#23 - Hugo Elijah Drew Wilder

LOUISA

Lautes Rauschen drang zu ihr durch. Ihr war inzwischen so kalt, dass sie ihre Beine nicht mehr spürte. Sie hustete, würgte und spuckte Flusswasser aus, bevor sie sich wieder auf den Rücken fallen ließ. Sie konnte spüren wie die Kraft ihren Körper verließ und die Kälte sie immer weiter ausfüllte. Sie merkte, wie der Fluss, der an ihren Beinen zerrte, das Leben aus ihr raussaugte. Es war laut hier. Das laute Rauschen klang irgendwann so monoton, dass Louisa jedes Zeitgefühl verlor. Ihr war egal wo sie war. Aber sie lag schon lange hier. Irgendwann mitten in der Nacht hatte sich der Sturm verzogen.

Erst hatte sie die Sterne angestarrt, hatte sich an dem Funkeln erfreut. Vielleicht ist das das letzte was ich sehe, dachte sie bei sich und schloss langsam die Augen. Sie würde jetzt sterben, da war sie sich sicher. Das Rauschen verklang langsam und irgendwann war ihr nicht mehr kalt. Sie spürte nichts mehr. Und bald dachte sie auch an nichts mehr. Es gab nur noch diese Leere. Diese unglaubliche Ruhe und Leere. Es war so friedlich, dass sie nicht mehr daraus aufwachen wollte.

Irgendwann zuckte sie zusammen.

Atmete. Zitterte. Hustete. Atmete.

Sie öffnete die Augen und starrte in den hellblauen, klaren Himmel. Die Sonne blendete, also schloss sie die Augen wieder. Der Fluss an ihren Beinen war immer noch kalt, doch ihr Gesicht, ihre Brust und der Bauch wurde von der Sonne gewärmt, waren sogar beinahe trocken. Sie schaffte es ihre Hände zu bewegen, dann die Arme. Ihre Gelenke schmerzten. Also blieb sie liegen.

Plötzlich schreckte sie auf. Hatte sie gerade eine Stimme gehört? Sie hob den Kopf.

"Du lebst ja doch noch", rief dann jemand und übertönte gerade so das laute Rauschen. "Hör zu; du musst sofort runter von dem Flügel! Das Flugzeug fällt gleich den Wasserfall runter!"

"Flugzeug? Wasserfall?", murmelte Louisa mit heiserer Stimme und legte den Kopf in den Nacken. Dort am anderen Ufer stand ein Mann und sah besorgt zu ihr herüber. Auf einmal krachte und knarzte es. Es war das laute Geräusch von Metall, das über Gestein gerieben wurde. Die Plattform auf der Louisa lag wackelte. Dann stand sie wieder still.
Erschrocken setzt sich Louisa auf und schaute sich um. Sie saß auf dem Flügel eines großen Flugzeugs, welches in der Mitte des breiten Flusses lag und bereits halb über den Wasserfall hinaus ragte. Sie kannte Flugzeuge, hatte zwar noch nie eines gesehen, wusste jedoch aus der Schule was sie waren. Auf Louisas Linken sprudelte das kalte Flusswasser gegen den Flugzeugflügel, während auf ihrer Rechten das Wasser in die Tiefe fiel. 

"Bist du verletzt?", rief der Mann. Louisa erhob sich langsam und schwankend auf die Beine und schüttelte den Kopf. "Du musst...", er wurde wieder von lautem Quietschen und Knarzen unterbrochen. Louisa wankte und konnte ihr Gleichgewicht gerade noch halten, um nicht den Wasserfall hinunter zu stürzen. "Du musst nach hier, zum Flügelende kommen und dann zum Ufer springen. Ich fange dich auf. Du musst mir vertrauen!"

Es war eine große Lücke zwischen Flügelspitze und Ufer. Louisa würde den Sprung mit ihren kalten schwachen Beinen nicht schaffen, das wusste sie. Eine andere Wahl als dem Fremden zu vertrauen hatte sie also nicht. Sie bewegte sich einen Schritt und wieder wankte das Flugzeug und neigte sich ein Stück weiter den Wasserfall hinab. Der Fluss rauschte aggressiv weiter und drückte mit voller Kraft gegen das Flugzeugwrack. Die Rothaarige machte einen weiteren Schritt, langsam und vorsichtig. Sie warf dem fremden Mann am Ufer einen unsicheren Blick zu, dieser stand dort, die Arme ausgebreitet um sie jeden Moment zu fangen. Plötzlich stolperte Louisa und fiel mit einem lautem Aufprall auf den Flügel. Das Flugzeug bewegte sich weiter und blieb nochmal stehen.

Louisa zitterte und ihr Atem ging flach und stoßartig. Jede falsche, plötzliche Bewegung könnte sie in den Tod befördern. "Komm schon", bestärkte sie der Fremde. Langsam stand sie wieder auf.

