der Stimme zu unterdrücken.
"Balter wird gut auf dich aufpassen. Keine Sorge, er wird dich nicht verletzen. Er braucht dich."
Vermutlich noch jemand, der es auf die Antikörper in ihrem Blut abgesehen hatte oder sie an St Cloud verkaufen wollte, wie ein Bauer der sein Vieh verkaufte.
"Wir umfahren Balter und fahren sofort nach Portland", befahl Louisa und legte den Finger auf den Abzug.
"Du traust dich doch gar nicht."
Bei den Worten zog Louisa den Abzug und es klickte. Kein Schuss. Verwundert drückte Louisa erneut ab, bekam jedoch kurz darauf einen Schlag ins Gesicht. Hugo riss ihr die Waffe aus der Hand.
"Sag mal, für wie dumm hälst du mich eigentlich?", schrie er Louisa an, während sie sich die schmerzende Stelle am Kopf hielt. "Du hättest mich jetzt wirklich verdammt nochmal umgebracht! Du hast mich quasi gerade erschossen!" Wieder bekam sie einen Schlag gegen den Kopf, diesmal mit dem kalten Metall der Waffe. Ihr wurde schwarz vor Augen. Das Aufheulen eines Motorradmotors war das letzte, was sie hörte.
Sie schreckte auf und sah sich panisch um. Sie war nur einige Minuten weggetreten. Das Auto stand still. Sie versuchte die Tür zu öffnen, doch sie war abgeschlossen. Sie sah sich um. Das Auto stand auf einem riesigen geteerten Platz. Ihr Blick fiel auf die zahlreichen Flugzeuge. Sie entdeckte Hugo, der sich mit einem Mann unterhielt.
Plötzlich bemerkte sie den Schmerz an ihrem Kopf wieder. Sie tastete nach der pochenden Stelle. Warmes Blut klebte nun an ihren Fingern, welches sie an ihrer Hose abwischte. Louisa atmete einmal durch, beobachtete Hugo und den fremden Mann noch einige Sekunden lang.
Dann begann die gegen die Scheibe zu hämmern, so feste, dass sie drohte zu zerbrechen. Hugo und der Mann fuhren herum. Hugo spurtete zum Wagen, öffnete die Tür und trat zurück. Louisa stieg vorsichtig aus, sah sich um. Die Motorradfahrer, die sie verfolgte hatten, richteten nun ihre Waffen auf sie. Louisa schnaubte und verschränkte die Arme. Der Wind peitschte ihre Haare in ihr Gesicht. Sie musste ruhig bleiben, wenn sie keine Probleme wollte.
"Louisa Griffin." Der Fremde kam mit einem charmanten Lächeln auf sie zu. Er trug Lederstiefel und eine Jeans, erinnerte irgendwie an einen Cowboy. Das musste Balter sein. Der Name passte zu ihm. Er sah aus wie ein Arschloch. Ein hübsches Arschloch. Louisa zog eine Augenbraue hoch und musterte den Fremden. Er kam noch ein Stückchen näher und Louisa wich einige kleine Schritte zurück. "Ich habe überall nach dir suchen lassen."
Louisa hob das Kinn ein wenig. Sie wollte nicht zeigen, wie viel Angst sie hatte. Ihr Blick huschte wieder Richtung Horizont. Sie könnte versuchen wegzulaufen. Einfach zu rennen. Dort war kein Zaun, keine Mauer. Doch die Motorradfahrer wären definitiv schneller als sie. Sie musste vorsichtig sein.
"Wozu? Woher kennst du mich?" Louisa fiel auf, dass wenige Meter neben ihnen ein flacher See begann. Interessant. "Wer bist du?"
Der Mann lachte wieder, fuchtelte dann mit der Hand. Sofort stiegen drei Motorradfahrer ab und packten Hugo.
"Was soll das?" Hugo wehrte sich. "Balter! So war das nicht abgemacht!" Die Motorradfahrer führten Hugo in Richtung des Gebäudes. Der Rest der Motorradfahrer fuhren davon und ließen Louisa und Balter alleine. Sie sah Hugo hinterher bis dieser im Gebäude verschwand.
"Siehst du das?" Der Fremde deutete in die Ferne. Louisa sah dort am Horizont die Bäume und Berge, jedoch nichts Besonderes. "Das nennt man Freiheit. Jeder Mensch ist freiwillig hier. Jeder kann kommen und gehen wann er will."
Louisa verengte die Augen. Sie glaubte ihm nicht. So wie seine Leute Hugo vorhin abgeführt hatten, glaubte sie ihm nicht.
"Wer bist du?", fragte sie erneut.
"Ich bin Balter." Er zupfte kurz an seiner Lederjacke.
"Balter wer?"
"Einfach nur Balter." Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Jackentasche, nahm sich eine heraus und zündete sie an. Dann hielt er Louisa die Schachtel hin. Sie schüttelte den Kopf und trat wieder einige Schritte zurück. Wenn jetzt nicht das Wasser die Fläche hinter ihr bedecken würde, würde sie jetzt weglaufen können. Nach Balter war jeder freiwillig hier. Sie könnte einfach immer weiter laufen, wie an ihrem ersten Tag hinter der Mauer. Doch sie traute Balter nicht. Er war hinterhältig und gerissen, das spürte sie. Würde sie nun weglaufen, würde sie innerhalb der nächsten Sekunden einen Schuss in den Rücken bekommen. Oder noch schlimmer; einen Betäubungspfeil und sich innerhalb der nächsten Stunden auf einer Liege in St Cloud wiederfinden.
"Balter bedeutet der Tanzende." Louisa warf ihm einen irritierten Blick zu. "Meine Leute haben mir irgendwann mal diesen Namen gegeben, weil ich das Leben für sie nicht zu einem Kampf, sondern einem fröhlichen Tanz mache."
"Schön." Desinteressierter hätte Louisa dieses Wort nicht aussprechen können. Balter zog an seiner Zigarette. "Hör zu. Ich werde dich nicht verletzen. Ich werde dich auch nicht zurück nach St Cloud schicken."
"Was willst du dann von mir?" Louisa wurde ungeduldig. Wenn Balter weder ihr Blut noch eine Gegenleistung von ihr wollte, dann sollte er sie einfach in Ruhe lassen. Sie suchte immer noch ihre Freunde und wollte am liebsten dieses Jahr noch in Portland ankommen. Balter sah sie kurz amüsiert an, dann zog er erneut an seiner Zigarette.
"Ich würde gerne mit dir zusammenarbeiten." Er machte eine Pause. Louisa schwieg. "Ich verspreche dir Schutz, ein Dach über dem Kopf und Essen. Dafür möchte ich herausfinden, was dich immun macht und wie du die Skrim kontrollieren kannst." Louisa sah ihn ungläubig an. Er wollte nur herausfinden, was Louisa immun machte? Balter hatte wohl vergessen hinzuzufügen, dass er sich selber und all seine Leute ebenfalls immun machen will und Louisa das Blut abpumpen wird. Aber sonst hörte sich das doch nach einem fairen Deal an. Sie musste sich zusammenreißen, nicht laut loszulachen.
"Für wie dämlich hältst du mich?" Louisa verschränkte die Arme. "Ich bin doch nicht so bescheuert und lasse hier mit mir Experimente machen. Was nützt es dir zu wissen, was mich immun macht? Vielleicht bin ich auch gar nicht immun. Ich weiß es nicht. Und die Skrim kontrollieren kann ich auch nicht. Wenn ich Teil irgendwelcher wissenschaftlicher Arbeiten sein will, brauche ich nur an St Clouds Toren zu klopfen."
"Interessiert es dich denn nicht? Wenn wir wüssten, welche Antikörper dich immun machen, könnten wir ein Gegenmittel herstellen. Ich bin nicht wie deine Mutter, Louisa. Ich werde dich nicht an eine Liege schnallen, dir das Blut abpumpen, irgendetwas injizieren und zusehen, wie du stirbst." Balters Stimme war eindringlich. Louisa würde ihm gerne glauben. Doch in letzter Zeit war einfach zu viel passiert. Da waren zu viele Menschen, die versuchten sie zu verletzen oder sie umzubringen. Sie wünschte Nick wäre hier, er wüsste jetzt bestimmt weiter. Oder John, der sie in jeder Situation beruhigen konnte. Aber sie war gerade auf sich alleine gestellt.
"Woher weißt du, was in St Cloud vor sich geht?" Louisa verengte die Augen und sah Balter misstrauisch an.
"Du erinnerst dich wirklich nicht an mich", murmelte er. "Interessant."
"Was?"
"Ich habe auch in St Cloud gelebt. Dort gearbeitet. Doch ich sträubte mich. Ich konnte den ganzen unschuldigen Menschen nichts antun. Ich wusste, dass ich sie umbringen würde." Balter machte eine Pause. "Dann schickte man mich ins Exil."
Er log. Seitdem die Mauer um St Cloud herum existierte, hielt die Regierung im Innenraum der Mauer Skrim gefangen. Sie waren ein Schutz vor der Außenwelt. Aber auch dazu vorgesehen, dass niemand aus der Stadt herauskommt. Jeder, der ins Exil geschickt wurde, wurde den Skrim zum Fraß vorgeworfen. So gerieten keine Geheimnisse nach draußen.
Doch als Louisa verbannt wurde, rührten die Skrim sie nicht an. Wäre Balter je aus St Cloud verstoßen worden, hätte er es nicht aus den Mauern der Stadt heraus geschafft.
"Also?" Balter fing wieder ihren Blick ein und sah sie eindringlich an. Er hatte dunkelbraune Augen, die jemanden genauso durchdringlich anschauen konnten, wie Louisas selber.
"Jeder ist freiwillig hier?"
"Ja."
"Dann gehe ich jetzt." Louisa machte sich einen Zopf. "War schön mit dir gequatscht zu haben, aber ich habe wichtigeres zu tun. Man sieht sich." Dann begann sie am Wasser entlang in irgendeine Richtung zu stapfen, der untergehenden Sonne entgegen.
"Louisa!" Sie blieb stehen um sich anzuhören, was Balter nun wollte. "Bleib wenigstens für eine Nacht. Nachts ist es hier gefährlich. Du verläufst dich. Hier gibt es Bären und Pumas. Morgen früh darfst du weiterreisen. Ich gebe dir Proviant und ein Fahrzeug mit."
Sie zögerte. Balter hatte natürlich recht; Nachts war es gefährlich, alleine durch einen alten Nationalpark zu streifen. Im Dunkeln würde sie sich verlaufen. Es gab Bären und Pumas. Vielleicht sogar Skrim. Louisa war unbewaffnet und hatte nicht mal eine Taschenlampe bei sich. Sie seufzte.
"Gut." Sie drehte sich um.
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