Mit einem Ächzen gab das Flugzeugwrack dem Fluss nach und kippte. Gleichzeitig sprintete Louisa los. Ihr Herz pumpte das Adrenalin durch ihre Adern und sie sammelte die letzte Kraft, die ihre kalten, müden Muskeln hergaben. Im letzten Moment sprang Louisa ohne nachzudenken von dem Flugzeugflügel ab, landete am Ufer, stolperte und stürzte auf den Mann zu. "Ich hab dich", rief er und fiel mit Louisa zu Boden.

Es dauerte einige Herzschläge bis sie sich orientiert hatte und sich sicher war, dass der Fluss sie nicht doch noch die Klippe hinunter gespült hat. Dann öffnete sie die Augen und schaute den Fremden einige Momente lang an, bevor sie sich von Boden abdrückte und neben ihm liegen blieb.

"Danke", hauchte Louisa und versuchte ihr immer noch stark pochendes Herz zu beruhigen.

"Keine Ursache", meinte der Fremde und stand auf. Auch Louisa kam langsam wieder auf die Beine und der Mann hielt ihr seine Hand hin.

"Hugo Elijah Drew Wilder", sagte der Mann und lächelte. Louisa musste auch lächeln und schüttelte seine Hand. 

"Ich bin Lou...", sie brach ab. Sie kannte den Mann nicht und wusste nicht zu welcher Fraktion er gehörte. War er vom Militär? Oder von Riverside? Nick hatte ihr von Riverside erzählt. Ihr schauderte es bei dem Gedanken.
Louisa wurde inzwischen vom Militär und bestimmt auch von St Cloud gesucht, da konnte sie es sich nicht erlauben ihren Namen preis zugeben. "Nur Lou, Einfach nur Lou." Wenn das stimmte, was der Colonel ihr erzählt hatte, musste sie ihre Identität geheim halten, denn Gerüchte verbreiten sich schnell unter den Überlebenden.

"Hast du zufälligerweise meinen Freund hier in der Nähe gesehen? Dunkle Haare, blaue Augen, etwa Mitte 30", beschrieb Louisa Nick und hoffte, dass Hugo nicken würde. Doch er schüttelte den Kopf: "Ich habe seit Ewigkeiten niemanden mehr gesehen."

Louisa war die Enttäuschung anzusehen, doch sie wusste; würde sie hier am Fluss bleiben und nach Nick suchen, würde sie dem Militär direkt in die Arme laufen.

"Ein glücklicher Zufall, dass du gerade in der Nähe warst", meinte Louisa und begann zu zittern. Ihr war immer noch unglaublich kalt und ihre Klamotten waren komplett nass. Der Mann strich sich durch die graubraunen Haare und zögerte.

"Eher Glück im Unglück", meinte er und warf einen kurzen Blick auf den reißenden Fluss. "In dem Flugzeug habe ich zwei Jahre lang gelebt. Das ist wohl ganz schön den Bach runter gelaufen, wortwörtlich." Er schmunzelte, doch Louisa sah den Schmerz in den braunen Augen. Irgendwie kamen ihr die Augen bekannt vor, doch sie wusste nicht genau an wen sie sie erinnerten. Hugo warf ihr seine schwere braune Lederjacke um und Louisa sah ihn dankbar an.

Sie hatte Mitleid mit dem Fremden, denn sie wusste wie es war auf einen Schlag alles zu verlieren. Aber sie wusste auch, wie gut ein Neuanfang tat. "Und wohin gehst du jetzt?", fragte Louisa mitfühlend. Hugo sah sie wieder an und zuckte mit den Schultern. 

"Keine Ahnung," sagte er. "Wahrscheinlich fahre ich Richtung Westen. Hier laufen mehr Soldaten herum als es Fische in diesem Fluss gibt. Vielleicht ist es im Westen besser." Louisas Miene hellte sich auf, doch dann erinnerte sie sich an Nick. Sollte sie nicht am Fluss nach ihm suchen? Suchte er eventuell nach ihr? Kurz kam ihr der Gedanke, dass Nick vielleicht schon nach Portland aufgebrochen sein könnte, doch sie hatten sich versprochen zusammen zu reisen. Nick hätte das Militär nicht ohne Louisa verlassen. Und doch wäre es klüger, wenn sie erstmal so weit weg von Minneapolis wie möglich gingen. Sie hatten die schnellste Route nach Portland besprochen, also sollten sie sich später bestimmt treffen.

"Du fährst Richtung Westen?", hakte sie nach.

"Wahrscheinlich, ja. Mein Truck steht oben auf dem Waldparkplatz", Hugo deutete in den Wald hinein.

"Darf ich mitkommen?", fragte Louisa hoffnungsvoll, denn das Militär suchte nach ihr und mit einem Auto würde sie so schnell wie möglich außer Reichweite fahren können. Hugo schien sie nicht zu erkennen, weshalb Louisa vermutete, dass er nicht zum Militär gehörte.

Er musterte sie einige Momente lang und fuhr sich durch den Bart: "Ja, wieso nicht."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top